Atomkraftwerke - Unsicher und grundrechtswidrig
Ein Bericht über Kernschmelzgefahr und
Grundrechtsbeeinträchtigungen
Atomkraftwerke - sicher und verantwortbar?
Atompolitik zu Anfang der siebziger Jahre
Erste Anfänge der Opposition gegen die Atomenergienutzung: Würgassen
Das BASF-Projekt in Mannheim und das RWE-Projekt Biblis
Die Verhinderung des AKW Wyhl am Kaiserstuhl
Der Gerichtsstreit um das Atomkraftwerk Wyhl
Zum richtigen Verständnis der Kernindustrie: 66 Erwiderungen
Der "Bürgerdialog Kernenergie" - Versuch der Überredung
Die Durchsetzung der Deutschen Risikostudie Kernkraftwerke
Das Anwachsen der Anti-AKW- Bürgerinitiativbewegung
Brokdorf: "Es wird kein zweites Wyhl geben"
Gorleben: Das Thema Nukleares Entsorgungszentrum NEZ
Gerichtliche Meinungsverschiedenheiten: Berstschutz ja oder nein?
Kalkar: Durchsetzung der Atompolitik mit Polizeigewalt
Was die Bundesregierung unter "offenem Diskussionsprozeß" verstehen wollte
Die Kalkar-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 1978: Was muß die Bevölkerung hinnehmen?
Ein folgenschweres Mißverständnis
Der Unfall im Atomkraftwerk Three Mile Island II
Schwere Reaktorunfälle? Ins "Restrisiko" verdrängen!
Die Katastrophe von Tschernobyl
Ein großer Erfolg der Bevölkerung: Die Wiederaufarbeitungsanlage Wackersdorf wird nicht gebaut
In Anzeigen des Informationskreis Kernenergie, die im Lauf des Jahres 1996 in der Frankfurter Rundschau veröffentlicht wurden, äußerten sich führende Industrielle der großen Stromversorgungsunternehmen zur Sicherheit der Atomkraftwerke in der Bundesrepublik:
Der Vorstandsvorsitzende der Energie-Versorgung Schwaben AG (EVS) Wilfried Steuer ließ sich vernehmen:
"Siebzig Prozent der Deutschen sind für den Weiterbetrieb unserer Kernkraftwerke. Sie haben gewiß gute Gründe: Kernkraft ist sicher und preiswert - eine verläßliche Stütze für Wohlstand und Beschäftigung."
Sein Kollege Roland Farnung von der RWE Energie AG beteuerte:
"Seit vielen Jahren trage ich in der Elektrizitätswirtschaft unternehmerische Verantwortung. In dieser Zeit konnte ich mich überzeugen vom hohen, weltweit vorbildlichen Sicherheitsstandard unserer Kernkraftwerke. Das große technische Know-how sowie das starke Engagement aller in der Kerntechnik Beschäftigten sind eine verläßliche Basis dafür, daß Kernkraftwerke in Deutschland sicher und verantwortbar betrieben werden können."
Trotz dieser Beteuerungen sind in der Bevölkerung der Bundesrepublik Befürchtungen wegen der Gefährlichkeit der Atomkraftwerke über viele Jahre weit verbreitet geblieben. Selbst unter den Menschen, die sich in Umfragen nicht gegen den Weiterbetrieb der Atomkraftwerke aussprechen mögen, sind sehr viele, denen es nicht genügt, nur ein ungutes Gefühl von Gefährdung zu haben, eine Angst vor dem, was man nicht weiß und kennt.
Diesem Fehlen von Kenntnissen wollen wir mit dieser Arbeit abhelfen.
Seit den ersten öffentlichen Auseinandersetzungen um Atomkraftwerke hatte die Diskussion der Gefährdungen durch Radioaktivität politische Bedeutung. Wir wollen die Entwicklung dieser Argumentation an charakteristischen Punkten aufzeigen. Wir konzentrieren uns dabei auf die Gefahren aus der Atomtechnik, bei denen es durch Zerstörung eines Atomkraftwerks zu schwerwiegenden Folgen für die Menschen und die Umwelt kommen kann, und auf die frühzeitige Verknüpfung mit der Diskussion um die Schutzrechte aus der Verfassung gegen die Gefährdung von Leben und körperlicher Unversehrtheit und gegen Übergriffe staatlicher Institutionen.
Im Jahr 1973 waren in der Bundesrepublik Deutschland 5 Atomkraftwerke zur Stromproduktion im Betrieb. Sie hatten noch eher geringe Leistungsfähigkeit zwischen 250 und 670 MW, zusammen knapp 2 200 MW. Bis zum Anfang des gleichen Jahres waren weitere 11 Bauanträge gestellt, darunter die für die ersten AKWs mit einer Leistung von ca. 1300 MW: Biblis A und B, Unterweser/Esens-hamm, Krümmel und Mülheim-Kärlich.
Im Januar 1967 hatte der Bundestag die Bundesregierung aufgefordert, sich für einen steigenden Anteil der Kernenergie an der Deckung des Energiebedarfs einzusetzen. Auch die neue Bundesregierung, die nach der Wahl von 1969 als Koalition von SPD und FDP gebildet wurde, war überzeugt davon, daß diese Technik besonders gefördert werden müsse.
Seit 1972 wurde im Auftrag der Bundesregierung ein weiteres Programm zur Förderung der Atomtechik ausgeabeitet, das 4. Atomprogramm. Es wurde im Dezember 1973 verabschiedet. Parallel dazu stellte die Bundesregierung im September 1973 mit einem Energieprogramm ein energiepolitisches Gesamtkonzept vor, in dem Ziele für den Gesamtenergieverbrauch und der geplante Anteil der einzelnen Energiearten bestimmt wurden.
Die Bundesregierung ging davon aus, der Strombedarf werde in nächster Zukunft stark ansteigen. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie sich erstmals darauf festgelegt, es sei erforderlich, die Strombereitstellung durch Atomenergie rasch weiter auszubauen. Sie erwartete, daß schon im Jahr 1985 Atomkraftwerke mit einer Gesamtkapazität von 45.000 bis 50.000 MW errichtet sein würden. Mit der Begründung, die in der Natur vorhandenen Uranvorräte würden nur für einen beschränkten Zeitraum zum Betrieb von Leichtwasserreaktoren der üblich gewordenen Bauart ausreichen, erwartete sie auch den Bau mehrerer großer Schneller Brüter. In ihnen könne Plutonium als Brennstoff eingesetzt und neu erbrütet werden. Dadurch könne der hohe in Zukunft zu erwartende Strombedarf langfristig gesichert werden. Notwendig wären dazu auch mehrere Anlagen zur Wiederaufarbeitung von Leichtwasserreaktor-Brennelementen zur Gewinnung des anfangs benötigten Plutoniums. Auch die Technik der Hochtemperaturreaktoren müsse eingesetzt werden, weil mit ihr direkt Heißdampf für industrielle Zwecke produziert werden könne. Andere Energiequellen als technische Alternative zur Nutzung der Atomenergie gebe es nicht.
Eine enge Zusammenarbeit der Regierung mit der Wirtschaft sei notwendig, weil die Zeiträume für Forschung, Entwicklung und Markteinführung neuer Energietechnologien nach Jahrzehnten zu bemessen seien, die besonders bei so sehr risikoreichen Neuentwicklungen jenseits von betriebswirtschaftlich überschaubaren Zeiträumen liegen. Das sei ein Risiko, das zusammen mit den ungewöhnlich hohen benötigten Investitionen oft selbst große Industrieunternehmen überfordere. Nur mit staatlicher Unterstützung könne die Industrie sich darauf einlassen.
Die Bundesregierungen hatten schon lange die technische und wirtschaftliche Entwicklung forciert. Nun waren die Bedingungen für die großen Stromproduktionsunternehmen so gut abgesichert, daß auch sie sich endgültig auf diese Politik einließen.
Auch Siemens, als einziges Unternehmen, das noch als Hersteller für Leichtwasserreaktoren infrage kam, sah beträchtlichen Geschäften entgegen.
Als im Oktober 1973 aus politischen Gründen die Preise für Erdöl stark anstiegen, wurden zum ersten Mal weite Kreise der Bevölkerung hellhörig für die Probleme der Energieversorgung. In der Öffentlichkeit konnte diese Energiekrise mit der Begrenztheit und dem Schwinden der Erdölvorkommen erklärt werden. Dies konnte als Argument herhalten, um die Notwendigkeit des Ausbaus der Atomenergienutzung zu betonen.
Es war zwar bekannt, daß die große Menge Radioaktivität, die in einem Atomreaktor entsteht, zu einer ungewöhnlich großen Gefahr für die Bevölkerung werden kann. Man suchte aber die Öffentlichkeit zu beruhigen mit der Vorstellung, mit Hilfe von technischen Einrichtungen sei die Sicherheit der Reaktoren in besonderem Maße gewährleistet. Das Eintreten eines großen Risikos sei so selten zu erwarten, daß man der Bevölkerung zumuten könne, es hinzunehmen.
Im engeren Kreis der Wissenschaftler, die sich mit der Atomenergie befaßten, hatte es immer wieder einzelne Warner und Kritiker gegeben. Ihre Äußerungen drangen aber in der Regel nicht an die Öffentlichkeit.
Begeisterung für die "friedliche Nutzung der Kernenergie" fand sich vor allem in gebildeten Kreisen. Sie war auch in den oppositionellen intellektuellen Kreisen und der damaligen Studentenbewegung vorherrschend. In der Bevölkerung erinnerte man sich aber noch immer an die entsetzlichen Folgen der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki im August 1945. Wegen des weltweit meßbaren Anstiegs der Radioaktivität nach den oberirdischen Atomwaffenversuchen, die bis zum Jahre 1962 stattgefunden haben, hatten die Befürchtungen neue Nahrung bekommen.
Noch bis zum Beginn der Siebziger Jahre sah niemand voraus, daß sich in nur wenigen Jahren aus der Bevölkerung heraus eine breite und wirkungsvolle Opposition entwickeln würde, die die Anwendung der Atomtechnik scharf ablehnt.
Widerstand aus der Bevölkerung gegen den Bau von Atomkraftwerken hatte es bereits an verschiedenen Orten gegeben. Er wurde zum erstenmal öffentlich breiter bekannt mit dem langen, zähen juristischen Vorgehen gegen den Bau des Atomkraftwerks Würgassen an der Mittelweser, für das 1967 der Bauantrag gestellt worden war. Gegen das AKW Würgassen war vornehmlich vorgebracht worden, daß die Erwärmung des Flußwassers, die durch die Kraftwerkskühlung verursacht wird, den ökologischen Haushalt der Weser erheblich stören werde und daß die im Normalbetrieb von der Anlage abgegeben radioaktiven Stoffe zu Krebserkrankungen und Genveränderungen führen werden.
Zwar konnte die Errichtung des Kraftwerks schließlich nicht verhindert werden. Aber im Lauf dieses Rechtsstreits wurden wichtige Rechtspositionen als Errungenschaften zugunsten der Atomkraftwerksgegner erstritten.
Dem verbreiteten Vorurteil, daß hier nur Sektierer und Naturgläubige gegen den Fortschritt sich richtende Maschinenstürmer am Werk seien, entsprach anfangs auch das Verhalten von Gerichten.
Das Verwaltungsgericht Minden war am 1. Juli 1969 mit seinem Urteil dem Vortrag des Klägers zur Gefährlichkeit des Atomkraftwerks Würgassen auf scheinbar sehr "elegante" Weise entgegengetreten: Die Klage sei unbegründet, denn bei den angefochtenen Genehmigungsteilen handele es sich nur um die Errichtung des Atomkraftwerks. Erst wenn es um den Betrieb des Atomkraftwerks ginge, könne der Kläger seine Einwände vortragen und über eine etwaige Verletzung seiner Rechte entschieden werden.
Das Oberverwaltungsgericht (OVG) Münster war in seinem Urteil vom 17. Februar 1970 diese "Errichtungstheorie" des Verwaltungsgerichts Minden nicht gefolgt. Gleichwohl hat es den Kläger auf eine Art abgewiesen, die sich von der zweifelhaften Rechtsfindung des Mindener Gerichts nur unwesentlich unterschied. Dem Hinweis auf die durch das Atomkraftwerk Würgassen zu erwartenden Strahlengefahren während des normalen Betriebs hielt das OVG Münster entgegen, dieser Einwand liege jenseits der Prüfungsgrenzen des Atomgesetzes, denn er wende sich grundsätzlich gegen die Möglichkeit von Atomkraftwerken. Das Atomgesetz setze aber die Zulässigkeit der friedlichen Nutzung der Atomenergie voraus, diesem Einwand des Klägers sei deshalb keine Bedeutung zuzumessen. Die Einwände des Klägers zur Sicherheitstechnik wehrte es ab mit der Begründung, sie seien bereits widerlegt durch die Begutachtung des Vorhabens. Da der TÜV Hannover-Rheinland die in Nordrhein-Westfalen üblichen Gutachten erstellt habe, gebe es keine Veranlassung, zum Vorbringen des Klägers Beweis zu erheben.
Der Kläger ließ sich auch dadurch nicht abschrecken, sondern ging vor das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) in Berlin.
Das Würgassen-Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 16. März 1972 ist zu einem Markstein der Umwelt-Rechtsprechung geworden. In ihm wurden einige wichtige Akzente gesetzt.
Das BVerwG übte in lapidarer Weise Kritik an der Prozeßführung des OVG Münster. Es stellte fest, daß das OVG den vom Kläger erhobenen Bedenken gegen Würgassen nicht gerecht geworden sei. Damit hat es damals den Versuch des OVG Münster abgewehrt, die Gutachtenpraxis vor juristischen Angriffen von Klägern zu schützen. Darüber hinaus sprach es in der Form eines prozessualen Leitgedankens aus, daß der Schutzgedanke des Atomgesetzes, der in § 1 Nr. 2 AtG seinen Niederschlag gefunden hat, den Vorrang vor dem Förderungsgedanken laut § 1 Nr. 1 AtG zu beanspruchen hat. § 1 Absatz 2 des Atomgesetzes bestimmt als Zweck des Gesetzes, Leben, Gesundheit und Sachgüter vor den Gefahren der Kernenergie zu schützen. Dieser Schutzzweck hat unbedingten Vorrang vor der sogenannten "Nutzung der Kernenergie zu friedlichen Zwecken", nämlich der Stromproduktion durch Atomkraftwerke. Das BVerwG verlangte, daß das gesamte atomrechtliche Verfahren bis hin zur Beweiswürdigung unter diesem im Prozeß zu konkretisierenden Leitgedanken stehen muß.
Dies blieb eine wichtige Errungenschaft der Einwender und Kläger in atomrechtlichen und umweltrechtlichen Genehmigungs- und Gerichtsverfahren.
Seit dem Würgassen-Urteil des BVerwG vom März 1972 haben Kläger gegen Atomanlagen sich verstärkt bemüht, nicht nur mit den Gefährdungen durch den Normalbetrieb von Atomanlagen zu argumentieren, sondern sich mit der vom Betreiber vorgelegten Konzeption zur Sicherheit der jeweiligen Anlage gegen das katastrophale Gefährdungspotential auseinanderzusetzen. Mehr und mehr nahmen sie bei der Prozeßführung naturwissenschaftlichen Sachverstand in Anspruch.
Das Chemie-Unternehmen BASF stellte 1969 einen Antrag zum Bau von zwei Atomkraftwerken mitten im dicht besiedelten Ballungsgebiet Mannheim-Ludwigshafen. Das war die erste ernsthafte Probe für die Glaubwürdigkeit der Beteuerungen, Atomkraftwerke seien absolut sicher.
Sofort bildete sich eine Bürgerinitiative gegen dieses Projekt.
In Expertenkreisen fand man die BASF-Pläne wegen der dichten Besiedlung der Umgebung ausgesprochen riskant. Nach den Erfahrungen mit konventionellen Dampfkesseln war das Bersten des Reaktordruckgefäßes bei einem Störfall nicht mit absoluter Sicherheit auszuschließen. Der Reaktorsicherheitsexperte Lindackers, Direktor des TÜV Rheinland, warnte, daß bei einer Reaktorkatastrophe im Ballungsraum Mannheim-Ludwigshafen bis zu Hunderttausend Tote zu befürchten seien und über eine Million Menschen Gesundheitsschäden erleiden könnten. Deshalb wurde die Forderung nach Betoneinbauten um den Reaktordruckbehälter als Berstschutz diskutiert. In der Reaktorsicherheitskommission (RSK) und dem Institut für Reaktorsicherheit, den Beratergremien der Bundesregierung, war man sich allerdings einig, daß auch diese Maßnahme keine Sicherheit gegen das Bersten, das darauf folgende Schmelzen des Kerns und das Freiwerden der radioaktiven Stoffe aus dem Reaktorkern bietet.
Im Zusammenhang mit dem BASF-Projekt prägte der Bundeswissenschaftsminister Leussink den Begriff des "Restrisiko". Vor der Bundespressekonferenz erklärte er am 17. August 1970: "Obwohl große Anstrengungen unternommen wurden, Störfallwahrscheinlichkeit und -auswirkungen durch aufwendige systematisch geplante technische Sicherheitseinrichtungen so gering wie möglich zu halten, ist für Kernkraftwerke, ebenso wie für andere komplizierte technische Einrichtungen, eine absolute Sicherheit nicht erreichbar; vielmehr verbleibt ein aus menschlichem Versagen, unzureichenden Erfahrungen oder statistischen Fehlerquellen resultierendes Restrisiko. Um auch dieses Restrisiko so weit wie möglich zu vermindern, hat man bisher auch bewährte Reaktoren weltweit nicht in unmittelbarer Stadtnähe errichtet, offensichtlich aus Sorge, daß an einem solchen Standort wirkungsvolle Schutzmaßnahmen für die Bevölkerung in der Nahzone wegen der großen Bevölkerungszahl nicht rechtzeitig durchführbar sind."
Nach dieser Auffassung vom "Restrisiko" schien es also der Bevölkerung sehr wohl zumutbar, ein Atomkraftwerk an weniger dicht besiedelter Stelle zu errichten.
In den USA waren schon seit längerem Untersuchungen zur Reaktorsicherheitsproblematik betrieben worden. Früh hatte man dort überlegt, daß derart gefährliche Anlagen zum Schutz der Bevölkerung nur in sehr dünn besiedelten Gebieten errichtet werden könnten. Mit dem BASF-Projekt, das demonstrativ gegen diese Vorstellungen verstieß, wurde die Unzulänglichkeit der bis dahin üblichen Sicherheitsvorkehrungen und der Mangel an eigenen deutschen Sicherheitsforschungen zum akuten Problem. Das war der Anlaß zu einem ersten nennenswerten Forschungsprogramm für Reaktorsicherheit, das 1971 anlief. Ursprünglich sollte es binnen zwei Jahren Kriterien für die Genehmigung großstadtnaher Kernkraftwerke liefern, aber davon war nach Ablauf dieser Frist keine Rede. Es wurde übernommen in ein Forschungsprogramm zur Reaktorsicherheit, das als "Projekt Nukleare Sicherheit" PNS erstmals im August 1972 vorgestellt wurde. Es wurde in die Zuständigkeit des Bundesministers für Forschung und Technologie überführt. Die Leitung der Forschungsarbeiten wurde beim Kernforschungszentrum Karlsruhe KfK angesiedelt.
Das Ziel von PNS war, die Weiterentwicklung der Sicherheitstechnik zu fördern unter optimaler Abstimmung der Anforderungen für Umgebungsschutz, Arbeitsschutz, betriebliche Zuverlässigkeit und Wirtschaftlichkeit. Im Vordergrund stand dabei die Erhöhung der Betriebszuverlässigkeit durch Ausnutzung der Sicherheitsreserven, woraus sich unmittelbar eine Verbesserung der Wirtschaftlichkeit der Anlagen ergibt. Der Projektleiter verstand sich und seine Mitarbeiter "in erster Linie als 'Problemlöser' und nicht als 'Problemsucher'".
Der Blickwinkel der Bearbeiter wurde dadurch von vornherein stark auf solche Probleme eingeengt, deren technische Lösbarkeit vorauszusehen war. Das Problem des möglichen Eintretens von katastrophalen Unfällen trat weit in den Hintergrund.
Offizielle Vertreter erwecken seitdem gern den Eindruck, als seien die deutschen Atomforscher von Anfang an in höchstem Maße sicherheitsbewußt gewesen und als hätte die kerntechnische Entwicklung von vornherein extremen Sicherheitsanforderungen entsprochen.
Die BASF verzichtete später auf die Verwirklichung ihres Projekts in Mannheim. Dazu hat auch beigetragen, daß das RWE in Konkurrenz dazu kaum 20 km nördlich von Mannheim ein eigenes riesiges Unternehmen plante. In Biblis sollten vier Reaktoren mit einer Leistung von je 1200 bis 1300 MW errichtet werden. Das wurde in der Öffentlichkeit als spektakulär empfunden, gab es doch bis dahin weltweit nur Atomkraftwerke, bei denen eine gesamte Anlage mit ca 600 MW höchstens eine halb so hohe Leistungsgröße aufzuweisen hatte wie eine einzelne der hier geplanten. Im Juni 1969 wurde der Bauantrag für Biblis A gestellt. Zwei Jahre später folgte der für Biblis B.
Mit der Wahl des Standorts in der nur ländlich besiedelten Rheinaue glaubte man, dem wichtigsten Einwand gegen das BASF-Projekt entgangen zu sein.
Die Reaktorsicherheitsgremien als Beratergruppen der Bundesregierung beeilten sich, die eben aufgekommene Diskussion um das "Restrisiko", genauer: die Möglichkeit eines Reaktorunfalls in dicht besiedeltem Gebiet, wieder zu unterdrücken, um sie zugunsten dieses Projekts des RWE aus dem Genehmigungsverfahren heraushalten zu können.
In Breisach am Oberrhein, 20 km entfernt von Freiburg im Breisgau, war schon 1972/73 gegen das dort geplante AKW ein breiter Protest entstanden. Es war zu Demonstrationen gekommen, und 65 000 Menschen hatten Einwendungen erhoben. Der Erörterungstermin zur Beteiligung der Betroffenen im Genehmigungsverfahren platzte. Die Einwender weigerten sich, weiter an ihm teilzunehmen, weil sie erkannten, daß sie mit ihren Argumenten nicht ernstgenommen wurden.
Die Landesregierung von Baden-Württemberg und das Badenwerk als Antragsteller erwarteten, diesem Widerstand ausweichen zu können. Am 14. Mai 1973 wurde ein neuer Standort 30 km weiter nördlich im Wald bei Wyhl am Kaiserstuhl bekanntgegeben. Man vermutete, wegen der konservativen Wählerstruktur im Ort Wyhl werde es hier nicht zum Aufbegehren kommen.
In benachbarten Orten bildeten sich aber sofort Initiativen, um sich gegen den Bau eines AKW an diesem neuen Standort zu wehren.
Im Oktober 1973 wurde der Bauantrag für 2 AKW mit je 1.300 Megawatt Leistung gestellt.
Diesmal wurden 90 000 Einwendungsunterschriften gesammelt.
Im Juli 1974 fand in Wyhl der Erörterungstermin statt. Zum Schutz der Regierungsvertreter und von "Ruhe und Ordnung" war eine Hundertschaft Bereitschaftspolizei eingesetzt. Wieder ließen die Einwender am zweiten Tag den Termin platzen, empört über die Vertreter der Ministerien, die überdeutlich nicht die Interessen der Einwender, sondern die des Antragstellers vertraten.
Die Sprecher der Badisch-Elsässischen Bürgerinitiativen vertraten in den Auseinandersetzungen zunächst die ökonomischen Interessen der Weinbauern vom Kaiserstuhl und der Tabakanbauer. Sie befürchteten Klimaverschlechterungen im Oberrheintal durch die Nebelwolken der Kühltürme. Heftig kritisiert wurde die Industrieansiedlungspolitik, die mit dem Bau des AKW beginnen sollte und andere umweltbelastende Industrien nach sich ziehen würde.
Zu einer Demonstration Ende Juli 1974 kamen zum ersten Mal auch etwa 100 Elsässer von der französischen Rheinseite.
Dort gab es bereits Gruppen, die 1971 eine erste Demonstration gegen das Atomkraftwerk Fessenheim organisiert hatten und seit 1974 ihren Protest ganz auf den Widerstand gegen den Bau eines Bleichemiewerks in Marckolsheim ausgerichtet hatten. Von nun an bildeten sich engere Beziehungen zwischen den Bürgerinitiativen auf beiden Seiten des Rheins, das Bündnis der Badisch-Elsässischen Bürgerinitiativen entstand.
Von den Elsässern kam zuerst der Vorschlag, gemeinsam den Bauplatz des Bleiwerks in Marckolsheim zu besetzen, um den Bau zu verhindern. Am 20. September 1974 gelang diese Platzbesetzung, die trotz unangenehmen kalten und nassen Wetters viele Wochen lang aufrechterhalten wurde. Im Februar 1975 untersagte die französische Regierung den Bau des Bleiwerks.
Am 22. Januar 1975 wurde die erste Teilerrichtungsgenehmigung für die Errichtung eines Druckwasserreaktors in Wyhl erteilt.
Am 17. Februar 1975 war Baubeginn in Wyhl. Die KWS (Kernkraftwerke Süd) als Betreiberin ließ Bäume schlagen und Zäune ziehen. Anderntags besetzten Mitglieder der Bürgerinitiativen den Platz, die Bauarbeiter zogen ab.
Am 20. Februar 1975 erschien Polizei und vertrieb die Bürgerinitiativen.
Am 23. Februar 1975 versammelten sich über 25 000 Menschen. Sie gingen von allen Seiten auf den Platz. Bloßer Stacheldraht und die damals noch wenig wirkungsvollen Wasserwerfer waren für sie kein Hindernis. Sie drängten die Polizei zurück und brachten sie zum Abziehen. Die Bürgerinitiativen blieben auf dem Bauplatz, diesmal für ein Jahr.
Dieses Ereignis löste in der Öffentlichkeit allgemeine, heftige Überraschung aus.
Die Bürgerinitiativen der Region waren zu der Erkenntnis gekommen, daß sie nur durch ihre eigene Initiative ihre Interessen verteidigen konnten. Breite Schichten der Bevölkerung in der Region hatten sich mit den Zielen der Bürgerinitiativen solidarisiert. Das war besonders bei der Wiederbesetzung des Bauplatzes eindrucksvoll unter Beweis gestellt worden. Der vollen Ausschöpfung des Rechtswegs als zweitem Weg, das Atomkraftwerk zu verhindern, wurde große Bedeutung beigemessen. Ohne ein faires juristisches Verfahren würde sich die Bevölkerung nicht befriedigen lassen. Daß die KWS trotz des Rechtsstreits vollendete Tatsachen schaffen würde, konnte mit der Platzbesetzung verhindert werden.
Der Erfolg der Badisch-Elsässischen Bürgerinitiativen fand sofort großen Widerhall in der Öffentlichkeit und in der ganzen Bevölkerung. Ihre Erfahrungen wirkten unmittelbar als Ermutigung für die Menschen an anderen Standorten, an denen Atomanlagen geplant oder schon im Bau waren.
Der baden-württembergische Ministerpräsident Filbinger tat den Ausspruch: "Wenn dieses Beispiel Schule macht, ist dieses Land nicht mehr regierbar", das heißt: Wenn die Bürger auch an anderen Orten mit solchen Aktionen Erfolg haben, wird keine Regierung mehr eine Atomkraftwerkspolitik durchsetzen können.
Frühzeitig waren die Bürgerinitiativen gegen das Atomkraftwerk Wyhl von der Arbeitsgruppe Umwelt der studentischen Fachschaft Chemie an der Universität Freiburg unterstützt worden.
Im Universitätsbetrieb lernte man damals nichts über Konstruktion und Funktionsweise von Atomkraftwerken. Die Mitglieder der Gruppe brachten aber selbst die notwendigen Kenntnisse und genügend viel Vorstellungsvermögen mit, um die Informationen der Betreiber und ihrer Sachverständigen so zu übersetzen, daß sie mögliche Auswirkungen auf Menschen und Umwelt beschreiben konnten. Sie diskutierten, daß im Reaktor eine Kernschmelze physikalisch und technisch möglich war und daß ein solcher Unfall weitreichende Folgen für die Umgebung und die Bevölkerung haben würde. Im Genehmigungsantrag der Betreiber war diese Möglichkeit ausgeschlossen worden mit der Begründung, die geplanten Sicherheitseinrichtungen des Reaktors reichten aus, den "Größten Anzunehmenden Unfall" (GAU) sicher zu beherrschen. Unfallabläufe mit weitergehenden Zerstörungen seien nur theoretisch vorstellbar, so daß man sie dem Restrisiko zuschreiben könne, das die Bevölkerung hinzunehmen habe.
Die Ergebnisse dieser Arbeit konnten in die gerichtlichen Auseinandersetzungen um Wyhl eingebracht werden.
Die 1. Teilerrichtungsgenehmigung war für sofort vollziehbar erklärt worden, angeblich sei sie wegen dringenden Strombedarfs unausweichlich. Filbunger drohte: "Sonst gehen die Lichter aus".
Im März 1975 verfügte das Verwaltungsgericht Freiburg einen Baustopp, weil die Strombedarfsprognosen nicht nachvollziehbar waren.
Am 14. Oktober 1975 wurde der Sofortvollzug vom Verwaltungsgerichtshof (VGH) Baden-Württemberg in Mannheim wiederhergestellt.
Trotzdem wurden die Bauarbeiten im Wyhler Wald nicht wieder aufgenommen.
In der Entscheidung des VHG Mannheim sind wichtige Gesichtspunkte zur Bewertung des Risikos der Atomtechnik weiterentwickelt worden, für die in vorausgegangenen atomrechtlichen Verfahren erste Ansätze geschaffen worden waren. Auch das scheint Landesregierung und Unternehmen bewogen zu haben, gegenüber der badisch-elsässischen Bevölkerung einzulenken. In diesem Zusammenhang können der Beschluß des Oberverwaltungsgerichts Lüneburg zum Atomkraftwerk Stade vom 19./20. Juni 1974 und das zweite Urteil des Oberverwaltungsgerichts Münster zu Würgassen vom 20. Februar 1975 herausgestellt werden. Die Entwicklung der Argumentation war auf folgende Weise vor sich gegangen:
Das OVG Lüneburg hatte im Juni 1974 in seinem Stade-Beschluß als erstes Gericht versucht, seine Entscheidung auch auf inhaltliche Argumente zu stützen.
Das Gericht hatte versucht, den wissenschaftlichen Auseinandersetzungen der zugezogenen Sachverständigen zu folgen. Dadurch war ihm ein deutlicheres Bild von den Risiken vermittelt worden, die der Kernspaltungsvorgang im Atomkraftwerk und die zugelassenen Emissionen radioaktiver Stoffe mit sich bringen; es sah sich daher in der Lage, sich auf eine Abschätzung der Grenzen der Beherrschbarkeit dieser Risiken einzulassen.
Es hatte feststellen müssen, bei den Verantwortlichen in den Bereichen der wissenschaftlichen Forschung, der Exekutive und der Energiewirtschaft bedürfe es noch vielfältiger, gewissenhafter und angestrengter Arbeit, um den diesen Risiken ausgesetzten Bürgern und ihrer Nachkommenschaft den verfassungsrechtlich gebotenen Schutz vor den Gefahren der Kernenergie zu gewährleisten. Im Hintergrund stand hier schon das Würgassen-Urteil des BVerwG vom März 1972, daß der Schutzzweck des Atomgesetzes unbedingten Vorrang hat vor der sogenannten "Nutzung der Kernenergie zu friedlichen Zwecken".
Andererseits hielt das Gericht es nicht für gerechtfertigt, auf Grund des damaligen Meinungsstands in der Wissenschaft die Nutzung der Kernenergie in Atomkraftwerken wie Stade zur Vermeidung möglicher Schäden zu verbieten. Es argumentierte, das Atomkraftwerk Stade entspreche, soweit Bauart und Betriebsweise in diesem Verfahren geprüft und erörtert werden konnten, einer wissenschaftlich erarbeiteten, gründlich durchdachten Sicherheitskonzeption; es seien auch keine Umstände aufgetreten, die Zweifel aufkommen lassen könnten, daß die beteiligten Wissenschaftler und Techniker der von ihnen übernommenen Verantwortung nicht gerecht geworden seien. Die Sicherheitskonzeption sei zwar theoretischer Kritik ausgesetzt; dieser werde sie aber, wie nach den bisher gewonnenen Erfahrungen vermutet werden könne, voraussichtlich standhalten.
Allerdings sei nicht auszuschließen, daß die seit kurzem bekanntgewordenen Hypothesen über die Schädlichkeit kleinerer Strahlendosen ein Umdenken erzwingen würden, wodurch letzten Endes in Frage gestellt werden könnte, ob die zu fordernde Schadensvorsorge sichergestellt ist.
Bevor jedoch diesen Bedenken für die Rechtsanwendung entscheidendes Gewicht beigelegt werden könne, bedürften sie noch der vertiefenden wissenschaftlichen Erörterung. Es sei aber Aufgabe der Verwaltung, der der Vollzug des Atomgesetzes anvertraut ist, einen so weit reichenden Forschungsauftrag, an dessen Durchführung ein Interesse der Allgemeinheit besteht, anzuregen. Das Gericht sei dazu nicht in der Lage, da es nur mit einem begrenzten Ausschnitt aus dem Genehmigungsverfahren im Bereich des vorläufigen Rechtsschutzes befaßt sei und auf die gesetzliche Regelung des Kostenrisikos der einzelnen Prozeßbeteiligten Rücksicht nehmen müsse.
Soweit es um die Strahlengefährdung aus Normalbetrieb ging, hatte das Gericht sich schon mit dem damals sehr heftig geführten Streit um die Beurteilung kleiner Strahlendosen befassen müssen. Es sah schon voraus, daß er zu einer Senkung der Grenzwerte führen könnte. Dazu kam es auch bald danach. Es wurde eine Regel für die Grenzwerte für den Betrieb von Atomkraftwerken eingeführt, die im Prinzip auch heute noch angewendet wird.
Anders ging das Gericht mit dem Problem der technischen Sicherheit des Atomkraftwerks um. Es konnte zwar nicht übergehen, daß auch hier schon Kritik geübt wurde, vertraute aber doch dem Verantwortungsbewußtsein und der Erfahrung der Techniker, die die im Verfahren diskutierten Schwierigkeiten gewiß in Zukunft meistern würden. Forschungsbedarf scheint das Gericht in diesem Bereich nicht gesehen zu haben. Es fällt auf, wie wenig hier das Gericht dem Gegenstand seiner Entscheidung gewachsen war.
Den Rechtsstreit um das Atomkraftwerk Würgassen hatte das Bundesverwaltungsgericht mit seiner Entscheidung vom März 1972 zurückverwiesen an das Oberverwaltungsgericht Münster.
Dadurch wurde das OVG Münster veranlaßt, sich viel ausführlicher mit der Problematik auseinanderzusetzen, als es das in seiner ersten Entscheidung vom Februar 1970 getan hatte.
Am 20. Februar 1975 faßte es seinen 2. Würgassenbeschluß.
Zur Vorbereitung dieser Entscheidung besichtigte das OVG im Oktober 1974 die Atomkraftwerke Würgassen und den sogenannten "Zweikreissiedewasserreaktor" Lingen. Diese Anlage mit einer Leistung von 252 MW war seit 1968 am Netz. Sie wurde wegen zahlreicher Störfälle schon 1977 wieder stillgelegt. Sie steht noch als Ruine auf dem Gelände des heutigen Druckwasserreaktors Emsland. Ihr gegenüber konnte der Siedewasserreaktor Würgassen wegen seiner ganz anderen Bauweise als technisch fortschrittlich betrachtet werden. Anschließend hielt das Gericht eine mehrere Tage andauernde Anhörung, an der zahlreiche Sachverständige beteiligt waren. Für die Erörterung hatte das Gericht einen Fragenkatalog vorbereitet, dem die vom Kläger vorgebrachten Einwendungen zugrunde gelegt worden waren.
Wir verzichten hier darauf, uns mit der Behandlung der Strahlenfrage im Normalbetrieb durch das Gericht zu beschäftigen. Breiter betrachten wollen wir, wie es mit dem Problem der außerordentlichen Gefahren, also den sicherheitstechnischen Fragen umgegangen ist.
Der Kläger hatte den Hinweis gegeben, daß die US-amerikanische Atomenergiekommission (AEC) eben den Entwurf der Reactor Safety Study WASH-1400, bekanntgeworden unter dem Namen Rasmussen-Report, der Öffentlichkeit zur Diskussion gestellt hatte und daß in der Bundesrepublik Deutschland eine vergleichbare quantitative Risikobetrachtung zur Abschätzung der Eintrittswahrscheinlichkeit von schweren Kernschmelzunfällen fehle. Das zwang das Gericht, sich mit diesen Fragen auseinanderzusetzen.
Zwar hielt das Gericht dem Kläger zugute, es sei anzunehmen, daß eine solche Sicherheitsanalyse nach der Wahrscheinlichkeitsmethode für die Genehmigungsbehörde und das Gericht eine objektivere und vor allem exaktere Beurteilung ermöglichen könnte. Auch sei zu erwarten, daß mit dem fortschreitenden Stand von Wissenschaft und Technik und zunehmender Detailkenntnis über die komplexen Zusammenhänge in den Sicherheitssystemen von Atomkraftwerken auf diesem Wege die Möglichkeit gegeben sei, die Beurteilungsgrundlagen laufend zu verbessern. Bei wachsender Ausweitung der Kernenergie-Anwendung würde das Risiko für die Allgemeinheit kumuliert, zu deutsch: durch jedes neu hinzukommende Atomkraftwerk vergrößert. Die für wünschenswert gehaltene Verminderung dieses Risikos könne mit Hilfe einer solchen Analyse kontrolliert werden.
Gleichwohl entschied sich das Gericht dagegen, die quantitative Risikobetrachtung zu fordern. Es führte dafür zwei Gründe an.
Zum ersten habe das Gericht sich in diesem Verfahren im wesentlichen nur mit der Genehmigung der Grundkonzeption und des Standortes zu befassen. Eine erstmalige quantitative Zuverlässigkeitsanalyse hätte daher wegen ihrer Beschränkung auf abstrakt vorgegebene Details notwendigerweise unvollständig bleiben müssen. Wenn überhaupt, würde sie sich eher im Rahmen einer Überprüfung der abschließenden Betriebsgenehmigung tatsächlich gebauter Atomkraftwerke eignen.
Zum anderen habe die Erörterung mit den Sachverständigen keinen Anhaltspunkt dafür geliefert, daß die nach dem bisherigen Stand von Wissenschaft und Technik übernommene Beurteilungsmethode für die Sicherheitsprüfung einer Anlage, unzulänglich oder untauglich sei. Mit ihr erfolge eine Betrachtung bestimmter Komponenten und der Verknüpfung ihrer Funktionen in einem "Fehlerbaum", dessen Verzweigungsmöglichkeiten nur verkürzte oder "idealisierte" Aussagen über das Versagen der Komponenten als "wahrscheinlich" oder "nicht wahrscheinlich" enthalten. Konkreter gesagt: Die Ingenieure beurteilen es "aus ihrem subjektiven Gefühl" als "wahrscheinlich" oder "nicht wahrscheinlich", daß eine Komponente versagt. Wegen dieser Vereinfachung sei das mit dieser Methode ermittelte Ergebnis zwangsläufig ebenfalls "idealisiert" auf die Entscheidungen 'in erforderlichem Maße sicher' oder 'nicht sicher', somit sei es weniger durchsichtig als Aussagen über die Häufigkeit des Versagens einzelner Komponenten.
Diese Art von Überprüfung der Einzelkomponenten der Anlage unter Berücksichtigung ihres Funktionszusammenhanges innerhalb des gesamten Sicherheitssystems gebe aber ausreichenden Aufschluß darüber, ob die gesetzlich erforderliche Vorsorge gegen Schäden durch die Errichtung und den späteren Betrieb der Anlage gewährleistet ist. Das gelte jedenfalls für ein Kernkraftwerk der 1. Generation wirtschaftlicher Leistungsreaktoren.
Das Gericht befaßte sich also ausführlich mit der Ausfüllung des vom Atomgesetz geforderten Merkmals "Stand von Wissenschaft und Technik" und weniger mit der Auslegung des Begriffs "erforderliche Vorsorge". Es sah sich darin gedeckt durch die Revisionsentscheidung des Bundesverwaltungsgerichts, die diese erneute Verhandlung veranlaßt hatte. Solange mit dem Sicherheitssystem das nach dem alten Stande von Wissenschaft und Technik für erforderlich gehaltene Sicherheitsziel (oder den Sicherheitsstandard) angestrebt werde, sei dagegen nichts einzuwenden. Erst wenn sich ergebe, daß die Tauglichkeit oder Logik des konzipierten Sicherheitssystems auf Grund der Ergebnisse einer neueren Methode "mangels erreichbarer Sicherheit" in Frage gestellt sei, müsse man zu anderen Schlußfolgerungen kommen.
Wenn das Gericht zwar prinzipiell den Ansatz der quantitativen Zuverlässigkeitsanalyse als relevant ansah, aber ihn trotzdem im Genehmigungsverfahren für das Atomkraftwerk Würgassen nicht berücksichtigen mochte, so dürfte im Hintergrund gestanden haben, daß der Rasmussen-Report in den USA seit seinem Bekanntwerden heftig umstritten war und es in der Bundesrepublik keinerlei Erfahrung mit seiner Methodik gab. Zu jener Zeit konnte eine solche Sicherheitsanalyse noch nicht als Stand von Wissenschaft und Technik gelten.
Auch die zweite ablehnende Begründung des Gerichts war nicht ohne Berechtigung. Die beim Rasmussen-Report angewendete Methodik stützte sich bei der Bestimmung der Versagenswahrscheinlichkeiten von Komponenten auf die bereits vorhandene Erfahrung mit dem Betrieb von Atomkraftwerken. Solche Erfahrungen konnte es damals mit dem für Würgassen gewählten Typ des Siedewasserreaktors noch gar nicht geben. Auch daraus hätte sich die Abstraktheit möglicher Aussagen mit Hilfe der neuen Methodik ergeben.
Allerdings zweifelte das Gericht auch nicht an der bisher angewendeten Methode, die Sicherheit von von Anlagenteilen zu beurteilen.
Trotzdem hatte das OVG Münster einen wichtigen Schritt im Vergleich zum Stade-Beschluß des OVG Lüneburg vollzogen. Mit seinem Urteil hat es das Problem der Quantifizierbarkeit des Risikos durch Berücksichtigung der Eintrittswahrscheinlichkeit von schweren Unfällen in die rechtliche Diskussion gebracht.
Das Urteil des VGH Mannheim vom 8. Oktober 1975 zum Atomkraftwerk Wyhl schließt in entscheidenden Punkten an dieses Urteil des OVG Münster an. Insbesondere entwickelte es die in diesem Urteil gebrachten Ansätze zur Risikoermittlung wie zur Risikobewertung weiter.
Durch die Formulierungen des Gerichts hindurch spürt man deutlich, daß in Mannheim die Diskussion um das BASF-Projekt noch immer nachwirkte.
Zuerst müssen wir uns wieder damit beschäftigen, wie das Gericht mit den Problemen der Strahlenbelastung im Normalbetrieb umging. Es zog hier die Ergebnisse einer öffentlichen Anhörung des Innenausschusses des Bundestages zum Thema "Das Risiko Kernenergie" heran. Wie man sieht, bekam dieses Thema zunehmend auch politisches Gewicht. Die Sachverständigen waren nun schon "vorsichtshalber" davon ausgegangen, daß sich auch bei kleiner Bestrahlungsdosis, wenn auch in einer sehr geringen Anzahl von Fällen, Schäden einstellen können.
Die Schlußfolgerungen des Gerichts aus dieser nun schon weitgehend anerkannten Tatsache kann man etwa so zusammenfassen: Zwar sei der Gesetzgeber nicht gehalten, die Bevölkerung vor jedem Risiko zu bewahren. Das sei eine Aufgabe, die er ohnedies nicht bewältigen könnte. Sie werde ihm auch nicht durch das Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes "Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit" auferlegt. Wohl aber verpflichte eben diese Grundrechtsbestimmung den Staat, Risiken für Leben und körperliche Unversehrtheit, die er beeinflussen kann, in vertretbaren Grenzen zu halten. Das Gericht formulierte ausdrücklich: "Diese Schutzpflicht des Staates ist umfassend." Des weiteren führte es aus, daß das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit im Atomgesetz zu Recht nicht als ein durch seine Regelung eingeschränktes Grundrecht genannt ist. Es geht hier um den Verfassungsgrundsatz, daß ein Gesetz, das in ein Grundrecht eingreift, dieses Grundrecht ausdrücklich nennen muß.
Der VGH setzte dann die Gefährdung aus Normalbetrieb der Atomkraftwerke in Vergleich zu anderen Umweltbelastungen. Die Nutzung fossiler Energiequellen habe Staub- und Schwefeldioxydemissionen zur Folge. Nach der Auffassung des renommierten Carl-Friedrich von Weizsäcker sei ernstlich mit der Möglichkeit zu rechnen, daß der unvermeidbar damit verbundene Ausstoß von Kohlendioxyd beim gegenwärtigen Verbrauch an fossilen Energieträgern im kommenden Jahrhundert das Klima auf der Erde tiefgreifend wandle. Alternativen der Energieversorgung könnten nach dem gegenwärtigen Stand der Technik in Deutschland nicht in Betracht kommen. Die Wasserkräfte seien bereits weitgehend genutzt.
Daraus zog das Gericht den Schluß, das Risiko aus der Strahlenbelastung durch den Betrieb von Atomkraftwerken sei im Vergleich mit diesen Risiken zumutbar.
Die Sichtweise des VGH Mannheim über die außerordentlichen, sicherheitstechnisch bedingten Gefahren des für Wyhl geplanten Reaktors kann man etwa so wiedergeben: Gerade hatte das Gericht ausgesprochen, daß die auf dem Grundgesetz beruhende Schutzpflicht dem Leben seiner Bürger gegenüber es dem Staat verbietet, nicht vertretbare Risiken in Kauf zu nehmen. Nun fügte es diesem Gedanken hinzu: "Die Risikobeurteilung richtet sich nach dem Ausmaß des denkbaren Schadens und der Wahrscheinlichkeit seines Eintritts. Sie muß näher aufgeklärt werden, auch wenn eine quantifizierbare Abschätzung z.Z. noch nicht gesichert erscheint." Es griff also den Gedanken auf, die im Rasmussen-Report angewendete Methodik müsse zur Risikobeurteilung hinzugezogen werden.
Das Gericht kam dann zurück auf das vorgetragene sachliche Problem: Vor allem müsse abschließend beurteilt werden, "ob alle über den größten anzunehmenden Unfall (GaU), auf den das Kernkraftwerk ausgelegt ist, hinausgehenden Unfälle derart unwahrscheinlich sind, daß sie nicht berücksichtigt zu werden brauchen." Die Einwender hatten ja als konkretes Problem das Bersten des Reaktordruckbehälters vorgetragen.
Das Gericht machte einen Kompromißvorschlag, indem es von einer Vergleichbarkeit zwischen Atomkraftwerksunfällen und anderen schweren Unfällen ausging: Immerhin bliebe auch ein abgestuftes Sicherheitskonzept annehmbar; gewisse - außerordentlich seltene - Großstörfälle müßten zwar nicht so beherrschbar sein, daß nur eine unwesentlich erhöhte Abgabe von Radioaktivität mit ihnen verbunden wäre; in ihrer Schadensdimension dürften sie aber nicht über den Rahmen eines "konventionellen" Großunfalls (Flugzeugabsturz, Eisenbahnunglück, Großbrand) hinausgehen. So fand das Gericht einen Weg, auch hinsichtlich der sicherheitstechnischen Fragen dem Sofortvollzug nichts in den Weg zu stellen.
Aber es nannte doch eine Bedingung für das Nichthinnehmbare: "Freilich müßte in jedem Falle die große Katastrophe nationalen Ausmaßes mit Tausenden von Toten und der Verseuchung ganzer Landstriche auf unabsehbare Zeit praktisch ausgeschlossen bleiben."
Diesen Gedanken führten die Richter noch weiter. Sie wendeten sich noch einmal den Möglichkeiten zu, die sich aus der Methodik des Rasmussen-Reports ergaben: Bei der Ermittlung des Sicherheitskonzepts könne es nicht um rein theoretische Abschätzung gehen. Ähnliche kritische Äußerungen hatte ja schon das OVG Münster in seinem Würgassen-Urteil vom Februar 1975 getan und damit begründet, daß es vorläufig keine Notwendigkeit sah, diese Methode zu berücksichtigen. Die Mannheimer Richter gingen aber anders vor. Sie befaßten sich mit einem anderen Bereich der möglichen Aussagekraft der Methode. Beispielsweise müßte gefragt werden, welche Folgen derzukünftige Betreiber erwartet, wenn ein Erdbeben eintritt, das ein schwereres Ausmaß hat, als die für die Planung angenommenen Erdbeben. Damit stand statt der üblichen Frage der Ingenieure: "Was müssen wir tun, damit das Versagen verhindert wird?", die Frage im Raum: "Was sind die Auswirkungen eines schweren Unfalls?"
Außerdem verknüpfte das Gericht die grundrechtliche Verpflichtung des Staates zur umfassenden Schutzpflicht gegen Risiken, die er beeinflussen kann, mit der Aufgabe, das Risiko näher aufzuklären und sich dazu auch neuer geeignet erscheinender Methoden zu bedienen, zu denen auch die Risikoanalyse nach dem Beispiel des Rasmussen-Report gehöre. Damit ging der VGH Mannheim deutlich über den Ansatz des OVG Münster
hinaus, das sich mit der herkömmlichen Methode auf der Grundlage des "subjektiven Gefühls der erfahrenen Ingenieure" zufriedengegeben hatte.
Angesichts dieser Entscheidung begann man von einer neuen Phase der Auseinandersetzung zu sprechen.
Formalrechtlich hätte seit dem Urteil des VGH Mannheim im Wyhler Wald gebaut werden dürfen. Es wurde nicht gebaut.
Die Badisch-Elsässischen Bürgerinitiativen waren auch nach der Räumung am Bauplatz von Wyhl ständig präsent. In einem Freundschaftshaus organisierten sie die Veranstaltungen der "Volkshochschule Wyhler Wald".
Abbildung 1: Das Freundschaftshaus der Badisch-Elsässischen Bürgerinitiativen im Wyhler Wald
Die Landesregierung und die Betreiberfirmen wurden zu Verhandlungen gezwungen. Es kam 1976 zu einer Übereinkunft zwischen den Bürgerinitiativen und der Landesregierung, der Offenburger Vereinbarung. Neue Gutachten wurden vorgesehen, und Bauarbeiten sollten nicht begonnen werden dürfen, bevor der juristische Streit endgültig entschieden war.
Die jungen Rechtsanwälte, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die sich zusammen mit den Bürgerinitiativen auf die Gerichtsverfahren eingelassen hatten, gehörten im November 1977 zu den Begründern des Öko-Instituts in Freiburg. Sie verwirklichten ihre Idee, zur Stärkung der Positionen der Bürgerinitiativen unabhängige ökologisch orientierte Wissenschaftler zu unterstützen und ein Forum zu schaffen, auf dem wissenschaftlich begründete Gegenpositionen zu den damals etablierten wissenschaftlichen und politischen Positionen vertreten werden konnten.
Schon seit Anfang der Siebziger Jahre hatte die Elektroindustrie mit großem Aufwand für den "billigen, sauberen, sicheren Atomstrom" geworben. Ein typisches Produkt dieser Kampagne war die Propagandaschrift der HEW (Hamburgische Elektrizitätswerke) "66 Fragen: 66 Antworten zum besseren Verständnis der Kernenergie". Sie wurde über 200 000-fach verbreitet und vor allem dort, wo ein Atomkraftwerk gebaut werden sollte, kostenlos verteilt.
Eine Gruppe von Hochschullehrern, Mitarbeitern und Studenten der Universität Bremen, die Projektgruppe SAIU (Schadstoffbelastung am Arbeitsplatz und in der Industrieregion Unterweser), machte sich daran, die darin enthaltene Fülle von Halbwahrheiten, irreführenden Verharmlosungen und einfach falschen Behauptungen gründlich auseinanderzunehmen. 1975 veröffentlichten sie eine Broschüre mit dem
Titel "Zum richtigen Verständnis der Kernindustrie - 66 Erwiderungen". Sie verfolgten damit in erster Linie das Ziel, die gegen den Bau von Atomkraftwerken sich mobilisierenden Menschen durch die Bereitstellung wissenschaftlich abgesicherter Informationen zu stärken. Darüber hinaus wollten sie vermitteln, daß die damals schon vielzitierte Verantwortung des Wissenschaftlers für die Folgen seiner Arbeit von ihm verlangt, aktiv an den politischen Auseinandersetzungen um die Anwendung von Wissenschaft und Technik teilzunehmen.
Die Autorengruppe der "66 Erwiderungen" konnte sich auf den Entwurf der Reactor Safety Study der amerikanischen Atomenergiekommission (AEC), den Rasmussen-Report, stützen. Sie stellte die zahlenmäßigen Ergebnisse der Studie in den Vordergrund. Hier gab es die Aussage einer staatlichen Institution, die der offiziell in der Bundesrepublik vertretenen Meinung über die Sicherheit der technischen Einrich tungen von Atomkraftwerken direkt widersprach. Es wurde vielmehr bestätigt, daß es unter bestimmten Bedingungen zu Kernschmelze und Freisetzung großer Mengen von Radioaktivität in die Umgebung kommen kann. Mit dem Eintritt eines solchen Ereignisses mußte nach dem Rasmussen-Report durchschnittlich einmal in 17 000 Reaktorbetriebsjahren gerechnet werden. Allerdings waren ihm nur geringe Gesundheitsgefährdungen zugeordnet. Für Unfälle mit schwerwiegenden Folgen war im Rasmussen-Report ein Wert für die Eintrittswahrscheinlichkeit von einmal in 10 Millionen Reaktorbetriebsjahren angegeben worden. Nach Meinung amerikanischer Kritiker waren auch diese Werte noch zu niedrig.
In der HEW-Werbebroschüre war für schwerwiegende Unfälle sogar nur ein Wert von einmal in 1 Milliarde Jahren genannt worden. Demgegenüber war der in der amerikanischen Studie angegebene Wert immerhin schon hundertmal größer. Damit konnte an einem wichtigen Punkt aufgedeckt werden, daß die Aussagen der Werbebroschüre nicht standhielten.
Die SAIU-Autoren haben absichtlich alle Antworten der Werbe-Broschüre wiedergegeben und ihnen ihre Erwiderungen gegenübergestellt. So kann man gut ablesen, worin der Unterschied in der Herangehensweise an die Sicherheitsproblematik besteht, wie sie die HEW vortrug und wie sie dem Rasmussen-Report zugrundelag.
In der HEW-Broschüre hieß es: "Mit Hilfe einer Analyse der Systemfunktion ermittelt man die Folgen eines solchen Schadens (mit den ernstesten Folgen, BIU) und entwirft entsprechende Sicherheitseinrichtungen. Dazu gehört z.B. das Notkühlsystem, das weitere Schäden zuverlässig verhindert." Diese Aussage kann man geradezu als typisch für die Methode des "subjektiven Gefühls des Ingenieurs" bezeichnen. Dagegen fordern die SAIU-Autoren, "daß die tatsächlichen Störfälle, die durch Bedienungsfehler oder Versagen von Bauteilen eintreten, in allen Einzelheiten der wissenschaftlichen Öffentlichkeit darzulegen sind, damit die theoretischen Wahrscheinlichkeitsaussagen wenigstens teilweise mit den praktisch erreichbaren Zuverlässigkeitsgrenzen verglichen werden können". Stellt man die Verbindung her zu den Aussagen über den möglichen Ablauf von Kernschmelzunfällen einschließlich ihrer Folgen für die Menschen, dann erkennt man, wenn auch sehr vergröbert, die Methodik des Rasmussen-Reports oder der damals so genannten quantitativen Risikoanalyse.
Es kam hinzu, daß die Herstellerfirmen der deutschen Atomkraftwerke zumindest anfangs bei der Entwicklung ihrer Bautypen eng mit den amerikanischen Unternehmen zusammengearbeitet hatten. Man konnte daher davon ausgehen, daß die Aussagen des Rasmussen-Reports auch auf die deutschen Anlagen bezogen werden müßten.
Die Autoren der Projektgruppe SAIU leiteten daraus die Forderung ab, auch in der Bundesrepublik müßten ähnliche Studien angefertigt werden, für die der Rasmussen-Report allerdings nur als erster Schritt zu gelten habe.
Die Projektgruppe SAIU lenkte die Aufmerksamkeit auch auf die übrigen Anlagen, die für den Betrieb von Atomkraftwerken erforderlich sind, die sich hinter dem zusammenfassenden Begriff des sogenannten "Brennstoffkreislaufs" verbargen. Insbesondere wiesen sie auf die bereits geplante Wiederaufarbeitungsanlage hin, die für die Produktion des Plutoniums für Schnelle Brüter erforderlich war. Diese Anlage, in der die Verarbeitung von 1 400 t Leichtwasserreaktor-Brennelementen pro Jahr beabsichtigt war, sollte über einem Salzstock errichtet werden, der als Endlagerstätte für ihre hochradioaktiven Abfälle vorgesehen war. Ein Standort für sie kam deshalb nur in Norddeutschland in Frage. Als besondere Gefährdungen, die von der Wiederaufarbeitungsanlage ausgehen würden, nannten die Autoren die radioaktiven Abgaben während des Betriebs, die um ein Tausendfaches höher sind als die beim normalen Betrieb der Atomkraftwerke, und die Möglichkeit der Verwendung des freiwerdenden Plutoniums zum Bau von Atombomben.
Grundsätzliche Kritik trug die Gruppe vor gegen die Energiepolitik der Bundesregierung, die selbst mit der hohen Subventionierung die Atomenergie begünstigt und die Entwicklung von Alternativen vernachlässigt hatte. Die prinzipielle Alternative sei, den Stromverbrauch nicht weiter anwachsen zu lassen, sondern die üblich gewordene Energieverschwendung zu verringern. Andere Möglichkeiten für die Energiegewinnung wie die bessere Nutzung fossiler Energiequellen, der Sonnen- und Windenergie müßten erforscht und entwickelt werden.
Die Projektgruppe SAIU hatte sich auch im Genehmigungsverfahren für das Atomkraftwerk Unterweser/Esenshamm engagiert. Der Genehmigungsantrag war im April 1971 gestellt worden. Dem waren aber mehrjährige Geheimverhandlungen zwischen Behördenvertretern und dem antragstellenden Unternehmen vorausgegangen. Von der amtlichen Bekanntmachung des Antrags war die Bevölkerung daher überrascht und überrumpelt worden. Damals standen ihr nur vier Wochen Zeit zur Verfügung, Einblick in die ausgelegten Antragsunterlagen zu nehmen, um sich mit den Gefährdungen auseinanderzusetzen und ihre Einwendungen entwickeln zu können. Auch mußte damit gerechnet werden, daß der Genehmigungsbehörde weitere Antragsunterlagen erst nach der Auslegungsfrist zugestellt wurden, so daß die Einwender sie gar nicht zu sehen bekamen. Überhaupt keine Hinweise waren über die Möglichkeit und die Folgen eines schweren Reaktorunfalls und des Kernschmelzens zu finden gewesen. Von rechtlicher Chancengleichheit der Einwender gegenüber der Atomindustrie im Beteiligungsverfahren konnte unter diesen Bedingungen keine Rede sein.
Beachtlich war die Resonanz auf die "66 Erwiderungen". Sie beruhte darauf, daß jeder einzelnen Antwort der Werbebroschüre für die Atomindustrie Richtigstellungen gegenübergestellt waren, die ausführlich mit Tatsachen, Information und Darstellungen von Zusammenhängen untermauert waren. Das brachte ihr erhebliche öffentliche Anerkennung und weite Verbreitung bei den Bürgerinitiativen ein. 1976 war bereits eine Auflage von 30 000 Stück erreicht. Später wurden insgesamt an 100 000 Exemplare verbreitet. Damit kam allein diese Broschüre - neben vielen anderen, die seit dieser Zeit von Bürgerinitiativen erarbeitet wurden - in ihrer öffentlichen Wirkung der der Propagandaschriften nahe.
Von der Bundesregierung wurde der Konflikt um Wyhl mit Mißfallen wahrgenommen. Für einen Fehler, der hätte vermieden werden sollen, hielt sie die Plumpheit des Vorgehens der baden-württembergischen Landesregierung gegenüber der Bevölkerung. In Reaktion darauf versuchte sie seit 1975, selbst aktiv in die öffentliche Diskussion einzugreifen. Der Bundesminister für Forschung und Technologie Matthöfer wurde beauftragt, Diskussions- und Seminarveranstaltungen zu organisieren, in denen Gegner und Befürworter der Atomenergie untereinander und mit der Bundesregierung ins Gespräch kommen sollten.
Auch dieses Unternehmen "Bürgerdialog Kernenergie" sollte "zu einem besseren Verständnis der Kernenergie und ihrer wichtigen Rolle in unserer künftigen Energieversorgung" beitragen. Dahinter stand die Erwartung, wenn die Bundesregierung sich als gesprächsbereit darstellte, könnte die Bevölkerung doch noch für die Atompolitik gewonnen werden.
Ein Beispiel für die Wirkung des "Bürgerdialogs" bietet eine Veranstaltung, die in einer Studie des Battelle-Instituts dokumentiert ist. Sie fand am 21. März 1976 in Darmstadt statt. Hier war Biblis nah, wo Block A seit Juli 1974 Strom lieferte, Block B nur wenige Tage nach dieser Veranstaltung in Betrieb gehen sollte und die Bauanträge für die Blöcke C und D vom RWE schon gestellt waren. Das Podium war besetzt mit Minister Matthöfer persönlich und einem Pressesprecher des Ministeriums, dem Direktor des AKW Biblis A und einem Vertreter des RWE. Außerdem waren zwei Vertreter des Bundesverbands Büergerinitiativen Umweltschutz BBU zugegen. Es hatten sich nicht nur besorgte Bürger eingefunden. Wohlvorbereitet war auch eine Gruppe von Studierenden vom Arbeitskreis Umwelt an der TH Darmstadt erschienen.
Zum Hauptthema machte das Publikum, wie kaum anders zu erwarten, die Probleme der Atomtechnik.
Gerade das zentrale Thema der Reaktorsicherheit, die mögliche Kernschmelzkatastrophe, konnte nicht erörtert werden. Der Minister fand dafür das Argument "Das dauert zu lange". Daraufhin wurde mit Nachdruck Offenlegung der Meßdaten und Katastrophenschutzpläne für Biblis gefordert, aus deren Inhalt sich Rückschlüsse ergeben hätten auf die erwarteten Gefährdungen. Auch dazu kamen zuerst ausweichende Antworten und schließlich Schweigen.
Weitere Probleme, die aus dem Publikum zur Diskussion gestellt wurden, bezogen sich auf den sogenannten Brennstoffkreislauf, also die Plutoniumgewinnung durch Wiederaufarbeitung der Brennelemente, die Möglichkeit des Atombombenbaus und das Fehlen der Endlagerung.
Auch die wirtschaftlichen Probleme wurden herausgestellt: Die staatliche Förderung des Exports von Atomanlagen, die Begrenztheit der Wirtschaftlichkeitsberechnungen für den Betrieb und die Subventionierung der Atomtechnik. Die Energiebedarfsprognosen der staatlichen Energiepolitik wurden in Frage gestellt. Verlangt wurde die staatliche Förderung von Energiesparmethoden und Sonnenenergietechniken als wirkungsvolle Alternative zur Atomtechnik.
Der Minister fand auch hier nur unbefriedigende oder gar keine Antworten.
Erklärungen forderte man dafür, welche Ziele die Bundesregierung mit den Veranstaltungen des "Bürgerdialogs" verfolgte.
Aus dem Publikum wies man darauf hin, daß im Planungs- und Genehmigungsprozeß die Beteiligung der Betroffenen und die Erörterung ihrer Einwendungen ausdrücklich vorgeschrieben ist. Ein solches Verfahren könne geeignet sein, eine offene Auseinandersetzung um die technischen Probleme und die möglichen Gefährdungen zu führen. Die Erfahrungen hatten allerdings gezeigt, daß gerade die Diskussion der schwerwiegenden Probleme, nämlich die um die Kernschmelzmöglichkeit, in diesem Verfahren durch die Praxis der Verhandlungsleitungen ausgeschlossen worden war.
Demgegenüber sei der "Bürgerdialog" eine Veranstaltung, die vom Beteiligungsverfahren völlig abgelöst sei und darauf keine Auswirkungen habe, während die Planung weiter ihren Gang nehme. Für die Planungsentscheidung für das einzelnen Atomkraftwerk könne der "Bürgerdialog" daher keine Legitimation vermitteln.
Bei einer demokratischen Auffassung vom Planungsprozeß müsse es auch möglich sein, daß die Betroffenen sich als Beteiligte erfolgreich mit ihren Interessen durchsetzen könnten. Dazu gehöre aber eine Verbesserung der Kommunikation in den Erörterungsterminen durch eine wenigstens annähernd dialogische Struktur. Wären diese Bedingungen gegeben, dann würde sich der "Bürgerdialog" schnell als überflüssig erweisen.
Wenn außerdem die Bundesregierung im Rahmen des "Bürgerdialogs" zu kaum einem relevanten energiepolitischen Thema, geschweige denn zu dem wichtigsten Sachbereich Erklärungen geben könne, könne sie auch die Motivation nicht verstärken, ihrer Politik mehr Vertrauen entgegenzubringen.
Zwar hatten sich auch die beiden BBU-Vertreter auf dem Podium nicht ganz glücklich verhalten. Es ließ sich aber nicht verhehlen, daß die mangelnde Bereitwilligkeit oder sogar Unfähigkeit des Ministers und der Atomindustrievertreter, sich den Forderungen aus dem Publikum zu stellen, als peinlich empfunden wurde. Gerade Menschen, die daran interessiert waren, sich an der politischen Auseinandersetzung zu beteiligen, mußte dieses Verhalten besonders verärgern.
Der politische Konflikt war offen zutage getreten.
Das konnte in der Battelle-Studie dem eigenen Auftraggeber BMFT gegenüber nur in abgeschwächter Form zum Ausdruck gebracht werden. Als Erklärung für das Mißlingen der Veranstaltung wich man aus auf das "Kommunikationsproblem als Problem der Komplexität". Bei dem Wechselspiel von aufeinander folgenden einzelnen Fragen aus dem Publikum und Antwort vom Podium würde entweder die Komplexität der Sachverhalte bis zur Unkenntlichkeit reduziert, oder es würden beim Versuch, durch Nachfragen und erneute Antwort die Komplexität zu erhalten, die Gesprächsregeln gesprengt.
So verdrängte man, was man selbst doch als so störend bemerkt hatte, daß es sich in den Formulierungen in der Studie deutlich widerspiegelt: In diesem politischen Konflikt hatte sich die Unfähigkeit der Bundesregierung erwiesen, die Interessen, die ihr aus der kritisch gewordenen Bevölkerung gegen die der Atomenergiebefürworter entgegengetragen wurden, anzuerkennen und auf sie in angemessener Weise zu reagieren.
Das RWE hat später nicht mehr gewagt, den Bau der AKWs Biblis C und D weiter zu verfolgen.
So sehr die Länderbehörden sich bemüht hatten, das Thema der schweren AKW-Unfälle in den Genehmigungsverfahren nicht noch einmal zum Tragen kommen zu lassen, und so sehr die Bundesregierung versuchte, es aus dem "Bürgerdialog" herauszuhalten, hatte es sich doch nicht verhindern lassen, daß es in der öffentlichen Auseinandersetzung zum Politikum wurde.
In einer Antwort der Bundesregierung vom 16. Juli 1975 auf eine Große Anfrage im Bundestag heißt es zu den Untersuchungsmöglichkeiten der außerordentlichen Gefahren: "Mit der in der letzten Zeit viel zitierten, im Auftrag der amerikanischen Atomenergiebehörde erstellten Rasmussen-Studie ist erstmals der Versuch unternommen worden, in umfassender Weise das durch Störfelder an technischen Anlagen bedingte Risiko zu quantifizieren. Die Anwendung quantitativer Risikoerwägungen zur Beurteilung der nach dem Atomgesetz erforderlichen Schadensvorsorge würde eine von der gegenwärtig praktizierten Beurteilungsmethode der Genehmigungsbehörden und der von ihnen herangezogenen Sachverständigen abweichende, ganz neue Logik einführen. Dazu ist die Methode jedoch bei weitem noch nicht ausreichend entwickelt.
Obwohl also derzeit keine Möglichkeit, aber auch keine Notwendigkeit besteht, Genehmigungsentscheidungen maßgebend auf Risikoentscheidungen abzustützen, bemüht sich die Bundesregierung um die Schaffung der Voraussetzung für qualitative Risikovergleiche und -bewertungen. Sie sucht damit neue Formen der Darstellung und der Verständigung über den komplexen Prozeß der erforderlichen Güterabwägung."
Die damals praktizierte Beurteilungsmethode entsprach weitgehend der des Projekts Nukleare Sicherheit PNS, bei der als Verbesserung der Sicherheit eher die Erhöhung der Betriebszuverlässigkeit verstanden wurde. Diese Herangehensweise oder Methode, mit der technische Lösungen herbeigeführt werden sollen, auf englisch determined, bezeichnet man auch als "deterministisch".
Im Oktober 1975 wurde in den USA der Abschlußbericht von WASH-1400, des sogenannten Rasmussen-Reports, veröffentlicht. Das blieb in der Öffentlichkeit der Bundesrepublik nicht ohne Wirkung.
Mit der Studie WASH- 1400 war zum erstenmal versucht worden, nicht nur mögliche Abläufe von Kernschmelzunfällen darzustellen, sondern auch die statistische Wahrscheinlichkeit ihres Eintretens zu berechnen. Diese Art von Untersuchungen nennt man im Unterschied zur deterministischen nach der englischen Bezeichnung für Wahrscheinlichkeit probability die "probabilistische" Methode.
In WASH-1400 war als Unfall mit Kernschmelzen ein Ablauf beschrieben worden, bei dem es nach einem Bruch einer Primärkreisrohrleitung und dem Ausfall des Notkühlsystems schnell zum Verlust des Kühlmittels aus dem Reaktordruckbehälter und zum Schmelzen des Kerns kommen würde. Die Schmelzmasse werde den Reaktordruckbehälter und das Betonfundament des Reaktorgebäudes durchdringen und bis ins Grundwasser gelangen. Da der Sicherheitsbehälter dabei nicht zerstört werde, seien die Auswirkungen auf die Umgebung relativ gering. Die Zahlenangaben, die schon im Entwurf genannt worden ware, wurden nun bestätigt. Mit der Möglichkeit eines solchen Unfalls müsse einmal in 17 000 Reaktorbetriebsjahren gerechnet werden. Bezogen auf die geplante Betriebsdauer von ungefähr 40 Jahren bedeutete das für ein einzelnes Atomkraftwerk eine Eintrittswahrscheinlichkeit von einmal in etwas mehr als 400 Jahren. Auf die Zahl der bereits gebauten und zu jener Zeit in der Bundesrepublik noch geplanten insgesamt etwa 45 Anlagen verteilt hieß das: durchschnittlich alle zehn Jahre ein Unfall dieser Art.
Ein schwerer Unfall, bei dem große Mengen von Radioaktivität in die Umgebung gelangen und weite Landstriche verwüsten würden, sei mit der Wahrscheinlichkeit von annähernd einmal in 10 Millionen Reaktorbetriebsjahren (als Zahlenformel 1x10-7 oder 1:107) anzunehmen. Dieser Wert gab eine um das Hundertfache größere Häufigkeit an als die für die Bundesrepublik bis dahin genannten Zahlen, die im übrigen keine Berechnungsergebnisse, sondern nur subjektive Schätzwerte gewesen waren. Die bisherigen Angaben der Atomenergiebefürworter über die Sicherheit der Atomkraftwerke konnten auf einmal wirksam angezweifelt werden.
Es kam hinzu, daß man bisher in technischer Hinsicht mit dem Bersten des Reaktordruckgefäßes durch Überdruck vor allem mit einem Problem argumentiert hatte, das auch bei anderen technischen Anlagen berücksichtigt werden muß. Mit der Darstellung des Kernschmelzprozesses im Rasmussen-Report trat nun ein Unfallgeschehen in den Vordergrund der Auseinandersetzung, das sich ganz speziell aus dem Aufbau der Atomkraftwerke ergibt: Kein Atomkraftwerk ohne die Funktion der Energieübertragung aus dem Reaktorkern zu Turbine und Generator durch den Kühlkreislauf, kein Atomkraftwerk ohne Nachzerfallswärmeleistung des Kerns nach der Abschaltung, daher wäre das Versagen jeglicher Kühlung die Ursache für ein katastrophales Geschehen!
Zusammen mit dem Endbericht von WASH-1400 war zugleich auch die Kritik amerikanischer Wissenschaftler daran veröffentlicht worden. Geäußert hatte sich nicht nur die Union of Concerned Scientists, ein Zusammenschluß von Wissenschaftlern, die sich für die politischen Folgen wissenschaftlicher Arbeit interessierten, sondern auch Vertreter von Institutionen wie der NASA und des Verteidigungsministeriums. Sie stimmten weitgehend darin überein, daß die für WASH-1400 gewählte Methode zwar hilfreich sei, um bei der Planung so komplexer Anlagen, wie es Atomkraftwerke sind, Schwachstellen zu finden und Verbesserungen anbringen zu können. Jedoch wurde als wichtiger Mangel bezeichnet, daß nur eine bestimmte Art von Unfallabläufen betrachtet wurde, nämlich die, die in ihren Einzelschritten beschrieben und in Modellrechnungen umgesetzt werden konnten. Demgegenüber muß man damit rechnen, daß das Zusammenwirken von nicht beachteten, aber technisch möglichen Fehlern einen großen Einfluß auf die Häufigkeit von Unfallereignissen hat. Diese Auslassungen und Unvollständigkeiten führen dazu, daß die Gefährdung unterschätzt wird. Zur Bestimmung von absoluten Zahlenwerten für die statistische Häufigkeit sehr seltener Ereignisse sei die Methode daher nicht geeignet. Das Eintreten von Kernschmelzen müsse weit häufiger angenommen werden als in WASH-1400 errechnet. Nur die Bearbeiter des Rasmussen-Reports selbst waren nicht bereit, auf diese gewichtigen Zweifel an der von ihnen verwendeten Methode einzugehen. Die Kritik wurde nun auch von den atomkritischen Wissenschaftlern in der Bundesrepublik vorgetragen.
Die Diskussionen um den Rasmussen-Report in der Öffentlichkeit wurden zur politischen Herausforderung gegenüber der Bundesregierung. Sie konnte darauf nur reagieren mit der Zusage, selbst eine Studie über Kernschmelzmöglichkeiten in den deutschen Atomkraftwerken und ihre Eintrittswahrscheinlichkeiten erarbeiten zu lassen.
Den Auftrag für die Deutsche Risikostudie Kernkraftwerke erteilte das BMFT der Gesellschaft für Reaktorsicherheit (GRS).
Um die Arbeiten nicht völlig im luftleeren Raum durchführen zu müssen, wurde als Referenzanlage für die Untersuchungen das 1300-MW-Atomkraftwerk Biblis B ausgewählt, das gerade erst in Betrieb gegangen war.
Seit Frühjahr 1976 wurde an der Deutschen Risikostudie Kernkraftwerke (DRS) gearbeitet.
Die GRS hielt sich dabei eng an die Methodik von WASH-1400, ohne die Kritik daran zu berücksichtigen. Sie stimmte darin mit dem auftraggebenden Ministerium überein, das in einer für die Öffentlichkeitsarbeit bestimmten Broschüre noch 1977 zum Rasmussen-Report verlauten ließ: "Die Vorgehensweise der Risikoanalyse und die dabei verwendeten Methoden erscheinen sinnvoll".
Im selben Zusammenhang begründete das BMFT auch, warum für die Bundesrepublik eine eigene Analyse erforderlich sei: Standortbedingungen wie Wetterbedingungen, Bevölkerungsdichte und Evakuierungsmaßnahmen wirken sich stark darauf aus, wie groß der gefährdete Bevölkerungsanteil ist, sie haben daher auf das ermittelte Gesamtrisiko einen großen Einfluß. Für die Bundesrepublik bedeutet dies gegenüber den Ergebnissen von WASH-1400 eine Erhöhung des Risikos. Dem wurde aber sogleich gegenübergestellt, daß die in WASH-1400 zugrundegelegten Reaktoren sich in ihrem Anlagenkonzept von deutschen Anlagen unterschieden. Sicherheitssysteme deutscher Anlagen seien, weil später entwickelt, "allgemein höherwertig". Die Berücksichtigung solcher Unterschiede müsse der entsprechenden deutschen Risikoanalyse vorbehalten bleiben.
Bisher sei das Risiko durch Berücksichtigung von Sicherheitszuschlägen überschätzt worden. Dies müsse bei realistischen Aussagen über Ablauf, Auswirkungen und Wahrscheinlichkeit der Störfälle bis hin zu den Sach- und Personenschäden vermieden werden.
Man meinte, versprechen zu können, daß sich mit dieser Studie erweisen würde, daß die Sicherheit der deutschen AKWs weit besser sei als die Ergebnisse des Rasmussen-Reports. Das Ministerium äußerte die Erwartung, die Auseinandersetzung um die Zumutbarkeit der verbleibenden Risiken könnte durch diese Arbeiten sachlich besser begründet werden.
Das BMFT gab sich also alle Mühe, das Ergebnis der DRS schon im Vornherein so darzustellen, als seien die Gefährdungen durch die deutschen Atomkraftwerke noch weit geringer als die der amerikanischen. Zugleich warf es mit den Sicherheitszuschlägen einen wichtigen Grundsatz aller technischen Planung über Bord, und das ausgerechnet bei der Atomtechnik, deren Gefährdungspotential das anderer Techniken bei weitem übersteigt.
Inzwischen hatten sich an vielen anderen Standorten Menschen zu Bürgerinitiativen zusammengeschlossen, die sich, ermutigt durch das Beispiel der Badisch- Elsässischen Bürgerinitiativen mit ihrem ersten Erfolg gegen das AKW Wyhl, mit Entschiedenheit gegen den Bau von Atomanlagen wehrten. Auch andere Anlagen, die für die Atomenergienutzung geplant wurden, kamen in den Blick. Im Winter und Frühjahr 1975 und 1976 waren in Niedersachsen nacheinander bei Wippingen im Hümmling, bei Unterlüß in der Lüneburger Heide und im Lichtenmoor bei Nienburg drei Standorte ausgewählt worden, die für eine Wiederaufarbeitungsanlage und ein damit verbundenes Endlager in einem Salzstock in Frage kamen. An allen drei Orten bildeten sich spontan große Bürgerinitiativen. Überall konnte die bäuerliche Bevölkerung schon die Vorarbeiten für die Anlage mit Blockaden verhindern.
Bei Esenshamm an der Unterweser war mit dem Bau des Atomkraftwerks 1970 schon vor der Erteilung der ersten Teilgenehmigung begonnen worden. Erst 1972 wurde die Genehmigung unter Auflagen erteilt. Um eine zu große Erwärmung des Weserwassers zu vermeiden, wurde der Bau von Kühltürmen gefordert. Im Sommer 1976 war das AKW betriebsbereit, die Kühltürme jedoch nicht errichtet. Da gelang es mit Unterstützung eines Bündnisses regionaler Gruppen und der Gruppe von Bremer Wissenschaftlern einem Fischer als Kläger, im September 1976 vor Gericht die Aufhebung einer wasserrechtlichen Genehmigung zu erwirken. Das wurde als großer Erfolg betrachtet. Das AKW konnte erst 1978 in Betrieb gehen. Allerdings ist es bis heute ohne Kühltürme geblieben.
Mehr und mehr interessierten sich auch städtische Gruppen aus ganz Norddeutschland für die Aktionen der Bürgerinitiativen an den Standorten. Überall fanden sich Menschen aus den verschiedensten Berufen und sozialen Schichten zusammen. Die von ihnen vertretenen Vorstellungen reichten nun von eher konservativem Umweltschutz über liberale und sozialdemokratische Positionen bis zu gesellschaftskritischen Ideen, die vorwiegend in der Studentenbewegung und in der außerparlamentarischen Opposition entwickelt worden waren.
Die Atomgegner hatten mit den Platzbesetzungs- oder Blockadeaktionen nicht nur neue praktisch wirksame Verhinderungsmittel hinzugewonnen. Von großer Bedeutung war auch die Aufmerksamkeit einer breiteren Öffentlichkeit, die inzwischen erzielt werden konnte. Das stärkte auch das Durchsetzungsvermögen und die Konfliktfähigkeit der Kritiker in den Erörterungsterminen, vor Gericht und auf den von der Regierung veranstalteten öffentlichen Hearings des "Bürgerdialogs".
Die Hoffnung in die Überzeugungskraft kritischer Argumente wuchs und ermutigte viele Atomkraftgegner.
Bis Mitte des Jahres 1976 waren dennoch außer den ersten fünf Atomkraftwerken vier weitere in Betrieb gegangen: die beiden 1300 MW-Anlagen Biblis A und B, Brunsbüttel und Neckarwestheim 1. Unterweser/Esenshamm als dritte 1300 MW-Anlage war betriebsbereit. Für zwölf Anlagen (Wyhl noch mitgerechnet) lag die erste Teilerrichtungsgenehmigung vor, für vierzehn war sie beantragt. Die Politik der Bundesregierung zum Ausbau der Atomenergie, wie sie im Atomprogramm von 1973 festgelegt war, begann eben erst wirksam zu werden.
Seit dem Herbst 1976 wurde von den politisch Verantwortlichen in Bund und Ländern der Konflikt um den Bau von Atomkraftwerken massiv verschärft. Das begann mit den Geschehnissen um das Atomkraftwerk Brokdorf, das in der Elbmarsch 50 km elbabwärts von Hamburg gebaut werden sollte.
Erst im November 1973 war öffentlich bekannt geworden, daß in Brokdorf Planungen für den Bau eines AKW schon seit vier Jahren betrieben worden waren. Wenige Tage später waren die Bürgerinitiativen Umweltschutz Unterelbe BUU initiiert worden, die viele einzelne Gruppen in den benachbarten Orten und in Hamburg bildeten. Sie hatten sich zum Ziel gesetzt, sich auf die juristisch möglichen Schritte vorzubereiten, um den Bau des AKW zu verhindern.
Im August 1974 wurde der Bauantrag gestellt. Als der im November 1974 angesetzte atomrechtliche Erörterungstermin von der zuständigen Landesbehörde abgebrochen wurde, ohne daß alle offenen Fragen beantwortet waren, wuchs bei den Initiativen der BUU erstes Mißtrauen.
Im Februar 1975 wurde die erfolgreiche Besetzung des Bauplatzes in Wyhl bekannt. Nun verständigten sich die Gruppen der BUU, auch in Brokdorf den Bauplatz zu besetzen, wenn gerichtliche Schritte gegen das AKW zur Verhinderung nicht ausreichen sollten.
Ein wasserrechtlicher Erörterungstermin war auf den 8.März 1976 festgesetzt. Darauf hatten sich Mitglieder der BUU und Wissenschaftler aus Bremen und Hamburg gemeinsam vorbereitet. Eine Grundlage ihrer Diskussionen waren die "66 Erwiderungen" der Projektgruppe SAIU. Auch hier reichte das bloße Universitätsbücherwissen nicht aus. Gemeinsam diskutierte man intensiv über Reaktorphysik, den Charakter statistischer Aussagen, die Sicherheit großtechnischer Anlagen, die Folgen der radioaktiven Strahlung und das Zustandekommen von Grenzwerten. Man bereitete sich darauf vor, die Auswirkungen des AKW-Betriebs auf die Elbfischerei zu thematisieren. Darüber hinaus konnte man hier in der Wilster Marsch, wo die Milchviehhaltung die wirtschaftliche Grundlage bildete, die Gefährdungen aus schwerwiegenden Reaktorunfällen direkt mit wasserbautechnischen und wasserrechtlichen Fragen verbinden.
Noch war die Hoffnung groß, letztendlich würden sich die besseren Argumente durchsetzen lassen.
Das Tagungsgebäude für den Erörterungstermin in Wilster fanden die Einwender von 300 Polizisten abgesperrt vor, die mit Kampfhelmen ausgerüstet waren und Hunde mitführten. Wegen dieser Drohgestik zur Rede gestellt, ließ ein Polizeioffizier die Bemerkung fallen: "Es wird kein zweites Wyhl geben".
Zum ersten Mal deutete sich an, daß die schleswig-holsteinische Landesregierung unter dem CDU-Ministerpräsidenten Stoltenberg eine Strategie verfolgte, mit der eine Wiederholung des Geschehens um Wyhl verhindert werden sollte.
Der Versuch, die Gefährdung von Umwelt und Bevölkerung durch schwere Unfälle in die Erörterung einzubringen, wurde von der Verhandlungsleitung durch Abbruch des Termins verhindert. Was im Erörterungstermin nicht eingewendet ist, kann in einem späteren Gerichtsverfahren nicht als Begründung für eine Klage verwendet werden.
Trotzdem hatten die Bürgerinitiativen der BUU erreicht, daß Zeitungen, Rundfunk und Fernsehen ausführlich über die Erörterung berichteten. Einer größeren Öffentlichkeit konnten dadurch sowohl das Vorgehen der Landesregierung und der Atomindustrie gegen die Einwender wie die gegen das AKW eingewendeten Kritikpunkte bekannt gemacht werden.
Im September 1976 kamen in der Wilster Marsch erste Gerüchte auf, sofort nach Erteilung der ersten Teilerrichtungsgenehmigung würde mit den Bauarbeiten begonnen werden.
Die Genehmigung für das AKW Brokdorf wurde am 25. Oktober 1976 abends nach Dienstschluß vom zuständigen Sozialministerium in Kiel erteilt und für sofort vollziehbar erklärt. Mitten in derselben Nacht besetzten Kolonnen von Baufahrzeugen und
schwerausgerüsteter Polizei in einer Nacht- und Nebelaktion den Bauplatz. Der Platz wurde sofort mit Natodraht umzäunt. In wenigen Stunden wurden auf dem Baugelände Unterkünfte für Bauarbeiter, Scheinwerferanlagen, Hundezwinger und eine Polizeibefehlsstelle mit Funkstation aufgebaut.
Ehe noch irgend jemand mit Widerspruch und Klage von den gesetzlichen Möglichkeiten des Rechtsstaats gegen die Genehmigung Gebrauch machen konnte, war das Baugelände in einer Blitzaktion unter eine besondere Art des staatlichen Schutzes gestellt worden.
Mit ersten Bauarbeiten wurde sofort begonnen. Damit wurden bereits Tatsachen geschaffen, durch die den Klägern der Widerspruch gegen die Genehmigung erheblich erschwert wurde.
Die Bevölkerung sah sich überfallen und betrogen.
Sofort riefen die Bürgerinitiativen der BUU dazu auf, am 30. Oktober den Bauplatz zu besetzen. Ungefähr 8000 AKW-Gegner, zum Teil von weither angereist, beteiligten sich an dieser Aktion. Etwa 2000 Menschen gelang es, auf den Bauplatz zu kommen. Zuerst erreichten die Demonstranten eine Zusicherung der örtlichen Polizeileitung, daß sie die Nacht über auf dem Platz bleiben könnten. Welche Überraschung, als um acht Uhr abends, als es schon dunkel war, aus dem Innenministerium in Kiel Befehl zur polizeilichen Räumung kam! Es begann ein Polizeieinsatz von zuvor unvorstellbarer Brutalität. Mit dem Gebrauch von Schlagstöcken, Wasserwerfern, Chemical Mace und mit rücksichtslosem Einsatz von Pferden waren eine Stunde später die letzten Demonstranten vom Platz geprügelt. Noch die Flüchtenden wurden mit Überfällen verfolgt.
Selbst Menschen, die sich sonst für eher friedfertig hielten, setzte das in hellen Zorn. Zum Protest fanden sich schon am nächsten Tag mehr als 3000 Menschen zu einem Schweigemarsch nach Brokdorf ein.
Gleichzeitig riefen die Bürgerinitiativen für den 13. November 1976 zu einer weiteren Demonstration am Baugelände auf.
Am 13. November 1976 hatte die Polizei an den Straßen nach Brokdorf schon in 10 km Entfernung Straßensperren errichtet. Nach Schätzungen des Bundesgrenzschutzes gelang es dennoch 45 000 Demonstranten, zur Großkundgebung am Baugelände zu kommen.
Schon während der Kundgebung begannen Angriffe auf die Demonstranten. Aus Hubschraubern wurden Rauch- und Tränengasbomben geworfen und vom Bauplatz aus Wasserwerfer mit chemischen Reizmitteln eingesetzt. Trotzdem gelang es Tausenden, an vielen Stellen Graben und Natodraht zu überwinden.
Als gegen Abend erkennbar wurde, daß eine dauerhafte Platzbesetzung nicht gelingen konnte, zogen sich die Demonstranten zurück. Aber nun kam es in der abendlichen Dunkelheit zu Angriffen von Polizei und Bundesgrenzschutz, die nur noch als Racheakte verstanden werden konnten. Menschen wurden zusammengeschlagen, andere ohne Anlaß verhaftet, schon weit entfernte Gruppen aus Hubschraubern überfallen.
Da brach allgemeine Empörung aus.
Es gab massenhaften Protest aus allen Teilen der Bundesrepublik. Er kam zum Ausdruck in einer großen Zahl von Solidaritätserklärungen vieler anderer gesellschaftlich aktiver Gruppen an die Bürgerinitiativen der BUU. In vielen Städten gründeten sich neue Anti-AKW-Initiativen.
Dieses entschiedene Auftreten der Bevölkerung blieb nicht ohne Eindruck auf die Öffentlichkeit. Zwar setzte die Landesregierung in einer Landtagssitzung am 23. November 1976 einen Beschluß durch, den Bau des AKW in Brokdorf fortzusetzen. Sie erhielt aber nur die Stimmen der CDU. Die Vertreter der FDP stimmten dagegen, die der SPD enthielten sich der Stimme.
Am 25. November 1976 erhoben mehrere Einzelpersonen und Gemeinden Klage beim Verwaltungsgericht in Schleswig gegen die Erteilung der 1. Teilerrichtungsgenehmigung (TEG) für das AKW Brokdorf und beantragten die Aufhebung der sofortigen Vollziehbarkeit der Genehmigung. Das Gericht beschloß, über diesen Antrag noch vor Weihnachten zu entscheiden. Zugleich forderte es die Landesregierung auf, gemäß der üblichen Praxis bis zur gerichtlichen Entscheidung von sich aus einen Baustop anzuordnen.
Die Landesregierung ging darauf nicht ein. In Brokdorf wurden die Bauarbeiten mit der Aufspülung und Erhöhung des Baugeländes fortgesetzt.
Mit Beschluß vom 15. Dezember 1976 stellte das Verwaltungsgericht die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die 1. TEG wieder her und ordnete damit einen vorläufigen Baustop an. Die mündliche Verhandlung zur endgültigen Entscheidung wurde auf Anfang Februar 1977 festgesetzt.
Schon Anfang Dezember 1976 hatten die BUU erklärt, im Februar 1977 würden sie am Bauplatz unabhängig von der Entscheidung des Gerichts wieder eine Großkundgebung veranstalten. Bald einigten sie sich darauf, daß sie am 19. Februar in Brokdorf am Bauplatz stattfinden sollte.
Charakteristisch dafür, wie verschiedene politische Akteure in dieser Zeit in die Auseinandersetzung eingriffen, sind Pressemitteilungen aus jener Zeit.
Am Tag vor der Novemberdemonstration hatte die Bildzeitung einen Artikel veröffentlicht, in dem sie einen der bekannten Vertreter der Bürgerinitiativen ohne weiteren Anhaltspunkt als den Aufruf zu der Demonstration als Terroristen verdächtigte.
Seit dem Dezember nahmen die Massenmedien dieses Thema auf und verdächtigten alle, die an der Demonstration in Brokdorf teilnehmen würden, als "Kriminelle und Gewalttäter".
Am 19. Januar 1977 meldete dpa einerseits: "Die wachsende Zahl von Bürgerinitiativen gegen die Einrichtung von Atommüll-Anlagen und den Bau von Kernkraftwerken hat auch innerhalb der Parteien zu einer skeptischen Beurteilung eines forcierten Kernenergie-Programms geführt. So haben die Vorsitzenden der FDP- Fraktionen in Bund und Ländern eine Reduzierung des Kernenergie-Anteils gefordert. Die Hamburger SPD hat ihr Ja zum Kernkraftwerksbau zurückgenommen." Dagegen wurde die schleswig-holsteinische Landesregierung in derselben Agenturmeldung mit einer Verlautbarung zitiert, es gebe polizeiliche Erkenntnisse, daß "Terror gegen Brokdorf droht".
Abbildung 2: Demonstration gegen das AKW Brokdorf am 13. November 1976
Einige Tage später wurde die Landesregierung noch massiver. Sie behauptete, von linksextremistischen Gruppen seien für den 19. Februar Gewaltaktionen gegen die Baustelle in Brokdorf angekündigt worden. Es gebe Hinweise darauf, daß sie von der DDR-Administration mit Finanzierungsmitteln zur Infiltration von Bürgerinitiativen unterstützt würden, sie habe daher umfangreiche Sicherheitsvorkehrungen eingeleitet und appelliere an alle demokratischen Bürger, wegen des beabsichtigten Mißbrauchs zu bürgerkriegsähnlichen Ausschreitungen durch Extremisten keine Demonstrationen am Baugelände durchzuführen.
Am 9. Februar bestätigte das Verwaltungsgericht in Schleswig die einstweilige Verfügung zur Aufhebung der sofortigen Vollziehbarkeit der 1.TEG. Damit war der Baustop erst einmal erreicht. Die Baufahrzeuge mußten von der Baustelle abgezogen werden.
Einige Politiker forderten nun, die Zeit nach dem Baustop zu einer Denkpause zu nutzen, um erst später zu entscheiden.
In den Bürgerinitiativen gab es manche, die wieder hofften, vom Recht nicht im Stich gelassen zu werden. Andere erkannten zwar den Baustop als Teilerfolg an, sahen sich aber nicht beruhigt. Es wurde bekannt, daß für den 19. Februar Polizeieinheiten und Bundesgrenzschutz aus dem ganzen Bundesgebiet zusammengezogen wurden.
Die in den Medien verbreiteten Diffamierungen blieben nicht ohne Wirkung. Einige Verbandsvertreter begannen, mit einigen der regionalen Bürgerinitiativen zum 19. Februar eine Veranstaltung in Itzehoe vorzubereiten, um sich von vornherein nicht auf eine Auseinandersetzung mit der Polizei einzulassen.
Die anderen Gruppen der BUU wollten sich trotz der Machtdrohungen und Einschüchterungen das politische Recht zur Demonstration nicht beschränken lassen und hielten deshalb am Demonstrationsort, in Brokdorf am Bauplatz, fest. In aller Öffentlichkeit diskutierten sie, daß sie auch diesmal eine Bauplatzbesetzung versuchen wollten. Sie erkannten gerade das massive Polizeiaufgebot trotz der Unterbrechung der Bauarbeiten als ein Anzeichen dafür, daß mehr auf dem Spiel stand als nur das eine Atomkraftwerk in Brokdorf. Regierungen und Atomindustrie wollten eine Entscheidung zur weiteren Durchsetzung des Atomprogramms erzwingen. Auch diese Gruppen erklärten: "Wir suchen keine Konfrontation mit der Polizei - wir wollen das AKW verhindern! Wenn es zu Auseinandersetzungen kommen sollte, geht die Gewalt nicht von uns aus, sondern von der Regierung und der Atomindustrie, die gegen den erklärten Willen der Bevölkerung das AKW bauen wollen."
Am 19. Februar 1977 war das Gebiet der Wilster Marsch weiträumig von Polizei abgeriegelt. Etwa 20000 Personen versuchten trotzdem, zum Bauplatz in Brokdorf zu gelangen. Von Wilster aus, das etwa 8 km von Brokdorf entfernt ist, begannen sie geschlossen ihren Marsch. Um sich auf keinen Fall in eine gewalttätige Auseinandersetzung mit der Polizei hineinzwingen zu lassen, gaben sie das Ziel der Platzbesetzung auf. Eine Kundgebung fand auf einer Wiese vor dem Bauplatz statt. Zu den von Medien, Politikern und Polizei immer wieder heraufbeschworenen gewaltsamen Aktionen kam es nicht. Es gelang den Kundgebungsteilnehmern vielmehr, trotz Provokationen der Polizei eine neue "Schlacht" zu verhindern. Doch wurde abends in Wilster noch eine kleine Gruppe von Demonstranten von Polizei überfallen.
Mit dieser Aktion vor dem Baugelände hatten die an dieser Kundgebung Beteiligten ihr Recht durchgesetzt, an dem Ort zu demonstrieren, für den sie sich selbst entschieden hatten, und dadurch ihrer Ablehnung der Atomenergiebeschlüsse der Bundesregierung zu besonderem politischem Gewicht verholfen.
An der Demonstration, die am selben Tag in Itzehoe stattfand, nahmen etwa 25 000 Menschen teil. Zu den Kundgebungsrednern gehörte auch Robert Jungk. Er hielt eine vielbeachtete Rede über den Atomstaat. An Beispielen machte er deutlich, daß die Plutoniumwirtschaft mit Schnellbrütertechnologie und Wiederaufarbeitungsanlagen zu Freiheitsbeschränkungen in vielen gesellschaftlichen Bereichen führen werde. Wissenschaftler, die im Atombereich arbeiteten, seien, teils mehr teils weniger freiwillig, nicht bereit, ihre Kenntnisse öffentlich zu vertreten. Überwachungsmaßnahmen durch staatliche Institutionen würden in großem Umfang ausgebaut werden müssen. Eine freie Ausübung von Bürgerrechten werde dadurch stark behindert oder fast unmöglich gemacht. Sein Buch darüber wurde im Oktober 1977 veröffentlicht. Nach den Erfahrungen, die die Anti-Atom-Bürgerinitiativen nun gemacht hatten, wurde es schnell überall populär.
Wie als Bestätigung der Thesen Jungks wurde wenige Tage später bekannt, daß im Privathaus des Ingenieurs Klaus Traube - damals Geschäftsführer bei Interatom, des Siemens-Unternehmenszweiges, von dem der Schnelle Brüter in Kalkar geplant und gebaut wurde - illegal Abhörgeräte installiert worden waren. Einen Verdacht gegen den Manager hatte man daraus abgeleitet, er habe ein Matratzenlager eingerichtet. Tatsache war, daß er öfter Übernachtungsbesuch von jungen Leuten hatte. Das hatte genügt, ihn der Beziehungen zu Terroristen zu verdächtigen. Diese Affäre wurde zu einem politischen Skandal.
Die Anti-AKW-Bewegung hatte zu diesem Zeitpunkt einen mehrfachen Erfolg erreicht: Den vorläufigen Baustop für das AKW in Brokdorf, eine verstärkte öffentliche Diskussion um die Möglichkeit schwerer AKW-Unfälle und verbreitete Kritik an dem Vorgehen von Bundes- und Landesregierung gegen die Wahrung des Demonstrationsrechts.
Immer mehr Menschen waren davon überzeugt, daß Bau und Betrieb von Atomkraftwerken verhindert werden müssen, weil die lebensbedrohenden Gefahren, die von ihnen ausgehen, nicht hingenommen werden können. Sie hielten es weder für nötig noch für vertretbar, geduldig die weitere wissenschaftliche Entwicklung abzuwarten. Das wurde der Hauptantrieb, wenn sie sich entschlossen, sich trotz Diffamierungen und Polizeidrohungen an Demonstrationen zu beteiligen.
Aber zugleich war in den Bürgerinitiativen das Bedürfnis groß, sich mit der Spaltung auseinanderzusetzen, die mit den zwei Demonstrationen am selben Tag an verschiedenen Orten und mit unterschiedlichen Herangehensweisen zu einer bitteren Erfahrung geworden war.
Im Lauf des Jahres 1977 spitzten sich die Auseinandersetzungen zwischen staatlicher Gewalt und Demonstranten noch weiter zu. Die Bürgerinitiativen der Anti-AKW-Bewegung mußten sich intensiv damit auseinandersetzen. Das blieb auch nicht ohne Folgen dafür, wie technisch-wissenschaftliche und rechtliche Probleme der Atomtechnik im Zusammenhang mit der Atompolitik der Bundesregierung in der Öffentlichkeit diskutiert werden konnten. Deshalb wollen wir auf diese Ereignisse auch noch kurz eingehen.
Unter dem Druck der örtlichen Bevölkerung hatte die CDU-geführte niedersächsische Landesregierung unter Ernst Albrecht die drei ersten Standorte für das geplante Nukleare Entsorgungszentrum NEZ aufgeben müssen. Noch am 18. Oktober 1976 hatte der Bundesinnenminister Maihofer in einer Fernsehsendung versichert, daß keine neue Baugenehmigung für ein AKW ausgesprochen werde, solange es noch offene Fragen bei der Wiederaufarbeitung und Endlagerung von Atommüll gebe. Trotzdem war es zur Erteilung der 1. Teilerrichtungsgenehmigung für Brokdorf gekommen. Die Bundesregierung, die mehr und mehr auch von der Seite der Atommüllentsorgung unter Druck geriet, drängte die niedersächsische Landesregierung zu einer Entscheidung. Am 22. Februar 1977 benannte Ministerpräsident Ernst Albrecht gegen den Willen der Bundesregierung, die die ursprünglichen Standorte aus technischen Gründen für geeigneter hielt, Gorleben im Landkreis Lüchow-Dannenberg als neuen Standort für das "Nukleare Entsorgungszentrum". Er hoffte dort auf ruhigere Verhältnisse und geringere Probleme mit der Bevölkerung.
Der Bundesregierung genügte erst einmal, ihr der Öffentlichkeit gegebenes Versprechen vom Herbst 1976 eingelöst zu haben.
In denselben Tagen fanden zwei Gerichtsverhandlungen statt, in denen die Richter sich mit der Notwendigkeit eines Berstschutzes um den Reaktordruckbehälter befaßten.
Das Verwaltungsgericht Freiburg hob nach einer vierzehntägigen Mammutverhandlung mit mehr als fünfzig Sachverständigen die 1. Teilerrichtungsgenehmigung für das AKW Wyhl als rechtswidrig auf. Die Richter waren von den Sachverständigen nicht davon überzeugt worden, daß das Bersten des Reaktordruckbehälters vernachlässigt werden kann.
Sie hatten eine Anregung aus dem Urteil des VHG Mannheim vom 8. Oktober 1975 aufgegriffen, die Risikobeurteilung müsse sich nach dem Ausmaß des denkbaren Schadens und der Wahrscheinlichkeit seines Eintritts richten und näher aufgeklärt werden.
Das Verwaltungsgericht Freiburg hatte bei der Prüfung, ob die Sicherheit des geplanten Reaktors der im Gesetz genannten 'erforderlichen Vorsorge' gegen Schäden entspricht, auch untersucht, ob Evakuierungsmaßnahmen greifen würden, hatte Folgenberechnungen vorgenommen und berücksichtigt, daß Strahlenbelastungen sich noch in Zeiträumen von 30 Jahren auswirken können und genetische Schäden nach sich ziehen könnten. Dadurch unterscheide sich ein Unfall in einem Atomkraftwerk von einem konventionellen Industrieunfall.
Selbst wenn derartige Unfallabläufe äußerst unwahrscheinlich seien, so erschienen dem Verwaltungsgericht Freiburg die Folgen derart ungeheuerlich, daß man eine solche nationale Katastrophe nicht als sog. "Restrisiko" qualifizieren und nicht bei der Genehmigung aus der Betrachtung ausschließen könnte. Ein Atomkraftwerk sei nur genehmigungsfähig, wenn der Reaktordruckbehälter und die anschließenden Rohrleitungssysteme mit einer Betonummantelung als Berstschutz umgeben würden.
Für notwendig gehalten wurde auch eine Neufassung des Atomgesetzes, um die Toleranzgrenzen für das "Restrisiko" schärfer zu ziehen.
Bei Politikern und der betroffenen Industrie löste dieses Urteil größte Beunruhigung aus. Nicht nur würden die geforderten Baumaßnahmen zu einer erheblichen Verteuerung führen. Es konnte bedeuten, daß alle in der Bundesrepublik gebauten oder im Bau befindlichen oder geplanten Reaktoren desselben Typs neu geplant und neu genehmigt werden mußten - was Jahre dauern konnte.
Wenige Tage nach dem Urteil von Freiburg gab die Reaktorsicherheitskommission RSK eine Stellungnahme ab, in der sie frühere Aussagen abschließend zusammenfaßte. Vorsorge gegen das Bersten des Reaktordruckbehälters sei zwar erforderlich, die RSK könne aber die Meinung nicht teilen, daß dies nur durch den Bau einer Berstsicherung geschehen könne, sie sehe dafür auch andere Möglichkeiten.
Das Verwaltungsgericht Würzburg fand diese Aussage des Beratergremiums der Bundesregierung einleuchtend. In seinem Urteil vom 25. März 1977 hielt es eine Berstsicherung für entbehrlich. Das Thema Berstschutz war wieder vom Tisch.
Angesichts der Ereignisse um Brokdorf hatten sich auch in Nordrheinwestfalen viele neue Anti-AKW-Initiativen gegründet. Sie suchten sich ein eigenes politisches Ziel. Auf einer gemeinsamen Konferenz am 24. April 1977 einigten sie sich darauf, für den Herbst eine Großdemonstration gegen den Schnellen Brüter SNR 300 in Kalkar vorzubereiten. Als Termin wurde der 24.September 1977 festgelegt.
Für den Schnellen Brüter war die erste Teilerrichtungsgenehmigung am 18. Dezember 1972 erteilt worden. Mit dem Bau in Hönnepel bei Kalkar wurde 1973 begonnen.
Im Rahmen der Atompolitik der Bundesregierung hatte diese Anlage einen besonderen Stellenwert. Sie galt als Prototyp für die weitere Entwicklung und Verwendung der Technologie der Schnellen Brutreaktoren, an der ein politisches Interesse von besonders hohem Rang bestünde, weil sie - im Gegensatz zu den bisher errichteten und geplanten Leichtwasserreaktortypen - von der erwarteten Knappheit des Natururans praktisch unabhängig seien und damit die Möglichkeit böten, die volkswirtschaftlich notwendige Energie auf unbegrenzte Zeit in nahezu unbegrenzter Menge zur Verfügung zu stellen. An der Finanzierung des Baus, für den die Mittel, die die Bundesregierung zur Verfügung stellte, nicht ausreichten, beteiligten sich auch Belgien und die Niederlande.
Die ortsansässigen Bürgerinitiativen erhofften sich von der Demonstration vor allem, die Bevölkerung stärker ansprechen zu können. AKW-Gegner aus den nahen Niederlanden unterstützten den Vorschlag massiv.
Die Grundlage für die Mobilisierung bildete die politische Einschätzung des Schnellen Brüters. Wegen seiner Bauart und Betriebsweise mit Natriumkühlung und Plutonium als Brennstoff mußte er als eine besonders gefährliche Anlage betrachtet werden. Durch seinen Bau sollte langfristig der Ausbau des Atomprogramms gesichert werden. Die Ablehnung dieser Politik und der Wille, sie zu verhindern, sollte mit der Demonstration zum Ausdruck gebracht werden.
Angesichts des bereits weit fortgeschrittenen Bauzustands der Anlage und um den Versuchen in der Presse, die Anti-AKW-Bewegung in die Nähe von Gewalttätern und Terroristen zu drängen, keinen weiteren Stoff zu geben, verzichteten die Bürgerinitiativen nach schwierigen Diskussionen von vornherein auf einen Platzbesetzungsversuch.
Für den 31. Juli 1977 hatten französische Atomkraftgegner zu einer Demonstration gegen den Bau des Schnellen Brüters Superphénix im Rhonetal bei Malville aufgerufen. Die 100 000 Teilnehmer der Demonstration wurden von Polizei und Militär in dichten Schwaden von Nebelwerfern mit Gas- und Offensiv-Granaten angegriffen. Einer der französischen Demonstranten wurde getötet. Auch von den deutschen Teilnehmern wurden viele verletzt, einer davon schwer. Die Bilder dieser kriegsmäßigen Szenen konnte man nur mit Entsetzen betrachten. Die Atomkraftgegner bestärkte das in ihrer Kritik an der Atompolitik.
Es waren nur noch wenige Wochen bis zu der geplanten Demonstration in Kalkar, als am 5. September 1977 von RAF-Mitgliedern der Präsident des Arbeitgeberverbandes Schleyer entführt wurde. Bundesregierung und Oppositionsführer berieten hinter verschlossenen Türen gemeinsam das weitere Vorgehen. Die Sicherheitskräfte wurden öffentlich sichtbar gegen den Terrorismus aufgerüstet. Nervöse Anspannung herrschte.
Unter diesen Bedingungen war die Demonstration verstärktem politischem Druck ausgesetzt. Der Innenminister von Nordrhein-Westfalen kündigte ein Verbot gegen eine Demonstration am Bauplatz an. In Gesprächen, die die veranstaltenden Gruppen gefordert hatten, versuchte er, ihnen gerade unter diesen schwierigen Bedingungen nahezulegen, die Demonstration abzusagen oder zumindest nicht am Bauplatz durchzuführen. Die Veranstalter blieben standhaft. Sie lehnten es ab, das Demonstrationsrecht einschließlich der eigenen Wahl des Ortes aufzugeben.
Als das Demonstrationsverbot ausgesprochen wurde, war niemand mehr überrascht. Aber die Antwort war allen klar: Jetzt erst recht!
Am Tag der Demonstration kam es zu einer Polizeiaktion, die das Innnenministerium von Nordrhein-Westfalen einen "beispiellosen Großeinsatz der Polizei" nannte. Im gesamten Bundesgebiet und sogar in Westberlin wurden Kontrollstellen eingerichtet, an manchen Orten die Autobahnen zeitweise voll gesperrt, die Busse der zur Demonstration Reisenden zum Teil mehrfach durchsucht, die niederländischen AKW-Gegner an der Grenze an der Einreise gehindert, ein Linienzug auf offener Strecke durch Hubschrauber gestoppt. Über 147 000 Personen wurden überprüft. In die Kontrollen gerieten sehr viele gänzlich Unbeteiligte, deren Ziel gar nicht die Demonstration war. Überall trat die Polizei in vollen Waffen auf, ausgerüstet vom Schlagstock bis zur Maschinenpistole. Offensichtlich zielte diese Vorgehensweise darauf ab, durch Behinderungen der Teilnehmer schon in großer Entfernung die Demonstration erst gar nicht zustande kommen zu lassen.
Trotzdem gelang es ungefähr 50 000 Menschen, die sich von dem überwältigenden Polizeiaufgebot nicht hatten abschrecken lassen, bis an den Bauplatz in Kalkar zu kommen und dort gegen die Atompolitik zu demonstrieren.
In der Öffentlichkeit war die Empörung groß. Auch im Ausland wurden diese skandalösen Vorgänge mit Beunruhigung wahrgenommen. Die Frage wurde aufgeworfen, ob es für diese Maßnahmen überhaupt eine Rechtsgrundlage gebe. Viele waren nun überzeugt, daß so nicht die Interessen der Bevölkerung vertreten wurden und sahen sich darin bestätigt, daß die Bundesrepublik sich zu einem Polizeistaat entwickelte. Das Vertrauen in den Rechtsstaat wurde immer brüchiger.
Es war kaum mehr zu übersehen, daß Bundes- und Landesregierungen alles daran setzten, ihre Politik des Ausbaus der Atomenergie nicht in Frage stellen zu lassen.
Durch die Großaktionen um Brokdorf, Grohnde, Gorleben und Kalkar war eine breite öffentliche Diskussion um die Atomanlagen entfacht worden.
Überdies hatte das Verwaltungsgericht Freiburg am 14. März 1977 die 1. Teilerrichtungsgenehmigung für das Atomkraftwerk Wyhl für unrechtmäßig erklärt. Auf anderen AKW-Baustellen, wie zum Beispiel in Brokdorf, waren die Bauarbeiten wegen laufender Gerichtsverfahren unterbrochen. Für eine ganze Reihe von geplanten Atomkraftwerken konnten keine Baugenehmigungen erreicht werden. Die Entsorgungsprobleme waren einer Lösung nicht nähergebracht worden. Die spontane Ausweitung der Anti-AKW-Bewegung in der ganzen Bundesrepublik vertiefte die Unsicherheit der Politiker. Im Lauf des Jahres 1977 war es zu einem Stillstand in der Durchsetzung des Atomprogramms gekommen.
Wohl war das Interesse der Medien weitgehend durch die Ereignisse und Erfahrungen um die großen Demonstrationen in Anspruch genommen. Zwar hatten Bundes- und Landesregierungen sich mit den Polizeiaktionen, die in keinem Verhältnis mehr standen zur Anerkennung des Demonstrationsrechts als ein politisches Recht der Bürger, an den Bauplätzen in Grohnde und Kalkar durchgesetzt, nicht aber auf der Ebene der öffentlichen politischen und wissenschaftlich-technischen Auseinandersetzung um die Gefahren, die von der Atomtechnik ausgehen.
Die Bundesregierung war dabei immer mehr unter Rechtfertigungszwang für ihre Atomenergiepolitik geraten. Das spiegelt sich in Veröffentlichungen, die das Bundesministerium für Forschung und Technologie in hohen Auflagen verbreitete. Beispiele dafür sind ein Taschenbuch mit dem Titel "Kernenergie. Eine Bürgerinformation", das zwischen 1976 und 1978 in mehreren Auflagen herausgegeben wurde, und eine großformatige umfangreichere Dokumentation "Zur friedlichen Nutzung der Kernenergie", die 1977 erschien. Sie wurden zu Hunderttausenden an die Bevölkerung verteilt.
Trotz mancher Mißerfolge war der "Bürgerdialog Kernenergie" weitergeführt worden. Beide Broschüren wurden als Ergebnis der vielfältigen Diskussionen und Lernprozesse aus diesen Veranstaltungen dargestellt. Man muß sie lesen als die offizielle Antwort der in Bedrängnis geratenen Bundesregierung auf die politische Situation.
In keiner der beiden Broschüren findet man irgendeine Andeutung davon, daß es die großen Demonstrationen mit den Polizeikonfrontationen gab. Man kann daher annehmen, daß die Gruppen in der Bevölkerung, die damit angesprochen werden sollten, diesem Geschehen eher unsicher, abwartend, vielleicht auch verschreckt gegenüberstanden. Am Sprachstil ist zu erkennen, wer die Adressaten sein sollten.
Das Taschenbuch "Bürgerinformation" ist im allgemeinen in einer recht klaren und den Eindruck von Sachlichkeit machenden Sprache geschrieben. Man spürt, daß es für ein Publikum gedacht war, das keine besondere Erfahrung mit einer wissenschaftlichen Herangehensweise an die Probleme hat. Im Vorwort werden die Leser angesprochen, die Bundesregierung halte "eine realistische Einschätzung der Risiken der Kernenergie" für erforderlich, deshalb komme es darauf an, "den sachlichen Informationsstand zu heben". Sie wolle "ihre Gründe für ihre Energiepolitik darlegen". Dies könne "auch in Zukunft nur in einem offenen Diskussionsprozeß geschehen".
Und nun stößt man auf einen feinen Unterschied: Es sollen "auch die unterschiedlichen und kontroversen Argumente zur Sprache kommen". Also soll nicht anderen die Gelegenheit geboten werden, ihre Gründe für die Ablehnung der Atompolitik vorzutragen.
Die "Dokumentation" hat einen anderen Charakter. Sie enthält zahlreiche technische Darstellungen, Tabellen und Diagramme. Mit ihr wollte man offensichtlich Leser ansprechen, die zwar nicht Fachleute waren, aber an sich selbst einen gewissen intellektuellen Anspruch hatten, technische und wissenschaftliche Fragestellungen verstehen zu können. Sie konnte auch als offizielle Veröffentlichung gelten, die Politikern oder auch Juristen zur Verfügung gestellt werden konnte. Diesen Lesern begegnet ein anderer Ton: "Auf der einen Seite steht die Furcht, unwiderrufbar ein Risiko einzugehen, das durch keine noch so großen Vorteile aufgewogen werden könne". Auf der anderen Seite, auf der man die Bundesregierung vermuten darf, "steht das Vertrauen in eine vielfältig abgesicherte Technik und eine bewährte staatliche Aufsicht und Kontrolle".
Das ist das Muster, mit dem die Atombefürworter bis heute agieren. Wir brauchen bloß an die beiden Anzeigentexte zu denken, die wir an den Anfang unserer Arbeit gestellt haben.
Ungerechtfertigten Ängsten, einem bloß emotional bestimmten Verhalten, wird Vertrauen in die Technik und in die eigene verantwortungsvolle Haltung gegenübergestellt. Aber welcher intellektuelle und verantwortungsbewußte Mensch ließe sich gern sagen, daß er sich nur von Emotionen leiten läßt, statt sich auf die Technik und die politischen Instanzen zu verlassen, "die die verbleibenden Risiken verantwortbar und zu gering" machen, "um ihretwegen die schwerwiegenden wirtschaftlichen und sozialen Folgen eines Verzichts in Kauf zu nehmen"?
Ihnen gegenüber ist die Bundesregierung bereit zuzugeben, daß viele "Fragen und Aspekte ... die öffentliche Diskussion wesentlich bestimmen". Jeder würde ihr zustimmen müssen, daß "nur die umfassende Betrachtung aller Vor- und Nachteile der Kernenergie und eine Prüfung denkbarer Alternativen ... zu einem ausgewogenen Urteil über die Berechtigung ihrer Nutzung führen" kann.
Aber auch diese Dokumentation wird der Öffentlichkeit mit dem Wunsche übergeben, "daß sie zu einem besseren Verständnis der Kernenergie und ihrer wichtigen Rolle in unserer künftigen Energieversorgung beitragen möge".
Von vornherein wird klargemacht, was die Bundesregierung unter einem ausgewogenen Urteil verstanden wissen will: daß die Funktion der Kernenergie in der künftigen Energieversorgung nicht länger bestritten, sondern anerkannt wird.
In den Texten selbst findet man wirklich eine Menge Informationen zu vielen Details der Probleme der Atomenergie. Man muß aber berücksichtigen, daß manches davon, z.B. über die Wirksamkeit der radioaktiven Strahlung, in der Öffentlichkeit schon ausführlich diskutiert worden und deshalb nichts Neues mehr war. Diese Kenntnisse konnten nicht übergangen werden.
Interessant wird es bei der Fragestellung, die in der politischen Auseinandersetzung das größte Gewicht hatte: die der Unfälle mit schwerwiegenden Folgen für die Umgebung. Wenn man sich darauf konzentriert, der Darstellung dieser Problematik nachzugehen, kommt man zu einem bemerkenswerten Ergebnis.
Es ist eine physikalische Tatsache, daß es in einem Atomreaktor nicht wie bei einer Atombombe zur atomaren Explosion kommen kann. Das wird zu Anfang hervorgekehrt. Zu jener Zeit war wegen des meßbaren Anstiegs der Radioaktivität nach den oberirdischen Atomwaffenversuchen, die bis zum Jahre 1962 stattgefunden haben, die Erregung in der Bevölkerung noch groß. Man erinnerte sich auch noch immer an die entsetzlichen Folgen der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki im August 1945. Den Atomenergiebefürwortern war es äußerst unangenehm, daß sie immer wieder auf diese Folgen der Atomtechnik hingewiesen wurden.
Zugegeben werden mußte die andere physikalische Tatsache, daß es in einem Atomreaktor zur Kernschmelze kommen kann. Sie war ja seit dem Rasmussen-Report nicht mehr zu leugnen.
Dann wird der Unfall beschrieben, der als angeblich "beherrschbar", also nicht zur Kernschmelze führend, der Genehmigung und damit der Planung der Atomkraftwerke in der Bundesrepublik zugrundegelegt wird. Es wird behauptet, daß es dabei es zwar zeitweilig zum Kühlmittelverlust im Reaktordruckbehälter kommen kann, nicht aber zum Kernschmelzen, weil vorher automatisch die technischen Sicherheitssysteme in Funktion treten. Dies ist der sogenannte "Größte anzunehmende Unfall" mit der bekannten Abkürzung GAU. Hier wurde also mit der Unterstellung gearbeitet, daß das Ausfallen der Sicherheitssysteme, wie es im Rasmussen-Report richtigerweise angenommen worden war, in den deutschen Atomkraftwerken praktisch ausgeschlossen sei.
In der Öffentlichkeit sollte mit dem GAU assoziiert werden, dies sei "der schlimmste Unfall, der passieren kann" (und mit dieser Bedeutung ist die Abkürzung ja auch in den Sprachgebrauch eingegangen). Der sogenannte "GAU" ist also ein höchst zweideutiger Begriff.
Wir müssen an dieser Stelle anmerken, daß wir mit Absicht nur in diesem Zusammenhang auf den "GAU" eingehen. Im übrigen verzichten wir wegen seiner Zweideutigkeit weitgehend darauf, diesen Begriff zu verwenden. Auch die beliebte und allgemein gebräuchlich gewordene Form Super-Gau für katastrophales Geschehen benutzen wir aus demselben Grund nicht.
Für die Unfallabläufe, bei denen durchaus mit schwerwiegenden Folgen zu rechnen war und die in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung sehr wohl in Betracht gezogen wurden, wurden in der Dokumentation Formulierungen verwendet wie: ",hypothetische Störfälle' jenseits des abgesicherten Bereiches", die "wegen ihrer außerordentlich geringen Eintrittswahrscheinlichkeit bei der Auslegung der Anlage nicht berücksichtigt werden, die jedoch nicht völlig ausgeschlossen werden können, aber doch physikalisch möglich" sind. In der "Bürgerinformation" wurden daraus, scheinbar nur in volkstümliche Ausdrucksweise übertragen, "äußerst unwahrscheinliche Unfälle", die bloß "hypothetisch" und deshalb "ungewiß" seien. Alles, was über den GAU hinausgeht, sei der Bevölkerung als Restrisiko zumutbar.
An diesem Punkt kann man besonders gut erkennen, wie in diesen beiden Broschüren mit "kontroversen Argumenten" umgesprungen wurde. Das müssen wir etwas ausführlicher erklären:
Es geht um die Eintrittswahrscheinlichkeit von Ereignissen. Das ist ein Begriff aus dem Bereich der wissenschaftlichen Methodik der Statistik. Die Eintrittswahrscheinlichkeit sagt nur etwas darüber aus, wie oft durchschnittlich in einem gewissen Zeitraum mit einem bestimmten Ereignis gerechnet werden muß. Sie sagt nichts aus darüber, zu welchem Zeitpunkt das Ereignis eintritt. Man muß also unabhängig von der Eintrittswahrscheinlichkeit immer davon ausgehen, daß das erwartete Ereignis auch sofort eintreten kann. Als Argument hätte diese klarstellende Aussage in keiner der beiden Broschüren fehlen dürfen. Aber man erfährt davon kein Wort.
Mit dem umgangssprachlichen Ausdruck "sehr unwahrscheinlich" verbindet man die Vorstellung, daß mit dem Eintritt eines Ereignisses nicht gerechnet werden muß. Setzt man ihn an die Stelle des statistischen Begriffs "geringe Eintrittswahrscheinlichkeit", dann verkehrt man die wissenschaftliche Aussage, daß trotz geringer Eintrittshäufigkeit mit dem Eintritt des Ereignisses gerechnet werden muß, in ihr Gegenteil.
Man kann sich hier auch erinnern an das "Urteil aus dem subjektiven Gefühl des erfahrenen Ingenieurs" bei der Entscheidung, ob es wahrscheinlich ist, daß eine Komponente ausfällt oder nicht.
So wurden mit Hilfe von Unterstellung und sprachlicher Manipulation die Gefährdungen, die von Atomkraftwerken ausgehen, statt schwerwiegend und jederzeit zu erwarten, als "fern" und "ungewiß" hingestellt. Es sei berechtigt, alle Unfallabläufe, die im Rasmussen-Report beschrieben worden waren, als "jenseits des abgesicherten Bereiches" aufzufassen, also als wissenschaftlich für die deutschen Reaktoren nicht nachgewiesen. Deshalb seien die deutschen Atomkraftwerke besonders sicher.
Trotzdem konnte man nicht wagen, die Möglichkeit schwerer Unfälle ganz zu negieren. Darum wurde betont, "trotz weitreichender Sicherheitsvorkehrungen" sei "absolute Sicherheit technisch nicht erreichbar". Es bleibe nun einmal "ein gewisses Restrisiko", das sei aber wegen seiner Ungewißheit zumutbar.
Je mehr sich die Darstellung der "Nachteile der Kernenergie" ihrem Ende nähert, umso mehr drängt sich dem Leser auf, er sei nur ernstzunehmen, wenn er das "Restrisiko aus der Nutzung der Atomenergie" hinnimmt.
Schließlich wird in beiden Broschüren das Genehmigungsverfahren nach Atomrecht in seinem formalen Ablauf dargestellt.
Dazu findet man in der "Bürgerinformation"eine weitere bemerkenswerte Äußerung: "Die Bundesregierung mißt der Beteiligung der Öffentlichkeit (im atomrechtlichen Genehmigungsverfahren A.M.) große Bedeutung zu. Sie vertritt jedoch die Auffassung, daß diese Beteiligung in unserer parlamentarischen Demokratie mit ihren Prinzipien der Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit nicht dazu führen darf, daß einzelnen Gruppen oder Verbänden Mitentscheidungsrechte bei den Verwaltungsentscheidungen eingeräumt werden. Dies würde nämlich praktisch dazu führen, daß ein Teil der behördlichen Entscheidungsgewalt der Kontrolle der frei und allgemein gewählten Parlamente entzogen würde."
Offen erklärte damit die Bundesregierung, daß sie nicht bereit war, dem Beteiligungsverfahren die Bedeutung eines verfassungsgemäßen Rechts der Bürger auf juristischen Schutz gegen eine staatliche Entscheidung zuzugestehen.
So wie die Bundesregierung versuchte, durch unsachliche Informationen die begründeten Befürchtungen in der Bevölkerung zum Schweigen zu bringen, wollte sie auch der Wirkung des Beteiligungsverfahrens vorbeugen, in dem die Betroffenen als Einwender eine offene Auseinandersetzung immerhin fordern und unter gewissen Bedingungen auch durchsetzen konnten.
Die unnachgiebige und undemokratische Haltung der Bundesregierung läßt sich mit diesen Texten ebenso gut belegen wie mit den Demonstrationsereignissen von 1976 und 1977.
Gegen die erste Teilgenehmigung für den bei Kalkar geplanten Schnellen Brüter hatte im Februar 1973 ein Landwirt, dessen Betrieb etwa 1 km vom Standort entfernt lag, beim Verwaltungsgericht Düsseldorf Klage erhoben. Gegen die Klageabweisung war der Kläger in die Berufung gegangen. Das Oberverwaltungsgericht (OVG) in Münster in Westfalen beschloß am 18. August 1977, das Berufungsverfahren auszusetzen und dem Bundesverfassungsgericht die Frage vorzulegen, ob der § 7 des Atomgesetzes, in dem die Genehmigungsvoraussetzungen für den Bau von Atomanlagen festgelegt sind, mit dem Grundgesetz vereinbar ist, soweit durch ihn die Genehmigung für den Schnellen Brüter SNR 300 ermöglicht werden sollte.
Der zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) traf seine Entscheidung am 8. August 1978.
Das höchste Gericht stützte sich dabei auf schriftliche Äußerungen von Prozeßbeteiligten und anderen am Verfahren interessierten Institutionen, die es in der Begründung ausschnittweise angeführt hat. In ihnen kommen die verschiedensten Gesichtspunkte zur Geltung. So läßt sich erkennen, daß der Aussetzungs- und Vorlagebeschluß des OVG Münster eine politische Auseinandersetzung zwischen den verschiedenen Beteiligten nach sich zog, mit der sich das Bundesverfassungsgericht eingehend befaßte.
Die Aussagen des Bundesverfassungsgerichts in der Kalkar-Entscheidung haben auch heute noch entscheidende Bedeutung für die Auseinandersetzung um die Gefahren der Atomtechnik, gerade auch, wenn es um die Kernschmelzmöglichkeit geht. Deshalb werden hier die wichtigsten Passagen aus der Begründung der Entscheidung wiedergegeben, mit denen man nachvollziehen kann, wie das Bundesverfassungsgericht darauf eingegangen ist.
Das bietet auch eine Grundlage dafür, zu beobachten, wie heute die Atomenergiebefürworter in den politischen Auseinandersetzungen gewisse Formulierungen für ihre Interessen ausbeuten, die sich - angeblich - auf bestimmte Aussagen des Kalkar-Urteils beziehen, mit denen die Intentionen des Kalkar-Urteils aber umgedeutet und bis in ihr Gegenteil verkehrt wurden.
Wir merken hier an: Hervorhebungen des BVerfG in der Begründung haben wir in Kursiv wiedergegeben. Wir selbst haben einige Zitate daraus und einige eigene Bemerkungen durch Fettdruck hervorgehoben.
Der Ausgangspunkt für die Überlegungen des BVerfG ist der § 7 Abs. 2 Nr. 3 Atomgesetz. Darin ist bestimmt: Die Genehmigung für eine Atomanlage darf nur erteilt werden, wenn "die nach dem Stand von Wissenschaft und Technik erforderliche Vorsorge gegen Schäden durch die Errichtung und den Betrieb der Anlage getroffen ist."
Der Kläger gab zu bedenken, daß die Schnellbrüterpolitik der Bundesregierung zu einer Plutoniumwirtschaft mit weitreichenden Auswirkungen führen würden. Er ging von einer Studie des Bundesinnenministeriums aus, nach der im Jahr 2025 eine große Zahl von Brutreaktoren in Betrieb sein würden. Er führte weiter an, daß das dafür benötigte Plutonium nicht nur chemisch und radiologisch hochgiftig ist, sondern auch als Sprengstoff für Atombomben geeignet ist. Die Abzweigung von Plutonium aus dem erforderlichen chemischen Wiederaufarbeitungsprozeß sei leicht möglich. Zum Schutz gefährdeter Plutoniumanlagen werde die präventive Personenüberwachung von Beschäftigten und ihren Verwandten und Bekannten ausgebaut werden. Bei Erpressungsaktionen würden Polizeimaßnahmen nötig, die die politischen Freiheiten aller Bürger so weit einschränken müßten, daß davon auch die demokratische Struktur des Staates betroffen werde. Die politischen Tugenden eines demokratischen Staatsbürgers würden dabei als störend ausgeschieden. Das habe nachhaltige Auswirkungen auf das politi sche und soziale System, nicht zuletzt auf die freiheitlich-demokratische Gesellschaftsordnung.
In dem ersten Teil dieses Gedankengangs ging es also um Fragen der Zukunft der Gesellschaft. Die Vermutung dürfte gerechtfertigt sein, daß bei diesen Erwägungen allen Beteiligten auch die Erfahrungen aus den vorangegangenen schweren Auseinandersetzungen noch gegenwärtig waren.
Der Kläger beschäftigte sich auch mit den Gefahren, die ihre Ursache in den technischen Problemen des Brüters haben. Er erkannte an, daß eine ausreichende Energieversorgung ein Interesse der ganzen staatlichen Gemeinschaft der Bundesrepublik von besonders hohem Rang sei, daher ein hohes Gemeinschaftsgut ist. Jedoch seien technische Systeme wie der Schnelle Brüter nach der Wertordnung des Grundgesetzes nicht genehmigungsfähig, weil sie die Grundentscheidung der Verfassung für das menschliche Leben als dem höchsten Rechtsgut in Frage stellten. Beim Schnellen Brüter müsse man die spezifische Gefahr berücksichtigen, die sich wegen der Verwendung von Natrium als Kühlmittel und der besonderen Anordnung der Brennelemente im Reaktorkern anders als bei Leichtwasserreaktoren als ein großes Explosionspotential darstellt. Bei einem solchen Unfall beim SNR 300 werde das Ausmaß einer nationalen Katastrophe erreicht.
Wegen dieser möglichen Gefahren sei der Gesetzgeber verpflichtet, das Maß der erforderlichen Vorsorge und die Grenze der zulässigen Risiken zu bestimmen.
Das Atomgesetz regle nicht, ob bei der Erforderlichkeit der Vorsorge nur die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts oder dieser mit der Schadensfolge bewertet werden müsse - wenn ja, wie - und ob bestimmte Schadensfolgen gänzlich auszuschließen seien - wenn ja, welche.
Damit wendete er sich gegen das Argument, das auch die Befürworter des Schnellen Brüters gern wiederholten: Bei der Frage, was der Bevölkerung zumutbar sei, genüge allein, daß der Eintritt des Schadens "äußerst unwahrscheinlich" sei; Umfang und Reichweite von Schadensfolgen brauchten unter diesen Umständen bei der Genehmigung von Anlagen nicht beachtet zu werden.
Schließlich wies der Kläger darauf hin, daß sich zu dieser Zeit schon die Prognosen der Bundesregierung über das Ansteigen des Strombedarfs nicht mehr halten ließen, denn aller Voraussicht nach werde in den nächsten Jahren wesentlich weniger Strom benötigt als bisher angenommen. Dann sei der Einsatz von Schnellen Brutreaktoren nicht notwendig. Lasse sich aber das Gut Strom auf verschiedene Weise produzieren, müsse der Gesetzgeber sicherstellen, daß auf gefährlichere Produktionsmethoden erst dann zurückgegriffen werde, wenn andere nicht mehr möglich seien. Dies abzuwägen, sei allein der Gesetzgeber berufen.
Abbildung 3: Polizeisperre auf der Autobahn bei Hamburg aus Anlaß der Demonstration gegen den Schnellen Brüter Kalkar am 24.September 1977
Das Oberverwaltungsgericht Münster hatte die vom Kläger gestellten Fragen aufgegriffen, die sich daraus ergaben, daß die Bundesregierung den Bau von Schnellen Brütern und damit die Verfügbarkeit von Plutonium als versorgungspolitische Notwendigkeit betrachtete. Der einzelne Bürger könne für sein Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit umfassenden staatlichen Schutz vor den Gefahren der Kernenergie beanspruchen. Dieser Bereich des Schutzes von Grundrechten sei im hohen Maße gefährdet, denn die Überwachungsvorkehrungen, die wegen der Möglichkeit von Erpressungen und des Baus von Atombomben durch Unbefugte notwendig seien, könnten alle bisher gekannten Sicherheitsmaßnahmen bei weitem übertreffen. Daraus könnten sich Sachzwänge ergeben, die in die Existenz des einzelnen Bürgers gravierend eingriffen. Es sei fraglich, ob dann noch die Aufrechterhaltung der bürgerlichen Freiheiten gewährleistet werden könne. Die Einführung der Brütertechnologie und die zu erwartende Wende in der Energiewirtschafts- und Sicherheitspolitik seien geeignet, tiefgreifende Änderungen herbeizuführen und seien mit der Gefahr verbunden, daß nicht rückgängig zu machende Tatsachen geschaffen würden.
Das OVG sah darin einen verfassungswidrigen Zustand, solange eine Entscheidung des Gesetzgebers nicht vorliege. Mit diesen Bedenken begründete es seine Auffassung, § 7 AtG, in dem die Regelungen für die Genehmigung von Atomanlagen festgelegt sind, sei verfassungswidrig.
Das Bundesinnenministerium (BMI) erklärte, aus seiner Sicht könne das wegen seiner Toxizität gefährliche Plutonium durch organisatorische und technische Maßnahmen gegen jeden unbefugten Zugriff wirkungsvoll geschützt werden. Dazu bedürfe es nicht eines "totalen Polizeistaates", der die bürgerlichen Freiheitsrechte in unerträglicher Weise einschränke. Belegt werde das durch das bestehende Sicherungssystem, das ohne derartige Eingriffe in den Freiheitsraum der Bürger auskomme und funktioniere.
Der Bundestag sei aufgrund der zahlreichen, die Nutzung der Kernenergie betreffenden Berichte der Bundesregierung sowie der Energieprogramme wohlunterrichtet, darum auch in der Lage, durch entsprechende Gesetzesinitiativen die künftige Entwicklung in seinem Sinne politisch zu beeinflussen. Der SNR 300 sei nur ein Prototyp.
In seiner Argumentation, daß Errichtung und Betrieb dieser Anlage noch keine Wende der bisherigen Energiepolitik bedeuteten, griff das Bundesinnenministerium sogar das von Robert Jungk geprägte Wort von der "Plutoniumwirtschaft" auf. Eine unumkehrbare Entwicklung dorthin werde mit dem Prototyp noch nicht eingeleitet.
Die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen stellte heraus, an der Entwicklung der Schnellen Brutreaktoren bestehe ein Gemeinschaftsinteresse von besonders hohem Rang, weil sie - im Gegensatz zu den herkömmlichen Reaktortypen - von der Knappheit des Natururans praktisch unabhängig seien und damit die Möglichkeit böten, die volkswirtschaftlich notwendige Energie auf unbegrenzte Zeit in nahezu unbegrenzter Menge zur Verfügung zu stellen.
Der Beschluß des OVG Münster könne nur so verstanden werden, daß der Bundestag dazu angehalten werden solle, eine unmittelbar politische Verantwortung für befürchtete Konsequenzen der sogenannten Plutoniumwirtschaft zu übernehmen.
Über die Realität der vom OVG beschworenen Gefahren seien gegenwärtig nur vage Spekulationen möglich. Zwar gestand die Landesregierung zu, daß es darüber eine nicht ausräumbare Ungewißheit gab. Die Konsequenz, die das OVG aus dieser ziehe - nämlich die Verfassungswidrigkeit des § 7 AtG, erscheine jedoch verfehlt. Es handle sich nicht um das Problem, ob in dem Paragraphen die Einzelregelungen genau genug bestimmt seien. In Wahrheit beanstande das OVG, daß der Gesetzgeber mit der in § 7 AtG erfolgten Zulassung von Schnellen Brütern voreilig gehandelt habe, daß er damit seiner politischen Verantwortung für die Übernahme von nicht voll kalkulierbaren Risiken für die Gemeinschaft, bzw. zur Vorbeugung gegen die denkbaren, aber nicht näher verifizierbaren Gefahren der Atomtechnologie nicht hinreichend gerecht geworden sei ("nicht verifizierbar" bedeutet hier "nicht mit wissenschaftlichen Mitteln nachzuweisen" BIU.).
Das BVerfG hatte auch eine Äußerung der Schnell-Brüter-Kernkraftwerksgesellschaft, also der Antragstellerin, aufgenommen. Diese schloß sich einem Gedankengang an, der in anderen Formulierungen auch vom Bundesinnenministerium und von der Landesregierung vorgetragen worden war: Dem Gesetzgeber, der beabsichtige, Sicherheitsanforderungen an die technische Entwicklung anzuhängen, bleibe gar nichts anderes übrig, als auf den jeweiligen Stand von Wissenschaft und Technik zu verweisen. Es sei nicht nur inopportun, sondern dem Regelungszweck des Gesetzes geradezu zuwider, wenn der Gesetzgeber durch Festlegungen in den rechtlichen Regelungen, die nur am status quo der technischen Entwicklung orientiert sein könnten, die Sicherheitsanforderungen festschreibe.
Mit den Worten des BMI: Eine solche Lösung erschwere wegen der Schwerfälligkeit des Gesetzgebungsverfahrens die notwendige Anpassung an den sich zum Teil rasch wandelnden Stand von Wissenschaft und Technik auf dem Gebiet der nuklearen Sicherheitstechnik.
Oder in der Formulierung der Landesregierung: Besonders wegen dieser Weiterentwicklung in der Wissenschaft, der das parlamentarische Verfahren naturgemäß nicht permanent durch Novellierungen folgen könne, sei es sachgerecht, wenn § 7 Abs. 2 Nr. 3 AtG auf die nach dem jeweiligen Stand von Wissenschaft und Technik erforderliche Vorsorge gegen Schäden abstelle. Wenn Genehmigungsbehörde und Verwaltungsgericht sich darauf bezögen und dabei den eindeutig erklärten Zweck dieser Regelung, nämlich den Schutz der Grundrechte, berücksichtigten, könnten sie präzisere und zeitnähere Maßstäbe gewinnen, als sie eine noch so weit getriebene detaillierte Festlegung im Atomgesetz selbst zu liefern vermöge. Allerdings wären sie zwangsläufig auf die Zuhilfenahme sachverständigen Rats angewiesen.
Das hieß unter den damaligen Bedingungen, daß sie sich in technischen und wissenschaftlichen Fragen von den Mitarbeitern der Forschungsinstitute wie z.B. GRS oder KfK oder des TÜV beraten lassen würden.
Dem Gesetzgeber müsse erst einmal ein Mindestmaß an Prognosespielraum zugebilligt werden. Das gestatte es ihm, zu späterer Zeit auf der Grundlage der mit dem Prototyp gewonnenen Erfahrungen eine Entscheidung zu treffen, ob der Typ Schneller Brüter genehmigt werden könnte oder nicht.
Sowohl die Schnellbrüter-Baugesellschaft wie das BMI und die Landesregierung betrachteten es also offensichtlich auch in ihrem Interesse, wenn die Möglichkeit gegeben war, nicht an den erreichten Stand der Technik gebunden zu sein, sondern beweglicher auf neuere wissenschaftliche Erkenntnisse reagieren zu können.
Auch das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) beteiligte sich an der Auseinandersetzung. Obwohl es noch nicht über die notwendigen Kenntnisse von der komplizierten Technologie der Schnellen Brutreaktoren verfüge, halte es die Auffassung des OVG Münster für zweifelhaft. Der SNR 300 erbrüte wahrscheinlich nicht mehr Plutonium, als er verbrauche, sei deshalb wohl doch nur ein Versuchsmodell. Eine weitere kommerzielle Nutzung der Brütertechnik würde durch seinen Betrieb noch nicht rechtlich festgelegt. Das BVerwG sah die Lage lieber hoffnungsvoll: Möglicherweise sollten beim Betrieb der Anlage gerade die Erfahrungen gesammelt werden, mit deren Hilfe sich die vom OVG befürchteten Gefahren meistern ließen.
Weiter hielt das BVerwG für fraglich, ob der Gesetzgeber dazu verpflichtet sei, je nach Erkenntnisstand die sich dauernd wandelnde technische Entwicklung nachzuvollziehen und einzufangen. Es liege zumindest ebenso nahe, daß die zuständigen Gerichte die Genehmigung von Anlagen verböten, die völlig unvorhersehbare und untragbare Gefahren mit sich brächten. Wenn sich die vom OVG befürchteten Gefahren wirklich bestätigen und nicht verhindern lassen sollten, könne man sich eine Auslegung des § 7 Abs. 2 Nr. 3 AtG dahin vorstellen, daß "die nach dem Stand von Wissenschaft und Technik erforderliche Vorsorge gegen Schäden durch die Errichtung und den Betrieb der Anlage" derzeit nicht getroffen werden könne und die Genehmigung daher versagt werden müsse. § 7 Abs. 2 Nr. 3 AtG biete also Abwehrmöglichkeiten, deshalb sei nicht recht zu erkennen, inwiefern dem Gesetzgeber die ihm vom OVG unterstellten Fehlprognosen unterlaufen seien. Das BVerwG äußerte die Hoffnung, es halte jedenfalls nicht für ausgeschlossen, daß die beantragte Anlage SNR 300 als solche nicht die vom OVG befürchteten Gefahren zeitige und deshalb genehmigt werden könne.
Möglicherweise könne den Erfordernissen des § 7 AtG erst bei Folgeprojekten nicht mehr genügt werden, weil diese vielleicht eine nicht mehr überschaubare und nicht mehr steuerbare Entwicklung bedingten. Auch das führe dann aber nicht zur Verfassungswidrigkeit des Gesetzes, sondern nur zur Nichtgenehmigung solcher Anlagen.
Das Bundesverfassungsgericht entschied, § 7 Absatz 1 und 2 des Atomgesetzes, soweit er die Genehmigung von Atomkraftwerken des Typs des Schnellen Brüters zuließ, sei mit dem Grundgesetz vereinbar. Das mußte es begründen.
Es begann seinen Gedankengang mit den Verpflichtungen des Bundestages als Gesetzgeber aus der Verfassung: "Die normative Grundsatzentscheidung für oder gegen die rechtliche Zulässigkeit der Nutzung der Kernenergie im Hoheitsbereich der Bundesrepublik Deutschland ist wegen ihrer weitreichenden Auswirkungen auf die Bürger, insbesondere auf ihren Freiheits- und Gleichheitsbereich, auf die allgemeinen Lebensverhältnisse und wegen der notwendigerweise damit verbundenen Art und Intensität der Regelung eine grundlegende und wesentliche Entscheidung im Sinne des Vorbehalts des Gesetzes. Sie zu treffen ist allein der Gesetzgeber berufen." Anders gesagt: nur der Bundestag ist zu dieser Entscheidung legitimiert. Er trägt die politische Verantwortung für alle Folgen seiner Entscheidung.
Als allgemeine Grundregel ist immer zu berücksichtigen: Im Atomgesetz hat der Gesetzgeber die Grundentscheidung für die Nutzung der Atomenergie getroffen. Er hatte die Unabdingbarkeit größtmöglichen Schutzes vor den Gefahren der Kernenergie im Blick und hat deshalb zugleich durch das Gesetz die Grenzen der Nutzung bestimmt.
Bis hierher bestand Einigkeit bei allen Partnern. Nun folgt die Auseinandersetzung des Bundesverfassungsgerichts mit den praktischen Rechtsproblemen.
Es ging in diesem Verfahren vorrangig um die rechtlichen Voraussetzungen der Errichtung und des Betriebes von Schnellen Brutreaktoren. Nun war jedoch noch nichts darüber ausgesagt, ob und gegebenenfalls wann der Gesetzgeber darüber neu entscheiden mußte. Das BVerfG sagte dazu: "Hat der Gesetzgeber eine Entscheidung getroffen, deren Grundlage durch neue, im Zeitpunkt des Gesetzeserlasses noch nicht abzusehende Entwicklungen entscheidend in Frage gestellt wird, dann kann er von Verfassungswegen gehalten sein zu überprüfen, ob die ursprüngliche Entscheidung auch unter den veränderten Umständen aufrechtzuerhalten ist."
Diese Anforderungen gelten für alle Reaktortypen gleichermaßen. Deshalb ist es nicht angebracht, für den Brüter besondere Regelungen zu schaffen.
Zuerst befaßte sich das BVerfG mit den Problemen der politischen und gesellschaftlichen Entwicklung in der Zukunft. Es stellte sich die Frage, wie in Hinsicht darauf Art. 1. Abs. 1 des Grundgesetzes zur Geltung gebracht werden kann: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
Die Befürchtungen des Oberverwaltungsgerichts, die auf die Anregungen des Klägers zurückgingen, bezogen sich auf das mögliche Eintreten von polizeistaatlichen Verhältnissen, auf den "Plutoniumstaat". Das BVerfG war sich aber sicher, daß es für derartige Probleme keine allgemein anerkannten wissenschaftlichen Erkenntnisverfahren gibt, mit denen man zu einer begründeten und beweiskräftigen Überzeugung und auf diesem Wege zu einer richterlichen Beurteilung kommen könnte. Im Hintergrund steht hier die Erfahrung von Historikern, die ihrer eigenen Arbeit kritisch gegenüberstehen: Selbst ihnen als Wissenschaftlern kann bei der Suche in der Vielfalt möglicher Aspekte, die für die spätere Entwicklung der Gesellschaft künftig entscheidend sein könnten, unter der Suggestion des augenblicklich Interessanten Wichtiges entgehen, ja es kann oft genug erst im Nachhinein erkannt werden, daß ein Aspekt sich zu besonderer Wichtigkeit entwickelt hat.
Es waren also vernünftige Zweifel möglich, ob die vom Oberverwaltungsgericht befürchteten Gefährdungen der freiheitlichen Lebensordnung eintreten oder nicht eintreten würden. Es gehe dabei um das mögliche Eintreten künftiger politischer Entwicklungen. Erst die Zukunft könne erweisen, ob die Entscheidung für die Anwendung der Brütertechnik mehr zum Nutzen oder mehr zum Schaden gereichen wird.
Daraus ergebe sich für die Gegenwart eine notwendigerweise mit Ungewißheit belastete Situation. In dieser liege es zuvorderst in der politischen Verantwortung des Gesetzgebers und der Regierung, die von ihnen für zweckmäßig erachteten Entscheidungen zu treffen. Gerichte könnten ihnen diese Aufgabe nicht abnehmen aus Mangel an rechtlichen Maßstäben.
Das Bundesverfassungsgericht lehnte sich hier eng an die Formulierungen an, die die nordrhein-westfälische Landesregierung für die zukünftigen politischen Probleme der Plutoniumwirtschaft gefunden hatte, es gebe eine nicht ausräumbare Ungewißheit und denkbare, aber nicht näher verifizierbare Gefahren der Atomtechnologie.
Das, sagte das BVerfG, ist eine Situation, in der die staatlichen Organe, mithin auch der Gesetzgeber handeln müssen von ihrer verfassungsrechtlichen, aus dem Grundgesetz folgenden Verpflichtung her, die Würde des Menschen zu schützen. Das verpflichtet sie, alle Anstrengungen zu unternehmen, um mögliche Gefahren frühzeitig zu erkennen und ihnen mit den erforderlichen, verfassungsmäßigen Mitteln zu begegnen. Sollten sich also in der Zukunft Anzeichen dafür einstellen, daß von Schnellen Brütern mit einiger Wahrscheinlichkeit Gefahren des Polizei- und Überwachungsstaats ausgehen werden, wäre der Gesetzgeber zu einem neuerlichen Tätigwerden verpflichtet.
Das BVerfG sehe, daß der Gesetzgeber sich dieser Aufgabe bewußt ist. Das zeigen nicht nur die Vorschriften des Atom- und Strahlenschutzrechts, die ein umfassendes Gefüge von Normen zur Kontrolle und Überwachung der Atomanlagen gewährleisten sollen, sondern auch die regelmäßigen Erörterungen dieser Fragen im Bundestag anhand der Berichte der Bundesregierung. Die Ernsthaftigkeit der Anstrengungen in diesem Bereich seien außerdem belegt durch die staatlichen Forschungsprogramme, wie zum Beispiel im Bereich der Reaktorsicherheit und der Entsorgung. Dazu gehörten sowohl die Forschungsprogramme zur Brütertechnik wie zu diesem Zeitpunkt natürlich auch die Deutsche Risikostudie Kernkraftwerke, die nun schon seit einigen Jahren bearbeitet wurde, die das BVerfG allerdings nicht ausdrücklich nannte.
Bei den folgenden Betrachtungen beschränkte es sich denn auch nicht auf die Brütertechnologie, sondern faßte seine Aussagen allgemeiner, sodaß sie auch auf die Genehmigungsvoraussetzungen für andere Atomanlagen zu beziehen sind.
Damit hatten die Richter das Thema gewechselt. Sie wendeten sich von den politischen Problemen ab und denen der technischen Sicherheit zu. Sie gingen nun auf die Forderung des Klägers ein, wegen der Gefahren der Atomenergie müsse im Gesetz das Maß der erforderlichen Vorsorge und die Grenze der zulässigen Risiken bestimmt werden.
Es ging nun um den § 7 Abs.2 Nr. 3 des Atomgesetzes. Wir wiederholen ihn hier: Die Genehmigung darf nur erteilt werden, "wenn die nach dem Stand von Wissenschaft und Technik erforderliche Vorsorge gegen Schäden durch die Errichtung und den Betrieb der Anlage getroffen ist." Dieser Paragraph gehört in den Bereich des technischen Sicherheitsrechts.
Das BVerfG führte aus, daß der Gesetzgeber vor besonderen Schwierigkeiten steht, wenn er beabsichtigt, auf diesem Gebiet zur Vermeidung von Gefährdungen rechtliche Regelungen zu treffen.
Es begann damit, daß es - eher seltene - Fälle gibt, in denen ein technischer Erkenntnis- und Entwicklungsstand vorerst abgeschlossen erscheint. Schon bei diesen sei es in der Regel nicht möglich, sämtliche sicherheitstechnischen Anforderungen, denen die jeweiligen Anlagen oder Gegenstände genügen sollen, bis ins einzelne festzulegen.
Auf dem Gebiet der Atomenergienutzung hat man es aber mit einer Technik mit einem besonders hohen Gefährdungspotential zu tun. Außerdem ist hier durch die rasche technische Entwicklung ständig mit Neuerungen zu rechnen. Die Normgebung zum Schutz der Grundrechte mit Hilfe von rechtlichen Regelungen sollte deshalb mit den Erkenntnissen und Entwicklungen von Wissenschaft und Technik Schritt halten können. Hätte der Gesetzgeber im Gesetz detaillierte Regelungen getroffen, müßte er diese laufend auf den jeweils neuesten Stand bringen. Dem steht aber die Schwerfälligkeit des Gesetzgebungsprozesses entgegen. Unter diesen Bedingungen sind gesetzliche Regelungen, durch die ganz bestimmte Sicherheitsanforderungen gestellt würden, der Problematik nicht angemessen, weil dann neuere Erkenntnisse gar nicht schnell berücksichtigt werden könnten.
Diese neue Situation der technologischen Entwicklung hat daher direkte Auswirkungen bis in die Strukturen der gesetzlichen Regelungen zum Schutz der Bürger. Unvermeidlich kommt es unter diesen Bedingungen zu einem Regelungsdefizit auf der Ebene der gesetzlichen Bestimmungen. Es gibt einen Bereich, der nicht durch das Gesetz selbst festgelegt werden kann. Die Schwierigkeiten der laufenden Anpassung an die wissenschaftliche und technische Entwicklung werden mehr oder weniger auf die Ebene der Exekutive in Gestalt der Genehmigungs- und Aufsichtsbehörden und - soweit es zu Rechtsstreitigkeiten kommt - auf die Ebene der Gerichte verlagert.
Bis hierher war das BVerfG den Überlegungen des BMI und der Landesregierung gefolgt.
Das BVerfG verdeutlichte diese Problematik weiter, indem es die Anforderungen an rechtliche Regelungen in verschiedenen Bereichen der Technik voneinander absetzte.
Beispielsweise genügt es den Schutzanforderungen beim Maschinenschutz, wenn die Wirkungsweise von Schutzeinrichtungen allgemein anerkannt ist und sich praktisch bewährt hat. Das Gesetz kann dann auf die "allgemein anerkannten Regeln der Technik" als Maßstab verweisen. Behörden und Gerichte können sich dann darauf beschränken, unter den technischen Praktikern zu ermitteln, was im einzelnen Fall die herrschende Auffassung ist, um festzustellen, ob das jeweilige technische Arbeitsmittel in den Verkehr gebracht werden darf oder nicht. Zur Beurteilung genügt die herkömmliche, allgemein anerkannte Erfahrung der Ingenieure. Es muß dafür kein wissenschaftlicher Nachweis erbracht werden.
Diese Lösung hat aber den Nachteil, daß die gesetzlichen Regelungen mit diesem Maßstab stets der weiterstrebenden technischen Entwicklung oder dem Forschungsfortschritt hinterherhinken.
Das würde zum Beispiel schon den Schutzansprüchen gegenüber den Gefährdungen, die von Chemieanlagen ausgehen können, nicht mehr genügen.
Das Gesetz, in dem die Genehmigung solcher Anlagen geregelt wird, ist das Bundesimmissionsschutzgesetz (BImSchG). Hier wird die Ausrichtung am "Stand der Technik" gefordert. Die Feststellung und Beurteilung der maßgeblichen Tatsachen wird dadurch allerdings schwieriger. Die herkömmliche Erfahrung reicht nicht aus. Behörden und Gerichte müssen sich in den Meinungsstreit der technischen Gutachter einlassen, um zu ermitteln, was zum Schutz technisch notwendig, geeignet, angemessen und was als Gefahr vermeidbar ist. Der rechtliche Maßstab für das Erlaubte oder Gebotene wird hierdurch an die Front der technischen Entwicklung verlagert. Einwender und Kläger können verlangen, daß die modernsten technischen Einrichtungen zum Schutz gegen Gefährdungen eingebaut werden.
Das Atomrecht geht schließlich noch einen Schritt weiter. Das hat einen guten Grund darin, weil das Schadenspotential von Atomanlagen noch oberhalb des Schadenspotentials auch größerer Chemieanlagen anzusiedeln ist. Deshalb wird in § 7 Abs. 2 Nr. 3 AtG gefordert, den "Stand von Wissenschaft und Technik" einzuhalten. Indem er sich auf den Stand der Wissenschaft bezieht, übt der Gesetzgeber einen noch stärkeren Zwang dahin aus, daß die rechtliche Regelung mit der wissenschaftlichen und technischen Entwicklung Schritt hält. Das BVerfG hob die Folgerungen heraus, die sich daraus ergeben: "Es muß diejenige Vorsorge gegen Schäden getroffen werden, die nach den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen für erforderlich gehalten wird. Läßt sie sich technisch noch nicht verwirklichen, darf die Genehmigung nicht erteilt werden; die erforderliche Vorsorge wird mithin nicht durch das technisch gegenwärtig Machbare begrenzt."
Lesen wir nach: Zweck des Atomgesetzes ist nicht nur, "die Erforschung,die Entwicklung und die Nutzung der Kernenergie zu friedlichen Zwecken zu fördern", sondern sein Schutzzweck ist in § 1 Nr. 2 formuliert: "Leben, Gesundheit und Sachgüter vor den Gefahren der Kernenergie und der schädlichen Wirkung ionisierender Strahlen zu schützen und durch Kernenergie oder ionisierende Strahlen verursachte Schäden auszugleichen".
Die staatlichen Gewalten können auch in Zukunft dieser Verpflichtung, Leben, Gesundheit und Sachgüter der Bürger als Grundrechte vor den Gefahren der Kernenergie zu schützen, nur dann gerecht werden, wenn sie den neuesten Stand von Wissenschaft und Technik berücksichtigen.
Allerdings sieht das BVerfG, daß dies "für die Behörden noch mehr Erkenntnisprobleme aufwirft als die Formel vom Stand der Technik", denn sie "kommen bei sich widersprechenden Sachverständigengutachten in aller Regel nicht umhin, zu wissenschaftlichen Streitfragen Stellung zu nehmen."
Das BVerfG stellt hier also fest, daß die Diskussion unter den Technikern nicht ausreicht. Auch die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung, die den technischen Entwicklungen zugrundeliegen, müssen berücksichtigt werden. Sachverständige sind auch in wissenschaftlichen Fragen nicht alle derselben Meinung, sondern widersprechen einander in ihren Aussagen. Es gibt auch bei ihnen Kenntnislücken und Unsicherheiten, die erst in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung zutagetreten können. Das müssen die Behörden beachten. Sie können nicht einfach bestimmten Gutachtern vertrauen, ohne deren Aussagen der Kritik anderer Wissenschaftler auszusetzen. Nur so können sie den jeweiligen neuesten Stand der Wissenschaft ermitteln.
Die Behörden müssen sowohl die technische Weiterentwicklung in der Zukunft wie die ihr jeweils angemessene Sicherung der Grundrechte beachten. Eine solche Beziehung könnnen sie herstellen, denn weil die Fassung des § 7 Abs. 2 Nr. 3 AtG die Berücksichtigung der neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse fordert, ist sie in die Zukunft hin offen. Sie "dient einem dynamischen Grundrechtsschutz. Sie hilft, den Schutzzweck des § 1 Nr. 2 AtG jeweils bestmöglich zu verwirklichen."
Wäre ein bestimmter Sicherheitsstandard im Gesetz fixiert, würde die Verwirklichung dieser Forderung eher gehemmt als gefördert. Das wäre ein Rückschritt im technischen Sicherheitsrecht auf Kosten der Sicherheit.
Im nächsten gedanklichen Schritt griffen die Verfassungsrichter die vom Kläger aufgeworfene Frage auf, wie angesichts des Schadenspotentials von Atomanlagen die erforderliche Vorsorge bestimmt werden muß, ob nur die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts oder dieser mit der Schadensfolge bewertet werden müsse - und wenn ja, wie.
Genaugenommen hatte der Kläger mit seiner Formulierung auf zwei ganz verschiedene Auffassungen angespielt. Bei der einen wurde "nur die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts" berücksichtigt, aber in der Weise, daß gewisse Unfälle "äußerst unwahrscheinlich", bloß "hypothetisch", "ungewiß" und deshalb "praktisch ausgeschlossen" seien. Dies wurde von den Befürwortern der Atomenergie vorgebracht, wenn sie von der Bevölkerung verlangten, sie müsse sich ein "Restrisiko" zumuten lassen. Dahinter kann man auch das "Urteil aus dem subjektiven Gefühl des erfahrenen Ingenieurs" oder das "GAU-Konzept" erkennen. Die Schadensfolgen waren bei dieser Auffassung der Auseinandersetzung ganz entzogen.
Bei der anderen Auffassung wurden sowohl die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts wie die Schadensfolgen bedacht, das wurde in der Formel "Risiko = Eintrittswahrscheinlichkeit x Schadensfolgen" ausgedrückt. Dies läßt sich auf die Risikoanalyse unter Anwendung der Wahrscheinlichkeitsrechnung beziehen, wie sie im Rasmussen-Report durchgeführt worden war und nun bei der Deutschen Risikostudie Kernkraftwerke angewendet werden sollte. Man konnte dies als eher wissenschaftliche Herangehensweise an die Schadensproblematik verstehen.
Um hier eine Entscheidung zu finden, mußten sich die Verfassungsrichter auf ein höchst umstrittenes Feld begeben.
Sie sagten: Die Überlegungen zum dynamischen Grundrechtsschutz und zur jeweils bestmöglichen Verwirklichung des Schutzzwecks des Atomgesetzes "gelten auch im Hinblick auf das sogenannte Restrisiko, das im Rahmen des § 7 Abs. 2 Nr. 3 AtG in Betracht zu ziehen ist."
Auffällig ist die Formulierung, die die Richter dem Problem gaben, vor das sie sich gestellt sahen. Mit ihr ließen die Richter erkennen, daß es aus ihrer Sicht mit diesem Begriff eine besondere Bewandtnis hat. Einerseits klingt in dem "das sogenannte" ein Ton der Kritik oder der Ironie mit, andererseits bekommt mit der Hervorhebung in Kursivschrift der Begriff des Risikos ein Übergewicht gegenüber dem "Rest". Man kann annehmen, daß sie damit der wissenschaftlichen Heransgehensweise gegenüber dem "subjektiven Gefühl des erfahrenen Ingenieurs" den Vorzug geben wollten. Liest man ihre folgenden Gedankenschritte aufmerksam, dann findet man das bestätigt.
Als erstes gingen die Verfassungsrichter wieder auf die Vorschrift im § 7 AtG zurück, daß die Genehmigung nur erteilt werden darf, "wenn die nach dem Stand von Wissenschaft und Technik erforderliche Vorsorge gegen Schäden durch die Errichtung und den Betrieb der Anlage getroffen ist". Sie führten zwei verschiedene Punkte auf, die in diesem Zusammenhang behandelt werden mußten: Einerseits mußten sie darlegen, daß diese Vorschrift "einen Restschaden aus der Errichtung oder dem Betrieb einer Anlage nicht in Kauf nimmt", andererseits mußten sie auch erläutern, warum sie Genehmigungen dann zuläßt, "wenn die Wahrscheinlichkeit eines künftigen Schadens nicht mit letzter Sicherheit auszuschließen ist."
Zum ersten Punkt gingen sie von der Feststellung aus: "Das Gesetz trifft nicht selbst die Bestimmungen darüber, welches Restrisiko für die Erteilung einer Genehmigung noch hingenommen werden darf." Daraus kann man ableiten, daß sie das Restrisiko als ein Problem betrachteten, das bei der Erteilung der Genehmigung nicht aus der Betrachtung ausgeschlossen werden darf.
Den Beurteilungsmaßstab fanden sie wiederum im Schutzzweck des § 1 des Atomgesetzes sowie den damit verbundenen Grundsätzen der Gefahrenabwehr und der Schadensvorsorge. Aus ihm ergibt sich "hinreichend deutlich, daß der Gesetzgeber grundsätzlich jede Art von anlage- und betriebsspezifischen Schäden, Gefahren und Risiken in Bedacht genommen wissen will". Dann war die Frage, was noch hingenommen werden darf und was nicht, vor Erteilung der Genehmigung dem Meinungsstreit der Wissenschaftler auszusetzen.
Im unmittelbaren Anschluß daran versuchten sie eine Antwort auf die Frage des Klägers, ob bei der Erforderlichkeit der Vorsorge nur die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts oder dieser mit der Schadensfolge bewertet werden müsse - wenn ja, wie? Sie sagten, daß "die Wahrscheinlichkeit des Eintritts eines Schadensereignisses, die bei einer Genehmigung hingenommen werden darf, so gering wie möglich sein muß, und zwar umso geringer, je schwerwiegender die Schadensart und die Schadensfolgen, die auf dem Spiel stehen, sein können". Sie hatten sich also dazu entschieden, daß nicht bloß die Eintrittswahrscheinlichkeit zu berücksichtigen sei, sondern auch Schadensart und Schadensfolgen.
Hier dürfte es zum Verständnis beitragen, wenn man an das Ergebnis des Rasmussen-Reports erinnert: Darin waren als wissenschaftlich begründbare Ereignisse mehrere Unfallabläufe mit ihren Schadensfolgen und Eintrittswahrscheinlichkeiten dargestellt. Einem Unfallablauf mit relativ geringen Schadensfolgen war eine weit größere Eintrittswahrscheinlichkeit zugeordnet worden als einem Unfall mit katastrophalen Folgen. Danach gäbe es eine Möglichkeit, das Risiko verschiedener Unfallarten zu bestimmen und zu ordnen und dann zwischen ihnen eine Grenze zu ziehen.
Aber damit wäre man nicht über die Position der Vertreter des GAU-Konzepts hinausgekommen. Diese behaupteten ja, das von ihnen bestimmte "Restrisiko" entspräche einer solchen Grenze.
Dieser Fallgrube scheinen die Verfassungsrichter sich bewußt gewesen zu sein. Sie führten ihren Gedankengang nämlich weiter. Sie sagten: Das Gesetz legt insbesondere mit der Anknüpfung an den jeweiligen Stand von Wissenschaft und Technik, also an die Dynamik der wissenschaftlichen Entwicklung, "die Exekutive normativ auf den Grundsatz der bestmöglichen Gefahrenabwehr und Risikovorsorge fest".
Dann ließen sie eine knappe Zusammenfassung der Probleme und Faktoren folgen, die bei der Ermittlung von Risiken einer Anlage und bei der Anwendung der Untersuchungsmethoden berücksichtigt werden müssen. Sie nannten als Beispiele unter anderen die Berechnungsmethoden, die Schadensanfälligkeit von Vorrichtungen und die Ermittlung von Belastungspfaden. Sie nahmen sogar einen Punkt auf, der in der Auseinandersetzung um den Rasmussen-Report und seine Wahrscheinlichkeitsaussagen eine große Rolle spielte, das war die Abschätzung menschlichen Verhaltens, die Kritiker nicht genügend beachtet sahen. Man kann erkennen, daß die Richter den im Rasmussen-Report angewendeten Methoden aufgeschlossen, wenn auch nicht un-kritisch gegenüberstanden.
Eine wichtige Frage war nun, wie ein derart ermitteltes Risiko zu beurteilen ist. Die Richter stellten fest: "Die Beurteilung eines konkreten Risikos ist nur unter Berücksichtigung der Wirkungszusammenhänge aller Risikofaktoren und der zu ihrer Eindämmung möglichen Vorkehrungen vorzunehmen."
Um nun nicht dem Mißverständnis zu verfallen, damit könnte doch immer noch das "GAU-Konzept" akzeptiert sein, muß man zurückkommen auf die Forderung, die die Verfassungsrichter schon am Anfang dieser Überlegungen aufgestellt hatten. Läßt sich Vorsorge, die nach den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen für erforderlich gehalten wird, technisch noch nicht verwirklichen, darf die Genehmigung nicht erteilt werden; die erforderliche Vorsorge wird mithin nicht durch das technisch gegenwärtig Machbare begrenzt.
Das heißt: Wenn ein Unfall samt seinen Folgen wissenschaftlich begründet konkret beschreibbar ist, dann ist er auch zu berücksichtigen. Nehmen wir das Beispiel Rasmussen-Report und Deutsche Risikostudie Kernkraftwerke: Würde auch in der DRS nachgewiesen, daß Dampfexplosion große Zerstörungen zur Folge hat und daß es keine Schutzvorrichtungen dagegen gibt, dann müßte die Genehmigung verweigert werden. Schon vor der Veröffentlichung der ersten Ergebnisse der DRS war ja vorauszusehen, daß sie denen des Rasmussen-Reports entsprechen könnten, und daß dann auch für die deutschen Atomkraftwerke das mögliche Eintreten von Unfällen mit schweren Schadensfolgen anerkannt werden müßte.
Und noch einmal stellten die Verfassungsrichter die Verknüpfung her zwischen den möglichen schweren Gefahren und der staatlichen Schutzpflicht: Beim Vergleich von Risiken muß "bei der Art und Schwere dieser Folgen ... bereits eine entfernte Wahrscheinlichkeit ihres Eintritts genügen, um die Schutzpflicht des Gesetzgebers konkret auszulösen." Man kann also nicht beliebig eine Grenze zwischen größerer und geringerer Eintrittswahrscheinlichkeit ziehen, sondern muß die Schwere des Unfalls beachten.
Daraus ergibt sich noch etwas weiteres: Bei der Beantwortung der Frage, ob angesichts des Schadenspotentials von Atomanlagen nur die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts oder dieser mit der Schadensfolge bewertet werden müsse, verwarfen sie nicht nur beide vom Kläger angeführten Möglichkeiten, sondern gingen noch über die zweite hinaus. Eine geringe Gefahr, die relativ häufig eintritt, kann nicht einfach aufgerechnet werden gegen eine große Gefahr mit geringer Eintrittswahrscheinlichkeit. Die Formel "Risiko = Eintrittswahrscheinlichkeit x Schadensfolgen" hat wenig Aussagekraft, wenn es um Unfälle mit schwerwiegenden Folgen geht.
Man darf an dieser Stelle auch nochmal an die Betonung erinnern, die die Richter dem Problem der Risikodiskussion gegeben hatten, indem sie vom "sogenannten Restrisiko" sprachen. Offensichtlich betrachteten sie die Risiken der Atomtechnik nicht einfach als etwas, das die Bevölkerung sich zumuten lassen müßte.
Die Verfassungsrichter waren aber realistisch genug, um nicht zu übersehen, daß es trotz allem Erkenntnisprobleme gibt, wenn man zu Aussagen über die Gefahren der Atomtechnik kommen will.
Hier sollte man aufhorchen.
Erinnert man sich an die Art, wie zu Anfang das Problem des Erkennens der gesellschaftlichen Zukunft behandelt wurde, dann findet man hier Parallelen zu dem Problem des Erkennens von Gefahren der Atomtechnik. Dort war gesagt worden, daß man in Hinsicht auf solche Probleme, für die es keine allgemein anerkannten wissenschaftlichen Erkenntnisverfahren gibt, auch nicht zu einer begründeten Überzeugung kommen kann, sodaß sie sich auch der Beurteilung entziehen. Es waren also vernünftige Zweifel möglich, ob Gefährdungen eintreten oder nicht eintreten würden. Es gibt insofern eine nicht ausräumbare Ungewißheit. Daraus ergebe sich für die Gegenwart eine notwendigerweise mit Ungewißheit belastete Situation. Darin hatten die Richter eine Grenze für die Erkenntnismöglichkeiten erkannt.
Diese Überlegungen griffen die Richter hier wieder auf.
Wir dokumentieren hier in einer Fußnote den gesamten Textabschnitt aus der Kalkar-Entscheidung, in dem der Gedankengang des Bundesverfassunsgerichts formuliert ist, weil er höchst umstritten ist. Unsere eigene Auffassung davon legen wir in den nächsten Abschnitten dar.
Wieder skizzierten die Verfassungsrichter ganz knapp die Probleme: Will man die Möglichkeit künftiger Schäden durch den Betrieb einer Anlage abschätzen, ist man weitgehend darauf angewiesen, aus der Beobachtung vergangener Geschehnisse und der relativen Häufigkeit ihres Eintritts Schlüsse zu ziehen auf den gleichartigen Verlauf gleichartiger Geschehnisse in der Zukunft. Verfügt man noch nicht über genügend viel Erfahrung, dann muß man auch Schlüsse ziehen anhand von simulierten Verläufen, die mit Hilfe von Computermodellen dargestellt werden können. Man kann sagen: Damit gaben die Richter ihrer Überzeugung Ausdruck, daß die verwendeten Computermodellrechnungen allgemein anerkannte wissenschaftliche Erkenntnisverfahren sind. Diese Auffassung konnten sie umso mehr vertreten, als die Deutsche Risikostudie Kernkraftwerke, die mit Hilfe dieser Verfahren erarbeitet wurde, vom BMFT, einer hochoffiziellen Stelle, in Auftrag gegeben worden war. Mit diesen Verfahren können also Erkenntnisse gewonnen werden, mit denen bis dahin vernünftige Zweifel ausgeräumt werden können. Auch Erfahrungswissen dieser Art ist "immer nur Annäherungswissen, das nicht volle Gewißheit vermittelt, sondern durch jede neue Erfahrung korrigierbar ist". Man befindet sich "insofern immer nur auf dem neuesten Stand unwiderlegten möglichen Irrtums". Die nächste neue Erfahrung kann einen davon überzeugen, daß man sich bis dahin geirrt hat. Das traf die wiederholten Behauptungen der Bundesregierung, die Ergebnisse der in Auftrag gegebenen Studie würden ihre bisherige Auffassung über die Sicherheit der Atomkraftwerke bestätigen.
Eine Grenze für die Erkenntnismöglichkeiten oder das menschliche Erkenntnisvermögen ist folglich der neueste Stand von Wissenschaft und Technik.
Das formulierten die Verfassungsrichter auch ausdrücklich: "Was die Schäden an Leben, Gesundheit und Sachgütern anbetrifft, so hat der Gesetzgeber durch die in § 1 Nr. 2 und in § 7 Abs. 2 AtomG niedergelegten Grundsätze der bestmöglichen Gefahrenabwehr und Risikovorsorge einen Maßstab aufgerichtet, der Genehmigungen nur dann zuläßt, wenn es nach dem Stand von Wissenschaft und Technik praktisch ausgeschlossen erscheint, daß solche Schadensereignisse eintreten werden."
Will der Gesetzgeber die Möglichkeit künftiger Schäden durch die Errichtung oder den Betrieb einer Anlage oder durch ein technisches Verfahren abschätzen, ist er weitgehend auf Schlüsse aus der Beobachtung vergangener tatsächlicher Geschehnisse auf die relative Häufigkeit des Eintritts und den gleichartigen Verlauf gleichartiger Geschehnisse in der Zukunft angewiesen; fehlt eine hinreichende Erfahrungsgrundlage hierfür, muß er sich auf Schlüsse aus simulierten Verläufen beschränken. Erfahrungswissen dieser Art, selbst wenn es sich zur Form des naturwissenschaftlichen Gesetzes verdichtet hat, ist, solange menschliche Erfahrung nicht abgeschlossen ist, immer nur Annäherungswissen, das nicht volle Gewißheit vermittelt, sondern durch jede neue Erfahrung korrigierbar ist und sich insofern immer nur auf dem neuesten Stand unwiderlegten möglichen Irrtums befindet. Vom Gesetzgeber im Hinblick auf seine Schutzpflicht eine Regelung zu fordern, die mit absoluter Sicherheit Grundrechtsgefährdungen ausschließt, die aus der Zulassung technischer Anlagen und ihrem Betrieb möglicherweise entstehen können, hieße die Grenzen menschlichen Erkenntnisvermögens verkennen und würde weithin jede staatliche Zulassung der Nutzung von Technik verbannen. Für die Gestaltung der Sozialordnung muß es insoweit bei Abschätzungen anhand praktischer Vernunft bewenden.
Was die Schäden an Leben, Gesundheit und Sachgütern anbetrifft, so hat der Gesetzgeber durch die in § 1 Nr. 2 und in § 7 Abs. 2 AtomG niedergelegten Grundsätze der bestmöglichen Gefahrenabwehr und Risikovorsorge einen Maßstab aufgerichtet, der Genehmigungen nur dann zuläßt, wenn es nach dem Stand von Wissenschaft und Technik praktisch ausgeschlossen erscheint, daß solche Schadensereignisse eintreten werden (Vgl. dazu Breuer, DVBl. 1978, S. 829 ff.; 835 f.). Ungewißheiten jenseits dieser Schwelle praktischer Vernunft haben ihre Ursache in den Grenzen des menschlichen Erkenntnisvermögens; sie sind unentrinnbar und insofern als sozial-adäquate Lasten von allen Bürgern zu tragen.
Nach allem, was sich aus unserer Analyse bisher ergeben hat, muß man hier folgern: Sobald es nach dem Stand der Wissenschaft nicht mehr ausgeschlossen erscheint, daß der Betrieb von Atomanlagen zu Schäden führt, die sich als Grundrechtsverletzungen darstellen, - wenn es für ein konkretes Risiko keine Vorkehrungen zur Eindämmung seiner Folgen gibt, - wenn vielmehr mit dem Eintreten von schweren Unfällen wie zum Beispiel Kernschmelzereignissen gerechnet werden muß, deren Folgen Tote, Kranke, genetisch Geschädigte, Sachschäden, Notwendigkeit von Evakuierungen und langfristige Unbewohnbarkeit durch radioaktive Kontamination, also schwerwiegende Einschränkungen des Grundrechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit und der Unverletzlichkeit der Freiheit der Person sind, - wenn man solche Ereignisse nicht mehr dem unentrinnbar verbleibenden Maß an Unbestimmtheit zuordnen kann, dann gibt es keine Ungewißheit mehr, dann sind Genehmigungen nicht zulässig. Dann ist die Exekutive verpflichtet, ihre neuen Erkenntnisse umzusetzen und von ihrem Versagensermessen Gebrauch zu machen.
Auch das findet man bestätigt. Die Richter erinnerten ausdrücklich an das Zustandekommen des § 7 des Atomgesetzes. Bei der ersten Verabschiedung des Atomgesetzes habe man Übereinkunft darin erzielt, wegen der möglichen Gefahren sei es "in diesem besonderen Fall vertretbar, der Exekutive eine Versagungsmöglichkeit zu geben, wenn dies besondere, nach dem heutigen Stand der Erkenntnisse noch nicht vorhersehbare und deshalb in den Genehmigungsvoraussetzungen nicht erfaßte Umstände erforderten."
Aber auch in die Richtung der Atomkraftgegner äußerten die Verfassungsrichter Kritik. Auch ihnen wurde nahegelegt, sich an die Grenzen menschlichen Erkenntnisvermögens zu halten. Es hieße diese Grenzen verkennen, wollte man "vom Gesetzgeber im Hinblick auf seine Schutzpflicht eine Regelung fordern, die mit absoluter Sicherheit Grundrechtsgefährdungen ausschließt, die aus der Zulassung technischer Anlagen und ihrem Betrieb möglicherweise entstehen können". Bloße Vermutungen über das Gefährdungspotential von Technik reichen nicht aus. Man kann nicht beliebig, ohne Nachweis, behaupten, daß es zu Grundrechtsgefährdungen kommt. Damit würde man "weithin jede staatliche Zulassung der Nutzung von Technik verbannen".
Um das etwas anschaulicher zu machen: Ebenso wenig wie die Propaganda der Bundesregierung über die absolute Sicherheit der deutschen Atomkraftwerke akzeptabel war, waren die von Atomkraftgegnern immer noch gern verwendeten Vergleiche von Atomkraftwerken mit der Atombombe hinnehmbar.
Die Verfassungsrichter setzten ihren Gedankengang fort: "Für die Gestaltung der Sozialordnung muß es insoweit bei Abschätzungen anhand praktischer Vernunft bewenden." Oder: Politik kann man weder auf Hochglanzwerbung noch auf Horrorbilder gründen, man hält sich besser doch an die allgemein anerkannten wissenschaftlichen Erkenntnisverfahren.
"Ungewißheiten jenseits dieser Schwelle praktischer Vernunft", welche durch die allgemein anerkannten Erkenntnisverfahren gekennzeichnet ist, muß man ertragen. Sie "haben ihre Ursache in den Grenzen des menschlichen Erkenntnisvermögens". Diese Ungewißheiten "sind unentrinnbar und insofern als sozial-adäquate Lasten von allen Bürgern zu tragen".
Die Richter bekräftigten ihre Aussage noch einmal: Das Gesetz nimmt "keinen anlagespezifischen Rest- oder Mindestschaden irgendwelcher Art in Kauf, der im Lichte des Grundrechts des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 oder anderer Grundrechte als Grundrechtsverletzung anzusehen wäre". Im Hinblick auf die Art dieser Schäden handelt es sich um völlig neuartige Grundrechtseinschränkungen. Hätte das Atomgesetz sie zugelassen, dann hätte es "das entsprechende Grundrecht gemäß Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG ausdrücklich einschränken müssen".
Nicht jeder kennt das Grundgesetz so gut. Im Artikel 19 Absatz 1 Satz 2 steht: "Soweit nach diesem Grundgesetz ein Grundrecht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes eingeschränkt werden kann, ... muß das Gesetz das Grundrecht unter Angabe des Artikels nennen".
Im Atomgesetz steht nichts davon, daß die Bürger sich wegen der Stromproduktion aus Atomkraftwerken Grundrechtsverletzungen zumuten lassen müßten.
Die Antwort auf die Frage des Klägers nach der Grenze der zulässigen Risiken ist beantwortet: Alles, was durch Erkenntnisverfahren, die dem neuesten Stand der Wissenschaft genügen, ermittelt werden kann und sich dann als Grundrechtsverletzung darstellt, braucht nicht hingenommen zu werden. Nur was jenseits dieser Schwelle praktischer Vernunft liegt, ist als Ungewißheit zu tragen.
Nicht also die "äußerst geringe Eintrittswahrscheinlichkeit" oder das "äußerst unwahrscheinliche Eintreten schwerer Unfälle", von dem die Befürworter behaupteten, die Bevölkerung müsse sie sich als "Restrisiko" zumuten lassen. Ein feiner, aber beachtlicher Unterschied!
Der Gedanke an die möglichen Grundrechtseinschränkungen führte die Richter zurück auf das Thema, das für die Auseinandersetzung in diesem Prozeß besonderes Gewicht hatte. Nach Meinung des OVG Münster standen ja im Hinblick auf die freiheitlich-rechtsstaatliche Lebensordnung der Bundesrepublik Deutschland, ihre innere und äußere Sicherheit und insbesondere im Hinblick auf die Wahrung der Grundrechte politische Folgewirkungen und Zwänge auf dem Spiel, die mit einer Plutoniumwirtschaft einhergehen könnten.
Das BVerfG erkannte ausdrücklich die ernstliche Besorgnis des OVG und anderer Stimmen in der Öffentlichkeit an.
Das BVerfG wies deshalb darauf hin, daß die Vorschriften des Atomgesetzes auch zu solchen Maßnahmen nicht ermächtigen. Auch unter diesem Gesichtspunkt konnte das BVerfG daher keine Grundgesetzverletzung durch § 7 AtG feststellen.
Das wurde von Beteiligten als deutlicher Wink verstanden, die Polizeiübergriffe während der großen Demonstrationen nicht auf sich beruhen zu lassen. Später hat das Bundesverfassungsgericht derartige Polizeiaktionen wie die gegen die Kalkar-Demonstranten für verfassungswidrig erklärt.
In der Reihe der Entscheidungen, in denen Gerichte sich mit der Notwendigkeit von qualitativen oder probabilistischen Risikoanalysen auseinandergesetzt hatten, ist die Kalkar-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts als ein weiterer Schritt zu erkennen. Hatte der VGH Mannheim im Oktober 1975 noch gefordert, zur Risikobeurteilung müßten das Ausmaß des denkbaren Schadens und die Wahrscheinlichkeit seines Eintritts näher aufgeklärt werden, konnte das Bundesverfassungsgericht 1978 schon voraussehen, daß für die Beurteilung der Ergebnisse solcher Aufklärungsprozesse ein Maßstab entwickelt werden müßte.
Es muß wahrhaftig damals ziemlich schwierig gewesen sein, sich zwischen den verschiedenen Streitenden in den Auseinandersetzungen um die Atomtechnik eine einigermaßen unabhängige Position zu bewahren. Darauf mußte gerade das Bundesverfassungsgericht bedacht sein, wenn es den Schutz der Grundrechte durchsetzen wollte, wie es seine Aufgabe ist. Es bewältigte diese schwierige Aufgabe auf folgende Weise: Es ging aus vom allgemein Anerkannten, dem Schutzzweck des Atomgesetzes. Dann stimmte es der einleuchtenden Darstellung zu, die die Landesregierung von den Grenzen der Erkenntnis in die gesellschaftliche Zukunft gegeben hatte. Schließlich entwickelte es eine Parallele zu dieser Darstellung auf dem umstrittenen Feld des technisch-wissenschaftlichen Bereichs; so konnte es sich einerseits für die Einbeziehung des zukünftigen neuen Standes von Wissenschaft und Technik entscheiden, andererseits aber auch darauf aufmerksam machen, daß man die Grenzen menschlichen Erkenntnisvermögens nicht aus den Augen verlieren darf. So gelang es ihm, der Restrisikoformel der Atomenergiebefürworter zu entgehen.
Das Kalkar-Urteil wurde aber bald nach seiner Veröffentlichung gründlich mißverstanden. Dem Bundesverfassungsgericht wurde unterstellt, es habe die Auffassung der Atomenergiebefürworter vom "Restrisiko" übernommen und bestätigt.
In die schriftliche Begründung der Kalkar-Entscheidung fügten die Verfassungsrichter an zwei Stellen Hinweise auf einen Aufsatz ein, der erst im Oktober 1978 nach der mündlichen Verhandlung veröffentlicht worden war. Es handelt sich um einen Artikel mit dem Titel "Gefahrenabwehr und Risikovorsorge im Atomrecht" von Breuer (DVBl. 1978). Das hat bald nach Veröffentlichung der Begründung zu einer Ausdeutung der Kalkar-Entscheidung Anlaß gegeben, die weite Verbreitung gefunden hat.
In seinem Aufsatz setzte Breuer sich mit der probabilistischen Risikoanalyse mit Hilfe der Wahrscheinlichkeitsrechnung auseinander, wie sie im Rasmussen-Report angewendet worden war. Er entwickelte Einwände dagegen, um mit deren Hilfe einen "Standard der praktischen Vernunft" zu konstruieren.
Er griff das Problem auf, daß die Eintrittswahrscheinlichkeit von relativ seltenen Ereignissen nicht genau bestimmt werden kann. Viele Kritiker des Rasmussen-Reports hatten daraus abgeleitet, daß die Eintrittswahrscheinlichkeiten von Kernschmelzunfällen tatsächlich weit höher angesetzt werden müßten als im Rasmussen-Report angegeben. Wenn man sich auf die Formel "Risiko = Eintrittswahrscheinlichkeit x Schadensfolgen" einließ, dann ergab sich daraus, daß das Risiko weit höher sei als im Rasmussen-Report ermittelt.
Breuer ging in eine andere Richtung vor.
Die der probabilistischen Risikoanalyse zugrundeliegende mathematische Vorgehensweise der Wahrscheinlichkeitsrechnung schließe mit ein, daß die Eintrittswahrscheinlichkeit auf eine beliebig kleine Zahl, nie aber auf Null sinken könne. Aus diesem Grunde lasse es sich nicht rational begründen, ob eine Gefahr bei der Eintrittswahrscheinlichkeit eines bestimmten Schadensereignisses von 10-5, 10-6 oder 10-7 pro Jahr oder einer kleineren oder größeren Zahl beginne. Daher könne ein brauchbarer Standard für die zum Gefahrenbegriff gehörende Eintrittswahrscheinlichkeit nicht ausschließlich oder primär durch die Probabilistik gewonnen werden.
Breuer suchte also nach einer Möglichkeit, zwischen geringerer und größerer Eintrittswahrscheinlichkeit eine Grenze zu ziehen, durch die das hinzunehmende Risiko bestimmt werden könnte. Er stützte seine Argumentation darauf, mit Hilfe der Probabilistik sei sie nicht zu finden.
Er wies darauf hin, daß der Gefahrenbegriff, der eine Art Generalklausel ist, vom "Rechtsanwender" - von der Genehmigungsbehörde oder vom Gericht - "konkretisiert", also mit nachvollziehbaren Aussagen über die tatsächliche Gefahr ausgefüllt werden muß. Genau das war das Problem, mit dem das Bundesverfassungsgericht sich in der Kalkar-Entscheidung abgemüht hatte.
Man hätte dieses Problem, wenn, wie Breuer schrieb, "nicht etwa das Gesetz eine bestimmte Grenzzahl der zulässigen Eintrittswahrscheinlichkeit vorschreibt." Aber, darf man auf einen Widerspruch hinweisen, der sich hier in Breuers Gedankenführung versteckt: auch eine durchs Gesetz festgelegte Grenzzahl wäre aus der Luft gegriffen.
Breuer ging denn auch anders vor.
Es verbleibe nur die Möglichkeit, den maßgeblichen Standard für die zum Gefahrenbegriff gehörende Eintrittswahrscheinlichkeit primär aus der "deterministischen" Betrachtungsweise zu entwickeln.
Er lehnte es also schlicht ganz ab, Ergebnisse der Probabilistik zu beachten. Damit brauchte er sich um schwere Schadensfolgen nicht mehr zu kümmern. Das geht auch deutlich aus seiner weiteren Argumentation hervor.
Der "deterministischen" Betrachtungsweise entspreche nämlich das Postulat, daß gegen alle erkannten Ursachen für Störfälle und Unfälle effektive Vorsorge getroffen werden müsse.
Was haben wir da? Die Vorgehensweise, die für das GAU-Konzept oder das Projekt Nukleare Sicherheit charakteristisch war, deren Hauptziel die "Erhöhung der Sicherheit" war.
Breuers nächster Schritt war, aus der "deterministischen" Betrachtungsweise und dem ihr entsprechenden Postulat resultiere ein Standard der praktischen Vernunft. Danach brauche ein Schadenseintritt "nicht mehr in Betracht gezogen zu werden, wenn es aufgrund der getroffenen Vorsorgemaßnahmen und des Erkenntnisstandes der führenden Naturwissenschaftler und Techniker praktisch nicht vorstellbar ist, daß ein bestimmtes Schadensereignis eintritt."
Da wären wir wieder angelangt beim "subjektiven Gefühl des erfahrenen Ingenieurs".
Ist das nicht eine unerlaubte Übertreibung?
Nein, denn Breuer gab es in anderen Worten selbst zu: Bei Berücksichtigung "des Erkenntnisstandes der führenden Naturwissenschaftler und Techniker" sei der Schadenseintritt "zwar nicht absolut, d.h. natur- oder denkgesetzlich, wohl aber praktisch ausgeschlossen".
Was kümmern den "führenden Naturwissenschaftler und Techniker" schon die Naturgesetze und die Logik! Er darf sich allein auf "seinen Erkenntnisstand" verlassen!
Ein bißchen weniger sarkastisch ausgedrückt: Breuer fällt zurück auf den Stand, den das Bundesverfassungsgericht charakterisiert hatte als ausreichend für die einfacheren Probleme des technischen Sicherheitsrechts, z.B. für die Schutzanforderungen beim Maschinenschutz. Behörden und Gerichte können sich hier zur Beurteilung darauf beschränken, was jeweils die herrschende Auffassung ist. Es muß dafür kein wissenschaftlicher Nachweis erbracht werden.
Breuer hatte für seinen Artikel Äußerungen der maßgeblichen Fachleute der Reaktorsicherheitskommission RSK herangezogen. Sie und die anderen Beratergruppen der Bundesregierung in der GRS und beim KfK darf man als die "führenden Naturwissenschaftler und Techniker" verstehen, die es "praktisch nicht vorstellbar" finden konnten, daß "ein bestimmtes Schadensereignis" eintreten kann, das über den GAU, den angeblich technisch beherrschten Unfall hinausgeht, denn ein solches Ereignis sei "äußerst unwahrscheinlich".
Die Schlußfolgerung aus Breuers Gedankengang ist: Die Bevölkerung muß sich als "Restrisiko" zumuten lassen, was eine bestimmte Gruppe von Wissenschaftlern zum Restrisiko erklärt.
Das Bundesverfassungsgericht sah genau das anders.
Wir wiederholen:
Es muß grundsätzlich jede Art von anlage- und betriebsspezifischen Schäden, Gefahren und Risiken in Bedacht genommen werden.
Es muß diejenige Vorsorge gegen Schäden getroffen werden, die nach den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen für erforderlich gehalten wird. Läßt sie sich technisch noch nicht verwirklichen, darf die Genehmigung nicht erteilt werden; die erforderliche Vorsorge wird mithin nicht durch das technisch gegenwärtig Machbare begrenzt.
Das schließt selbstverständlich, sobald sie vorliegen, die Ergebnisse der probabilistischen Deutschen Risikostudie Kernkraftwerke ein.
Vielleicht ist es nützlich, sich zu merken: Wenn "führende Naturwissenschaftler und Techniker" es für "praktisch ausgeschlossen" erklären, daß ein bestimmtes Schadensereignis eintritt, dann ist es nicht naturgesetzlich ausgeschlossen, daß es eintritt.
Es blieb dem Bundesverwaltungsgericht überlassen, Breuers Auffassung für so faszinierend zu halten, daß es sie mit der des Bundesverfassungsgerichts gleichsetzte.
Am 22. Dezember 1980 entschied es in den Auseinandersetzungen um das Atomkraftwerk Stade.
Der Kläger hatte sich insbesondere gegen die mit dem Normalbetrieb des Kernkraftwerks verbundenen Gefahren gewendet. Es ging also nicht um die außerordentlichen Gefahren, sondern um den Streit um die Grenzwerte der Strahlenschutzverordnung.
Das BVerwG unterstellte dem Kläger, er verlange, "vor jedweder von einem Kernkraftwerk ausgehenden ionisierenden Strahlung geschützt zu sein". Ein derartiges Recht gebe es aber nicht. Nach § 7 Abs. 2 Nr. 3 AtG sei nur die nach dem Stand von Wissenschaft und Technik erforderliche Vorsorge zu treffen. Zur Begründung führte es an: "Dies schließt die Hinnahme eines gewissen, nach den Maßstäben praktischer Vernunft aber nicht mehr in Rechnung zu stellenden Restrisikos mit ein. Ein derartiges, letztlich auf die Begrenzung menschlichen Erkenntnisvermögens zurückzuführendes Restrisiko ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden (vgl. BVerfG 49, 89, 143)." Es verwies also auf den Abschnitt in der Kalkar-Entscheidung, den wir weiter vorn in der Fußnote auf Seite 60 dokumentiert haben. Das BVerwG zitierte aber nicht wörtlich, sondern benutzte eine andere Formulierung und behauptete, das Bundesverfassungs-gericht habe sich Breuers Erwägungen zu eigen gemacht.
In der Formulierung des Bundesverwaltungsgericht sind auf diffizile Weise Teile der Aussagen der Verfassungsrichter vermengt mit denen Breuers. Erst dadurch ist es zu einer Gleichsetzung dieser Aussagen gekommen, die, wenn man jede für sich als Ganzes liest, einander völlig widersprechen.
Das Bundesverwaltungsgericht hat dann aus seinem eigenen Konstrukt geschlossen, daß der Kläger nicht klagebefugt sei.
Sendler, der damalige Präsident des Bundesverwaltungsgerichts, der auch Vorsitzender des für das Atomrecht zuständigen 7. Senats des Gerichts war, hat auch später aus seiner Faszination für Breuers Ausführungen kein Hehl gemacht. Beispielsweise befaßte er sich mehrfach zustimmend mit Breuers Idee, daß sich nicht real begründen lasse, ob eine Gefahr bei der Eintrittswahrscheinlichkeit eines bestimmten Schadensereignisses von 10-5, 10-6 oder 10-7 pro Jahr beginne. Er scheint gar nicht verstanden zu haben, daß das Bundesverfassungsgericht diese ganze Fragestellung nicht akzeptiert hatte. In einem Aufsatz, den Sendler 1981 veröffentlichte, nannte er Breuer einen "Gewährsmann des Bundesverwaltungsgerichts".
Mit Sendler hatte eine angesehene Autorität gesprochen. Von nun an konnte sich die Interpretation weithin durchsetzen, das Bundesverfassungsgericht habe juristisch das "Restrisiko" so definiert, daß es vernachlässigt und der Bevölkerung als "sozial-adäquate Last" auferlegt werden kann.
Dazu mag auch beigetragen haben, daß sich bei vielen Atomkraftgegnern Enttäuschung darüber ausbreitete, daß das Bundesverfassungsgericht sich nicht radikal gegen die Atomenergienutzung ausgesprochen hatte. Vielerorts war man der wissenschaftlich geführten Auseinandersetzung längst überdrüssig. Zur Mobilisierung reichte das Wissen um das große Gefährdungspotential von Atomanlagen im allgemeinen aus.
Nicht unwesentlichen Einfluß hatte damals das Buch von Holger Strohm "Friedlich in die Katastrophe". Strohm hat mit größtem Fleiß Informationen über alle Probleme der Atomtechnik zusammengetragen. Dieses Buch war lange Zeit sehr verbreitet. Es hat zahlreichen Bürgerinitiativen als reichhaltige Quelle für ihre Argumente gedient. Zum Rasmussen-Report und zur Methodik von probabilistischen Risikoanalysen findet man darin aber nur harsche Kritik, die gerade an der Problematik der Ungenauigkeit der Eintrittswahrscheinlichkeiten ansetzt, also gerade an dem Punkt, an den Breuer angeknüpft hatte. Strohm kam von daher zur völligen Ablehnung dieser Methoden. Daß man von dieser Vorgehensweise ausgehend neue wissenschaftliche Erkenntnisse über Unfallabläufe und Unfallfolgen entwickeln könnte, ist Strohm und mit ihm dem Großteil seiner Leser entgangen.
Man findet zum Beispiel Äußerungen von Vertretern der Bürgerinitiativen wie: Mit dem Kalkar-Urteil "ist alles legitimiert und legalisiert."
Diese Stimmung dürfte erheblich dazu beigetragen haben, daß der von Breuer vorbereiteten und vom Bundesverwaltungsgericht den Verfassungsrichtern untergeschobenen Formulierung des "Restrisikos" kaum etwas entgegengesetzt werden konnte.
Das Beteiligungsrecht im atomrechtlichen Genehmigungs-verfahren dient dem Schutz des Grundrechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit
In der Kalkar-Entscheidung von 1978 hatte sich das Bundesverfassungsgericht mit den Schutzverpflichtungen von Gesetzgeber, Exekutive und Rechtsprechung auseinandergesetzt, die sich aus den Grundrechtsforderungen der Verfassung und des Atomgesetzes ergeben. Ein Jahr später in der Mülheim-Kärlich-Entscheidung mußte es sich mit der grundrechtlich relevanten Schutzfunktion der Rechtsschutzrechte der Bürger befassen, von der Verfassungsbeschwerde und den Klagerechten vor Gericht bis hin zum Beteiligungsrecht im atomrechtlichen Genehmigungsverfahren.
Das AKW Mülheim-Kärlich entsprach schon damals nicht dem Stand von Sicherheit und Technik in der Bundesrepublik, der zu jener Zeit durch die neueren von der KWU errichteten Anlagen bezeichnet wurde. Seine Konstruktion ist vergleichbar mit den Atomkraftwerken, die von der Firma Babcock & Wilcox in den USA errichtet wurden, zu denen auch die beiden Anlagen von Three Mile Island bei Harrisburg gehören.
Den Bauantrag für das AKW Mülheim-Kärlich hatte die RWE 1972 gestellt. Im November 1973 fand der atomrechtliche Erörterungstermin statt. Am 9. Januar 1975 erteilte die Genehmigungsbehörde die Erste Teilgenehmigung. Die Realisierung der Bauausführung hatte sie von sogenannten Freigabe-Bescheiden abhängig gemacht - einer "Art von Genehmigung", die im Atomgesetz nicht vorgesehen ist.
Aber die Sache hatte einen Haken.
In den Unterlagen, die im Erörterungstermin vorgelegen hatten, war für die Anlage eine Kompaktbauweise beschrieben, in der alle Anlagenteile nahtlos aneinander gebaut sein sollten. Diese Kompaktbauweise war zum besseren Schutz gegen Flugzeugabsturz und Explosionsdruckwellen empfohlen worden. Erst nach dem Erörterungstermin waren Untersuchungen durchgeführt worden, in denen festgestellt worden war, daß das Atomkraftwerk direkt auf der Grenze von zwei geologischen Schollen stehen würde und daß deshalb von einer erhöhten Erdbebengefährdung ausgegangen werden mußte. Daraufhin hatten sich RWE und Genehmigungsbehörde geeinigt, von der im Erörterungstermin vorgelegten Planfassung wesentlich abzuweichen. Die Anlage sollte nun in zwei voneinander getrennten Komplexen errichtet werden, je einer auf einer der beiden Schollen, mit einer offenen Gasse zwischen den beiden Gebäudegruppen. Diese neue Gebäudeanordnung ergab sich erst aus Unterlagen, die bei der Genehmigungsbehörde mit den Anträgen für die Freigabebescheide erst nach der ersten Teilgenehmigung eingereicht wurden.
Nun gab es aber ein Gefährdungspotential, das bisher nicht berücksichtigt werden mußte. Nun mußte auf einmal damit gerechnet werden, daß es auf der im Westen am Kraftwerksgelände entlangführenden Hauptlinie der Bundesbahn oder dem unmittelbar östlich vorbeifließenden Rhein bei Transportunfällen zum Ausströmen von Gasen kommen könnte. Falls diese in der engen Gasse zwischen den beiden Gebäudekomplexen explodieren würden, würde das schwere Schäden an beiden Gebäudegruppen verursachen können.
Im März 1975 hatte der TÜV Rheinland sich als Gutachter dazu geäußert. Die Gesamtanordnung der Anlage sei in wesentlichen Punkten geändert. Es könnten sich nun zwar ungünstigere radiologische Auswirkungen ergeben, die Belastung bleibe aber unter den höchstzulässigen Werten. Im übrigen schlug der TÜV vor, die Gasse durch weitere bauliche Maßnahmen wieder zu schließen.
Die Genehmigungsbehörde hatte es allerdings trotz dieser umfangreichen Planänderungen nicht für nötig gehalten, erneut zu einem Verfahren der Beteiligung der Öffentlichkeit einzuladen. Nachdem der TÜV Rheinland im April 1975 sein Gutachten abgeliefert hatte, hatte sie kurzerhand den nach ihrer Meinung nicht anfechtbaren siebten Freigabe-Bescheid erlassen und obendrein seine sofortige Vollziehung angeordnet. Unter Ausnutzung dieser Behördenanordnung waren die Fundamentierungsarbeiten für die getrennt liegenden Bauteile begonnen worden.
Die Genehmigungsbehörde hatte also den Betreibern erlaubt, die Gebäude in der geänderten Anordnung unter völliger Ausschaltung betroffener Dritter zu errichten. Die Betroffenen hatten weder Einblick in die Bauunterlagen, noch die Möglichkeit zum Erheben von Einwendungen und ihrer Erörterung gehabt. Obendrein hatte die Genehmigungsbehörde mit der sofortigen Vollziehbarkeit des Freigabebescheids auch noch verhindert, daß betroffene Dritte die Zulässigkeit der Änderungen wenigstens vor deren Verwirklichung durch die Gerichte überprüfen lassen konnten.
Diese Kombination war das genaue Gegenteil einer Verfahrensgestaltung, die auf bestmöglichen Grundrechtsschutz ausgerichtet ist.
Die Klägerin, die nur 7 km von dem AKW entfernt in Koblenz wohnte, hatte sich schon gegen die Erste Teilgenehmigung und mehrere der Freigabe-Bescheide an die Gerichte gewendet. Gegen die sofortige Vollziehbarkeit des siebten Freigabe-Bescheids hatte sie die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage beantragt.
Das Verwaltungsgericht Koblenz hatte ihr recht gegeben. Es vertrat die Auffassung, die angefochtene Freigabe verletze die Beschwerdeführerin in ihren Rechten. Der Zweck der Vorschriften des Genehmigungsverfahrens seien Transparenz und weitgehende Publizität. Diese sollten es weiten Bevölkerungskreisen ermöglichen, ihre durch das Atomgesetz geschützten Rechte vor Schaffung vollendeter Tatsachen geltend zu machen. Der Gesetzgeber habe auch im Interesse der Nachbarn im Umkreis der Anlage durch diese Vorschriften sicherstellen wollen, daß alle sicherheitstechnisch wichtigen Anlageteile und Systeme vor ihrer Errichtung einer genauen Prüfung im Genehmigungsverfahren unterzogen würden. Dieses Anliegen des Gesetzgebers werde unterlaufen, wenn wesentliche Anlagenteile ohne ein Beteiligungsverfahren und abweichend vom Genehmigungsbescheid in veränderter Form errichtet werden dürften nur aufgrund eines Freigabebescheids, bei dem diese strengen Voraussetzungen nicht existierten.
Das Oberverwaltungsgericht wies die Klage jedoch ab und erklärte die sofortige Vollziehung der siebten Freigabe für zulässig.
Gegen diesen Beschluß hatte die Klägerin Verfassungsbeschwerde erhoben. Sie hatte gerügt, sie werde durch die Anordnung der sofortigen Vollziehung des siebten Freigabebescheids in ihrem Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit und in der durch Art. 19 Abs. 4 GG gewährleisteten Rechtsschutzgarantie verletzt. Es habe nur in einem neuen Genehmigungsverfahren unter Beteiligung der Öffentlichkeit entschieden werden dürfen, ob die geänderte Anordnung der Gebäude den Schutz Dritter gewährleiste. Inzwischen seien mit der errichteten Bausubstanz vollendete Tatsachen geschaffen, die zukünftige Entscheidungen von Behörden und Gerichten zunehmend beeinflussen würden. Dadurch werde der verfassungsrechtlich verbürgte Rechtsschutz des Bürgers unterlaufen. Die Genehmigungsbehörde habe offensichtlich die strengen Vorschriften verletzt,die dem Schutz der Rechte auf Leben und körperliche Unversehrtheit dienen.
Als ihr die Verfassungsbeschwerde bekannt geworden war, erließ die Genehmigungsbehörde "vorsorglich" eine Zweite Teilgenehmigung, mit der ausdrücklich die geänderte Gesamtanordnung der Gebäude erlaubt werden sollte, und erklärte sie für sofort vollziehbar. Auch diesmal glaubte sie, auf ein Beteiligungsverfahren mit Auslegung der Unterlagen und Erörterung verzichten zu können.
Während bereits die Ausschachtungsarbeiten für die getrennt liegenden Bauteile ausgeführt wurden, hatte der TÜV Rheinland im April 1977 eine weitere Stellungnahme nachgeliefert. Darin hatte er sich für diese geänderte Gebäudeanordnung ausgesprochen und damit die Schaffung rechtlich problematischer Fakten unterstützt.
In der Folgezeit hatte die Genehmigungsbehörde noch zwei weitere Teilgenehmigungen erlassen.
Im Herbst 1979 war das Atomkraftwerk Mülheim-Kärlich weitgehend errichtet.
Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts entschied über die Verfassungsbeschwerde am 20. Dezember 1979.
Auch diesmal haben verschiedene interessierte Parteien Stellung genommen.
Die Genehmigungsbehörde und die RWE hielten die Verfassungsbeschwerde für unbegründet. Sie verschanzten sich dahinter, das Oberverwaltungsgericht habe schon richtig angenommen, daß die Änderung der Gebäudeanordnung aus Sicherheitsgründen erfolgt und als Verbesserung zu beurteilen sei.
Die Genehmigungsbehörde sei davon ausgegangen, wegen eines Vorbehalts in der Ersten Teilgenehmigung hätte sie die Möglichkeit gehabt, die Pläne "in Anpassung an den jeweiligen Stand von Wissenschaft und Technik weiterzuentwickeln". Auch der TÜV Rheinland als Gutachter habe sich im April 1975 positiv geäußert. Deshalb stehe für die Genehmigungsbehörde fest, daß die Änderung ein erhöhtes Maß an Sicherheit bewirke. Von einer Verletzung der Grundrechte der Beschwerdeführerin auf Leben und körperliche Unversehrtheit durch die siebte Freigabe könne somit keine Rede sein.
Das Bundesinnenministerium unterstützte diese Auffassung.
Es habe wie üblich nach Anhörung der Reaktorsicherheitskommission zum Inhalt der Ersten Teilgenehmigung eine Weisung erteilt; wie die Behörde das weitere Verfahren ausgestaltet habe, wisse man nicht. Das Ministerium behauptete, die Genehmigungsbehörde habe die Aufgabe, "projektbegleitend die zu genehmigende Anlage fortlaufend dem sich wandelnden Stand von Wissenschaft und Technik anzupassen". Auch bereits erteilte Genehmigungen müsse sie deshalb, um fortschreitende Erkenntnisse zu berücksichtigen, modifizieren. Dadurch werde bereits bei der Errichtung der Anlage eine optimale sicherheitstechnische Auslegung gewährleistet.
Die Freigaben seien "Teil-Verwaltungsakte". In ihnen sei es um die bloß grundsätzliche Zulässigkeit der Gesamtkonzeption der Anlage gegangen, und die sei schon von der ersten Bekanntmachung und Auslegung erfaßt worden. Deshalb sei auch kein neues Bekanntmachungsverfahren mit Öffentlichkeitsbeteiligung erforderlich gewesen.
Es war sogar behauptet worden, Verfassungsbeschwerden müßten während der Errichtungsphase eines Atomkraftwerks grundsätzlich als unzulässig behandelt werden, weil eine unmittelbare und gegenwärtige Gefahr für Leben und Gesundheit nicht von den baulichen Maßnahmen, sondern erst vom Betrieb eines solchen Kraftwerks ausginge. Als wäre nicht seit der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts zu Würgassen von 1972 anerkannt gewesen, schon bei der Erteilung von Errichtungsgenehmigungen müßten die nachteiligen Folgen des Betriebs geprüft werden.
Auch das Oberverwaltungsgericht vertrat die Ansicht, die Klägerin werde erst durch den Betrieb, nicht dagegen durch die Errichtung des Kernkraftwerks in schützenswerten Rechten beeinträchtigt.
Anders als das Verwaltungsgericht war das Oberverwaltungsgericht der Auffassung, grundsätzlich hätte nur das,was juristisch materiell-rechtliche Vorschriften genannt wird, eine Schutzfunktion für Dritte. Das heißt, Klagen wären nur möglich, wenn der Betroffene sich direkt gegen mögliche Gefährdungen wendete. Die formell-rechtlichen Vorschriften, durch die eine bestimmte Art von Genehmigungsverfahren vorgeschrieben wird, hätten eine solche Schutzfunktion nicht. Deshalb könne die Beschwerdeführerin ihr Klagerecht nicht daraus herleiten, die geänderte Gebäudeanordnung habe nur nach einem neuen Beteiligungsverfahren mit einer weiteren atomrechtlichen Genehmigung zugelassen werden dürfen. Der Frage, ob sie in ihrem schützenswerten Rechten verletzt sei, könne erst im Rahmen des noch schwebenden Gerichtsverfahrens gegen die Erste Teilgenehmigung nachgegangen werden. Es sei auch nicht notwendig, die Bauarbeiten zu unterbrechen. Ihre Fortsetzung führe nicht zu einer irreparablen Rechtsbeeinträchtigung der Beschwerdeführerin, denn die Errichtung der Gebäude bewirke nichts "Unabänderliches". Werde nämlich der Betrieb nicht aufgenommen, so habe die RWE für die Beseitigung der Anlage zu sorgen. Daß durch die mit der Errichtung verbundenen hohen Investitionskosten ein - wenn auch nur unbewußter - Einfluß auf spätere gerichtliche Entscheidungen ausgeübt werden könnte, sei nicht zu befürchten.
Die Beschwerdeführerin wurde ebenfalls von verschiedenen Seiten unterstützt.
Der Umweltbeauftragte der Evangelischen Kirche in Deutschland bezog sich auf ein Gutachten von Prof. Bender aus Freiburg.
Der Staat sei dazu berufen, die Grundrechte schon vorbeugend zu sichern.
Der sogenannte Suspensiveffekt oder die aufschiebende Wirkung einer Anfechtungsklage, der dazu führt, daß das gesamte Verfahren aufgehalten wird - diene dem Schutz der Grundrechte.
Atomrechtliche Genehmigungen belasten Dritte als Betroffene mit bestimmten Beschränkungen ihrer Rechte. Die Effektivität des Rechtsschutzes hat für sie eine erhebliche Tragweite, insbesondere was die Sicherung bedeutsamer, grundrechtlich geschützter Lebensgüter angeht. Deshalb müssen entgegenstehende Interessen wie die der Betreiber vorübergehend bis zur Klärung der rechtlichen Streitfragen zurücktreten.
An der Gewährleistung einer Sicherheit, die dem Schutzzweck des AtG entspricht, bestehe auch ein außerordentliches öffentliches Interesse.
Wenn der siebte Freigabebescheid wirklich eine wesentliche Abweichung von der Ersten Teilgenehmigung enthalten sollte, habe die Genehmigungsbehörde der Beschwerdeführerin zu Unrecht keine Möglichkeit gegeben, sich im Rahmen des Genehmigungsverfahrens mit seinen besonderen Regeln im Wege der Erhebung von Einwendungen und der Erörterung dieser Einwendungen zu äußern.
Der Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz und die Bürgeraktion Atomschutz Mittelrhein trugen weitere Argumente vor.
Es sei unvereinbar mit den Grundrechten der Beschwerdeführerin, wenn das OVG die Erste Teilgenehmigung mit ihren Auflagen dahin auslege, daß die Anlage ohne besondere Genehmigung in ihrer Lage geändert werden dürfe.
Die Teilgenehmigung nach Atomrecht habe die Funktion, die Rechtsposition der Antragsteller und die der Beschwerdeführerin voneinander abzugrenzen und sich daraus ergebende Rechte und Rechtseinschränkungen der einen und der anderen Seite zuzuordnen; das habe eine Einschränkung der Rechte der Klägerin aus Art. 2 Abs. 2 Grundgesetz - Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit - zur Folge. Diese Abgrenzungs- und Zuordnungsfunktion gehe verloren, wenn das OVG die Teilgenehmigung so auslegen dürfe, daß das Atomkraftwerk ohne besondere Genehmigung auf eine Weise in seiner Lage geändert werden dürfe, daß sich dadurch möglicherweise die Gefahren für den Dritten erhöhten. Dadurch würden die Grundrechte der Beschwerdeführerin auf Leben und körperliche Unversehrtheit beeinträchtigt. Zugleich sei das unvereinbar mit Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz, denn nach rechtsstaatlichen Verfahrensgrundsätzen dürften die Rechte der Nachbarn nur durch eine förmliche Genehmigung beschränkt werden; nur dann hätten sie die Möglichkeit, gegen eine Rechtsverletzung durch die Behörde die Gerichte anzurufen. Bei Beachtung dieser Verfassungsgrundsätze habe das Gericht zum Ergebnis gelangen müssen, daß der Freigabebescheid offensichtlich rechtswidrig gewesen sei.
Verfassungsrechtlich unhaltbar sei ferner die Auffassung, die Beschwerdeführerin könne nicht geltend machen, daß verfahrensrechtliche Vorschriften verletzt worden seien. Bestehe ein ein bestimmtes förmliches Verfahren, wie es im Atomrecht das Beteiligungsverfahren ist, so habe der Bürger einen Anspruch auf Einhaltung der Verfahrensvorschriften, der ebenfalls durch Art. 19 Abs. 4 GG geschützt werde. Gerade das atomrechtliche Genehmigungsverfahren und die Beteiligung des Bürgers daran diene entgegen der Auffassung des Oberverwaltungsgerichts nicht nur der Information der Behörden, sondern zugleich dazu, die Rechte des Bürgers zu wahren. Verfahrens-verstöße im Genehmigungsverfahren dürften schon deshalb nicht sanktionslos bleiben, weil mit Ablauf der Auslegungsfrist alle Einwendungen ausgeschlossen seien und weil nach Meinung mehrerer Gerichte infolge dieser Ausschließungs- oder Präklusions-vorschrift spätere Einwendungen auch in einer späteren Anfechtungsklage nicht mehr geltend gemacht werden dürften.
Endlich stehe auch die Interessenabwägung, die das Oberverwaltungsgericht vorgenommen hatte, nicht im Einklang mit der Wertordnung des Grundgesetzes. Wenn das OVG das Interesse an einer Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung bei Teilerrichtungsgenehmigungen deshalb verneine, weil der Nachbar erst durch den späteren Betrieb der Anlage in seinen Rechten beeinträchtigt werde. sei das unzulässig. Das Gericht verwechsle die Beeinträchtigung der Rechte und die faktische Beeinträchtigung der geschützten Güter. Der Rechtsschutz des Nachbarn setze nicht erst ein, wenn dieser tatsächlich körperlich verletzt sei, sondern bereits dann, wenn dem Betreiber die Errichtung einer Anlage genehmigt werde, die beim späteren Betrieb zu einer Beeinträchtigung von Leben und Gesundheit führen müsse. Das Recht des Nachbarn sei darauf gerichtet, daß nur ein Werk errichtet werde, das bei späterem Betrieb seine Rechte nicht verletze. Seine Grundrechte geböten es, dieses schützenswerte Interesse auch bei der Abwägung im Rahmen der aufschiebenden Wirkung der Klage zu berücksichtigen.
Die Grundrechtsverletzung durch die beanstandete Freigabe und deren sofortige Vollziehung werde durch die spätere Zweite Teilgenehmigung nicht geheilt. Diese beziehe sich auf den gleichen Sachverhalt bei Planung und Bau der Anlage wie die Erste Teilgenehmigung, wobei sich beide widersprächen. Es gab ja nun eine Genehmigung für die ursprüngliche Kompaktbauweise und eine für die getrennten Gebäudekomplexe. Dies sei unzulässig.
Im übrigen hätte auch der zweiten Teilgenehmigung ein förmliches atomrechtliches Beteiligungsverfahren vorangehen müssen. Es habe nicht erörtert werden können, daß entgegen den Ausführungen in der Begründung der Zweiten Teilgenehmigung durch das bloße Verschließen der Gasse zwischen den beiden Gebäudekomplexen die Schutzfunktion der ursprünglichen Kompaktbauweise nicht wiederhergestellt werde.
Die Verfassungsrichter widersprachen dem Bundesinnenministerium, der Genehmigungsbehörde und der RWE AG, was die Zulässigkeit von Verfassungsbeschwerden in der Bauphase eines Atomkraftwerks angeht.
Sie waren sich auch darin einig, daß es unvereinbar mit den Grundrechten der Beschwerdeführerin war, wenn das OVG die Auffassung vertrat, die Erste Teilgenehmigung mit ihren Auflagen könne so ausgelegt werden, daß die Anlage ohne besondere Genehmigung in ihrer Lage geändert werden dürfe. Sie erinnerten an das Urteil des Bundesverwaltungsgericht zu Würgassen von 1972. Seitdem ist anerkannt, daß effektiver Grundrechtsschutz gegen Gefährdungen nur dann zuverlässig gewährleistet ist, wenn die notwendigen Schutzvorkehrungen bereits bei Planung und Errichtung der Anlage berücksichtigt werden. Deshalb müssen schon bei der Erteilung von Errichtungsgenehmigungen die nachteiligen Folgen des Betriebs geprüft werden. Das kann nur in dem dafür vorgeschriebenen Genehmigungsverfahren geschehen.
Aus dem Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit des Art. 2 Abs. 2 Grundgesetz, das bei der Erteilung atomrechtlicher Errichtungsgenehmigungen besonders beachtet werden muß, und aus dem Gebot effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz ergeben sich erhöhte Ansprüche an die Einhaltung der rechtlichen Regelungen für das Genehmigungsverfahren.
Es mußte also nachgeprüft werden, ob das OVG diese Anforderungen bei der Entscheidung über die sofortige Vollziehung der siebten Freigabe hinreichend beachtet hatte.
Das Bundesverfassungsgericht bestätigte die Auffassungen derjenigen, die die Kläge-rin mit ihren Argumenten unterstützten.
Das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Grundgesetz ist als subjektives Abwehrrecht ein Schutzrecht des einzelnen Bürgers gegen staatliche Eingriffe. Darüber hinaus folgt aus ihm die Pflicht der staatlichen Organe, sich schützend und fördernd vor die darin genannten Rechtsgüter Leben und körperliche Unversehrtheit zu stellen und sie insbesondere vor rechtswidrigen Eingriffen von seiten anderer zu bewahren.
Wird aber ein Atomkraftwerk trotz des in ihm verkörperten außerordentlichen Gefährdungspotentials genehmigt, weil das wegen des Allgemeininteresses an der Energieversorgung für notwendig gehalten wird, so bedeutet dies, daß die körperliche Integrität Dritter Gefährdungen ausgesetzt werden kann, die diese nicht beeinflussen und denen sie kaum ausweichen können.
Wie im Kalkar-Beschluß vom Bundesverfassungsgericht bereits ausgeführt worden ist, nötigt das Atomgesetz die Genehmigungsbehörde zu derjenigen Schadensvorsorge, die nach den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen für erforderlich gehalten wird.
In diesem Fall waren das die Erkenntnisse über die Erdbebengefährdung im Rheingraben an der Nahtstelle der beiden Schollen, die erst nach Erteilung der Ersten Teilgenehmigung bekanntgeworden waren, und die Explosionsgefahr, die nach der Veränderung der Gebäudeanordnung Beachtung finden mußte.
Das Atomgesetz läßt eine Genehmigung nur dann zu, wenn es nach dem Stand von Wissenschaft und Technik praktisch ausgeschlossen ist, daß solche Schadensereignisse eintreten.
Der staatlichen Schutzpflicht und Mitverantwortung wird dadurch Rechnung getragen, daß die Erteilung einer Genehmigung von einem formalisierten Genehmigungsverfahren abhängig ist. Diese Regelung begnügt sich nicht damit, die strengen Genehmigungsvoraussetzungen nur von der Genehmigungsbehörde prüfen zu lassen. Vielmehr sieht das Verfahrensrecht eine eigene Beteiligung des gefährdeten Bürgers am Verfahren vor. Damit hat dieser nicht nur das Recht, nach der Erteilung von Genehmigungsbescheiden durch Klagen um vorläufigen gerichtlichen Rechtsschutz nachzusuchen. Das Verfahrensrecht ermöglicht vielmehr eine Vorverlagerung des Rechtsschutzes. Das wird durch die besonderen Verfahrensregeln auf folgende Weise erreicht.
Das Vorhaben des Antragstellers muß öffentlich bekannt gemacht werden. Die Antragsunterlagen müssen während einer Frist von acht Wochen zur Einsicht ausgelegt werden, und zwar einschließlich des Sicherheitsberichts, in dem alle mit der Anlage verbundenen Gefahren und die vorgesehenen Sicherheitsmaßnahmen dargelegt sein müssen. Während dieser Frist können Einwendungen gegen das Vorhaben erhoben werden. Der Kreis derjenigen, die im behördlichen Genehmigungsverfahren zur Erhebung von Einwendungen berechtigt sind, ist nicht näher umgrenzt. Das heißt, daß auch jenseits der Grenzen lebende Menschen nicht davon ausgeschlossen sind, Einwendungen gegen die geplante Anlage erheben zu können. Die Einwendungen muß die Genehmigungsbehörde in einem besonderen Termin mit den Einwendern und dem Antragsteller erörtern, soweit dies für die Prüfung der Genehmigungsvoraussetzungen von Bedeutung sein kann. Damit soll sichergestellt werden, daß alle sicherheitsrelevanten Anlagenteile und Einrichtungen dem vorgeschriebenen Prüfungsverfahren unterzogen werden.
Die Hauptfunktion der Öffentlichkeitsbeteiligung ist daher nicht die Möglichkeit der Genehmigungsbehörden, sich möglichst umfassend über die Sachverhalte zu informieren, die für die Entscheidung erheblich sein können, sondern sie liegt vor allem im wirksamen Rechtsschutz des Bürgers. Die Anhörungs- und Mitwirkungsrechte im Verfahren der Öffentlichkeitsbeteiligung dienen vor allem den Interessen der potentiell Betroffenen. Nicht nur die Nachbarn der geplanten Anlage, sondern weite Bevölkerungskreise haben dadurch die Möglichkeit, sich selbst frühzeitig, schon vor Erteilung einer Genehmigung, gegen eine für sie möglicherweise nachteilige Anlage zur Wehr setzen zu können.
Die vorrangige Aufgabe sowohl des behördlichen Genehmigungsverfahrens wie der gerichtlichen Verfahren besteht eben gerade darin, Leben und Gesundheit vor den Gefahren der Kernenergie zu schützen. Die Verfahrensvorschriften über die Anhörung und Mitwirkung der Betroffenen im Genehmigungsverfahren und ihre Handhabung sind deshalb für einen effektiven Grundrechtsschutz von hoher Bedeutung. Sie haben verfassungsrechtliche Relevanz, denn sie ermöglichen es dem Bürger, von seinen Grundrechten Gebrauch zu machen.
Daraus folgerten die Verfassungsrichter: Auch bei der Anwendung der Vorschriften über das behördliche und gerichtliche Verfahren bei der Genehmigung von Kernkraftwerken muß der Einfluß des Grundrechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit beachtet werden. Eine Grundrechtsverletzung kommt daher dann in Betracht, wenn die Genehmigungsbehörde Verfahrensvorschriften außer acht läßt, die in Erfüllung der staatlichen Pflicht zum Schutz der in Art. 2 Abs. 2 GG genannten Rechtsgüter erlassen worden sind. Keinesfalls dürfen daher Gerichte bei der Überprüfung von atomrechtlichen Genehmigungsbescheiden ohne weiteres davon ausgehen, daß ein klagebefugter Dritter in der Regel nicht berechtigt sei, Verfahrensverstöße geltend zu machen. Eine Genehmigung unter vorheriger Durchführung eines förmlichen Verfahrens schreibt das Atomrecht nicht nur für Errichtung und Betrieb der Anlage, sondern auch für wesentliche Veränderungen vor.
Nun ging es also noch um die Frage, ob die von der Behörde ohne Öffentlichkeitsbeteiligung genehmigten Änderungen in der Gebäudeanordnung als wesentliche Änderungen der Anlage zu beurteilen waren.
Die Mehrheit der Verfassungsrichter übernahm in dieser Frage die Auffassung des Oberverwaltungsgerichts. Eine Abweichung vom Genehmigungsbescheid sei nicht offensichtlich. Dies müsse endgültig im noch anhängigen Gerichtsverfahren geprüft werden. Es sei ja noch sichergestellt, daß der Klägerin durch Anrufung der Gerichte effektiver Rechtsschutz gegen die Herbeiführung irreparabler Tatsachen gewährt würde. Die Abwägung des Oberverwaltungsgerichts zwischen den Interessen der Klägerin und des Antragstellers lasse sich im Ergebnis nicht als Grundrechtsverletzung beurteilen
Wesentlich erschien diesen Richtern vor allem, daß aufgrund früherer Freigabebescheide ohnehin bereits mit dem Bau der Anlage in der geänderten Gebäudeanordnung begonnen worden war. Zutreffend habe das Oberverwaltungsgericht dazu ausgeführt, daß die Fortsetzung der Bauarbeiten jedenfalls nicht zu einer irreparablen Rechtsbeeinträchtigung der Beschwerdeführerin führen würde.
Die Verfassungsbeschwerde werde deshalb zurückgewiesen.
Im Klartext: Der Bau ist ja nun sowieso schon weit vorangeschritten. Da macht es keinen großen Unterschied, ob die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den siebten Freigabebescheid wiederhergestellt wird oder die Klägerin den Streit vor Gericht fortsetzt und schließlich danach ihr Ziel noch erreicht.
Offensichtlich wollten sie in der Beurteilung der Berechtigung zur Verfassungsklage auch deshalb nicht gar zu großzügig sein, weil sonst in der Vielzahl der Verwaltungsgerichtsverfahren gegen Atomanlagen sehr viele Betroffene sich ermuntert sehen könnten, schon vor Beendigung des gerichtlichen Verfahrens Verfassungsbeschwerde einzulegen, ohne erst bis zum Bundesverwaltungsgericht zu gehen. Sie fürchteten, wenn dieses Gericht so oft ausgeschaltet würde , könnte das Bundesverfassungsgericht in die "Rolle einer Superinstanz" geraten. Dies erschien ihnen als sehr problematisch, denn es muß vielfach um technisch-naturwissenschaftliche Sachverhalte gestritten werden, die von den Verwaltungsgerichten meistens nur so weit erörtert werden, wie es zur Klärung der gerade anstehenden Fragen nötig ist. Das Bundesverfassungsgericht könnte dadurch genötigt werden, "auf ungesicherten tatsächlichen Grundlagen weitreichende Entscheidungen treffen zu müssen" - oder, was sie nicht sagten, sich selbst viel Arbeit mit eigenen umfassenden Erkundigungen zu machen.
Zwei der acht Mitglieder des Ersten Senats , die Richter Simon und Heußner, waren mit diesem Ausgang des Verfahrens nicht einverstanden. In einem Sondervotum begründeten sie, daß sie in der Entscheidung das atomrechtliche Verfahrensrecht in seiner Bedeutung für einen bestmöglichen Grundrechtsschutz nicht wirklich ernstgenommen fanden.
Sie sagten dazu: "Das Ausgangsverfahren ist geradezu ein Lehrstück für eine Verfahrensgestaltung, die zwar eine reibungslose Durchführung des behördlichen Genehmigungsverfahrens erleichtert, die aber die Mitwirkungsrechte betroffener Bürger überspielt und deren ohnehin vorhandene Ohnmachtserfahrungen gegenüber Staatsapparat und einflußreichen Interessenten bestätigt - mag das auch subjektiv so nicht gewollt gewesen sein."
Sie beschränkten sich nicht nur darauf, wie im konkret vorliegenden Fall eine Lösung gefunden werden konnte, bei der die Stimmung zwischen dem Bundesverfassungsgericht und dem Bundesverwaltungsgericht und auch den anderen Gerichten nicht getrübt wurde, oder darauf, daß infolge dieser Entscheidung viel Arbeit auf sie zukommen könnte. Ihr Blick reichte weiter. Sie bezogen mit ein, zu welchen Zuständen in den Beziehungen zwischen den Bürgern und den staatlichen Gewalten es im Lauf der politischen Auseinandersetzungen um die Atomenergie gekommen war. Sie forderten auf zu einem vom Grundgesetz her entwickelten Verständnis von der Stellung des Bürgers im Staat, von dem aus die Konfliktsituation auch in diesem Fall ganz anders beurteilt werden mußte.
1979 konnte man noch mit breiter Zustimmung zu einer Auffassung von den Grundrechten und den neu ins Blickfeld gekommenen Umweltfragen rechnen, die sich auf das Grundgesetz stützte, nach der die subjektiven Rechte des einzelnen Bürgers ihm eine starke Position im Rechts- und Staatsgefüge sichern. Seine Handlungsmöglichkeiten beschränken sich danach nicht darauf, daß er Eingriffe der staatlichen Gewalten in seine Rechte und Beeinträchtigungen durch mächtige Interessenten nicht dulden muß, sondern abwehren kann, oder daß er Ansprüche an den Staat stellen kann. Er muß auch direkt Einfluß nehmen können auf die Vorbereitung von Entscheidungen der Verwaltung, durch die seine Umwelt und seine Lebensumstände stark verändert werden. Das war zum Beispiel in einer Entscheidung zum Bau der Hamburger U-Bahn herausgearbeitet worden. Für dieses Verständnis von der Position des Bürgers gegenüber der Verwaltung ist der Begriff des status activus prozessualis entwickelt worden. Nur eine solche Beurteilung der Verfahrensbeteiligung wird dem grundgesetzlichen Verständnis von der Stellung des Bürgers im Staat gerecht.
Die Auswirkungen der Grundrechte erschöpfen sich nicht in der Garantie effektiven Rechtschutzes in Gestalt einer wirksamen gerichtlichen Kontrolle unter fairer Verfahrensführung. Vielmehr ist ein ordnungsgemäß durchgeführtes Verfahren für den Bürger selbst die einzige Möglichkeit, Grundrechte durchzusetzen, oder für die Verwaltung, sie wirksam zu gewährleisten. Das zwingt Verwaltungen und Gerichte zu einer Auslegung und Handhabung der Verfahrensvorschriften, die diesem Verständnis von den Grundrechten entspricht.
Wenn schon in Fällen wie der Hamburger U-Bahn dem Verfahrensrecht verfassungsrechtliche Relevanz beigemessen und eine Verfahrensgestaltung gefordert wird, die auf einen bestmöglichen Grundrechtsschutz hinwirkt, dann muß dies erst recht für das atomrechtliche Genehmigungsverfahren gelten. Denn dieses Verfahren bezweckt bevorzugt gerade die Sicherung der durch Art. 2 Abs. 2 GG geschützten Rechtsgüter vor dem in Atomkraftwerken verkörperten außerordentlichen Gefährdungspotential. Die verfassungsrechtliche Relevanz des Verwaltungsverfahrens beruht darauf, daß mit der Genehmigung ein Ausgleich zwischen verschiedenen grundrechtlich geschützten Rechtspositionen gefunden werden muß. Die Genehmigung ist ein Verwaltungsakt mit Drittwirkung, das heißt, durch sie muß dem Grundrecht des Dritten, des betroffenen Bürgers, auf Schutz von Leben und körperlicher Unversehrtheit zur Durchsetzung verholfen werden. Auf der anderen Seite wird durch die Genehmigung der Betreiber als Eigentümer der Anlage zu Handlungen ermächtigt, die weit über dessen eigene Rechtssphäre hinauswirken können.
Im Atomrecht folgt die Notwendigkeit zum Grundrechtsschutz durch die Gestaltung des Verfahrens insbesondere aus zwei Besonderheiten, die bereits in der Kalkar-Entscheidung hervorgehoben worden sind.
In ihr wird darauf hingewiesen, daß der Gesetzgeber für die Bestimmung der Genehmigungsanforderungen in weitem Umfang unbestimmte Rechtsbegriffe oder ausfüllungsbedürftige Normbegriffe verwendet hat. - Zur Erinnerung: Er fordert die Beachtung des neuesten Standes von Wissenschaft und Technik. - Das beruht auf den besonderen Schwierigkeiten des technischen Sicherheitsrechts, das sich in ständiger Entwicklung befindet. Dies dient zugleich einem zukunftsgerichteten dynamischen Grundrechtsschutz. Das Regelungsdefizit auf der Ebene des Gesetzes müssen Behörden und Gerichte ausgleichen.
Trifft diese Beurteilung zu - und sie entspricht zumindest der geltenden Regelung -, dann kann es nach der bisherigen Rechtsprechung im Umweltbereich verfassungsrechtlich nicht gleichgültig sein, wie gerade auch das behördliche Genehmigungsverfahren strukturiert ist, und ebenso wenig, wer als Beteiligter auf die Entscheidung Einfluß nehmen kann. Für einen effektiven Grundrechtsschutz der potentiell Gefährdeten ist angesichts des Ausmaßes denkbarer Gefahren entscheidend, daß bereits das Genehmigungsverfahren geeignet ist, im konkreten Fall zu "richtigen" sicherheitsrelevanten Entscheidungen zu führen.
Ein geeignetes, den Schutz der Gefährdeten sicherstellendes Verfahren zur Entscheidungsbildung ist bei der Nutzung der Atomenergie auch aus einem zweiten, ebenfalls im Kalkar-Beschluß angesprochenen Grund bedeutsam.
Auf dem Gebiet der Atomtechnik mußte eine "Sicherheitsphilosophie" vorausgedacht werden. Es mußte versucht werden, aufgrund theoretischer Überlegungen und wissenschaftlicher Untersuchungen mögliche Störfälle vorauszusehen und die erforderlichen Schutzmaßnahmen zu entwickeln.
An dieser Stelle berufen sich die beiden Verfassungsrichter mit einem wörtlichen Zitat auf den entscheidenden Abschnitt der Kalkar-Entscheidung: Dabei, also bei der Entwicklung des erforderlichen Schutzes, "kann es sich nur um Annäherungswissen handeln, das durch jede neue Erfahrung korrigierbar ist und sich insofern ,immer nur auf dem neuesten Stand unwiderlegten möglichen Irrtums befindet'". Sie kommen sogleich auf die Frage zurück, wer als Beteiligter auf die Entscheidung Einfluß nehmen kann. Denn da man bei dieser Sicherheitsphilosophie mit nur denkbaren, also nicht aus der Erfahrung bekannten Risiken arbeiten muß, hängt deren Beurteilung einschließlich der Einplanung entsprechender Schutzmaßnahmen von Wertungen ab, die sich schwerlich freihalten lassen von den jeweiligen grundsätzlichen Standpunkten und subjektiven Interessen. Der Leser ist berechtigt, hier daran zu denken, daß auch offizielle Beratergremien und Gutachter nicht frei sind von eigenen Interessen und von subjektiven Vorstellungen über den erforderlichen Schutz vor den möglichen Gefährdungen.
Ganz beiläufig findet man hier die Auffassung von den Aussagen der Kalkar-Entscheidung bestätigt, die wir weiter vorn vertreten haben. Wenn auch die nur denkbaren Risiken bei der Beurteilung berücksichtigt werden müssen, gehören sie nicht zu einem sogenannten "Restrisiko", das die Bevölkerung hinzunehmen hätte.
Umso wesentlicher erscheint es den beiden Verfassungsrichtern, rechtzeitig die Standpunkte, Interessen und Befürchtungen aller Beteiligten in das Genehmigungsverfahren einzubeziehen und durch einen Prozeß der Kommunikation zwischen Kraftwerksbetreibern, gefährdeten Bürgern und zuständigen Behörden eine sachgemäße Berücksichtigung aller maßgeblichen Gesichtspunkte sicherzustellen, damit die mit der gesetzlichen Norm angestrebten Ziele wirklich erreicht werden.
Daß dieser Kommunikationsprozeß nur funktionieren kann, wenn sich alle Beteiligten fair und vernünftig verhalten, liegt für sie auf der Hand.
Würde unter diesen Bedingungen ausgerechnet der Mitwirkungsbefugnis der einzelnen Bürger die verfassungsrechtliche Relevanz abgesprochen, bliebe an grundrechtsschützenden Vorschriften für das atomrechtliche Genehmigungsverfahren kaum etwas übrig.
Der verfassungsrechtlich gebotene Einfluß des Bürgers auf die Entscheidungsbildung würde leerlaufen, wenn er keinerlei Gelegenheit erhielte, sich im Erörterungsverfahren mit den Behörden und den Antragstellern über eine geänderte Konzeption der Anlage auseinanderzusetzen.
Das gilt auch dann, wenn vom Antragsteller und der Behörde geltend gemacht wird, eine Änderung führe zur erhöhten Sicherheit gegenüber bestimmten Gefahren und deshalb müßten gewisse Nachteile in Kauf genommen werden. Es muß für betroffene Dritte die Möglichkeit gewahrt bleiben, im Erörterungstermin auch dann Rechenschaft zu fordern und Stellung zu nehmen.
Das Recht auf ein faires Verfahren gehört zu den wesentlichen Grundsätzen eines rechtsstaatlichen Verfahrens. Wegen des außerordentlichen Gefährdungspotentials der Atomtechnik ist mit der Erteilung von Genehmigungen eine gesteigerte staatliche Mitverantwortung verbunden. Aus ihr muß die Pflicht zu einer Verfahrensgestaltung hergeleitet werden, die eine Verletzung der Rechtsgüter tunlichst ausschließt, die durch das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit geschützt werden.
Dann muß der Träger des Grundrechts auch, so wie hier die Klägerin aus Koblenz, im gerichtlichen Verfahren die Verletzung grundrechtsschützender Verfahrensvorschriften geltend machen können.
Das Verfahren, mit dem vor Gericht die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung einer Klage beantragt werden kann, ist damit ebenfalls ein Element des Grundrechtsschutzes, das vom Grundrecht auf Leben und körperlicher Unversehrtheit verfassungsrechtlich beeinflußt wird. Dieser Einfluß schließt es aus, Verstöße gegen die Verfahrensvorschriften im vorläufigen Rechtsschutzverfahren bei der Abwägung der Interessen beiseite zu lassen, als wären sie für die Entscheidung unerheblich.
Die Genehmigungsbehörde hatte, statt die Frage einer wesentlichen Änderung zum Gegenstand eines förmlichen Genehmigungsverfahrens zu machen, ein Verfahren eingeschlagen, das den Betreibern die Errichtung der geänderten Gebäudeanordnung unter völliger Ausschaltung betroffener Dritter ermöglichte.
Das Oberverwaltungsgericht Koblenz hatte den von der Klägerin gerügten Verfahrensverstoß nicht berücksichtigt. Es hatte fälschlich dem Verfahren nur eine Bedeutung für das Informationsinteresse der Behörde zugeschrieben. Es hatte sich mit den Aussagen der Gutachter begnügt.
Hätte es jedoch die grundrechtsschützende Funktion der Vorschriften des Genehmigungsverfahrens beachtet, dann hätte es nach Auffassung der Verfassungsrichter Simon und Heußner die aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage der Beschwerdeführerin wieder herstellen müssen, ebenso wie es das Verwaltungsgericht vorher getan hatte.
Die beiden Richter wendeten sich auch gegen das Argument, durch die bereits ausgeführten Baumaßnahmen sei noch kein Zustand eingetreten, durch den die Rechte der Klägerin irreparabel beeinträchtigt sein könnten. Sie sagten: Ist eine kostspielige Anlage erst einmal errichtet, besteht zumindest die Gefahr, daß in den weiteren Schritten des behördlichen Genehmigungsverfahrens, aber auch im gerichtlichen Ver-fahren versäumte Schutzvorkehrungen bagatellisiert oder durch zweitklassige Maß-nahmen ersetzt werden. Das Risiko, dessen Beurteilung ja von Wertungen abhängt, könnte als ein zu vernachlässigendes eingestuft werden. Mit Recht folgt daher die gesetzliche Regelung gerade nicht dem Prinzip nachträglicher Überprüfungen und Korrekturen, sondern der Verpflichtung, alle maßgeblichen Fragen vor Erteilung einer Genehmigung der Prüfung im Verfahren zu unterziehen.
Nach alledem, sagten die beiden Richter, läßt sich die Ablehnung des OVG, die aufschiebende Wirkung der von der Beschwerdeführerin eingelegten Anfechtungsklage wieder herzustellen, aus mehreren Gründen nicht aufrechterhalten.
Muß man noch betonen, was für eine schwerwiegende Kritik das war nicht nur gegen das Oberverwaltungsgericht, sondern auch gegen die Kollegen des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts?
Aber auch das RWE und die Genehmigungsbehörde mußten harte Rüffel einstecken.
Dem Einwand, mit dem von ihnen empfohlenen Vorgehen seien Erschwerungen und Zeitverluste für das Genehmigungsverfahren verbunden, begegneten die beiden Richter damit, das ließe sich vermeiden, wenn die Betreiber ihrerseits rechtzeitig alle erforderlichen Schutzmaßnahmen prüfen und schon zusammen mit den Antragsunterlagen darlegen.
Aus ihrer Sicht wäre den wohlverstandenen Interessen aller Beteiligten doch wohl besser gedient gewesen, wenn die Betreiber schon die Entscheidung des Verwaltungsgerichts hätten gelten lassen und die Behörde das versäumte Genehmigungsverfahren beschleunigt nachgeholt hätte.
Sie hatten noch eine Beobachtung festgehalten: Bliebe die Entscheidung über die notwendigen Schutzmaßnahmen der Genehmigungsbehörde und den Gutachtern überlassen, dann würde der Bereich zwischen Recht und Technik zum juristischen Niemandsland. Wahrscheinlich, so sahen sie es, läßt sich das nur über das Verfahrensrecht verhindern.
Im Umkreis von AKW-Baustellen hatten sich die betroffenen Anwohner immer wieder durch die Genehmigungsprozeduren aufs schärfste provoziert gefühlt: Viel zu oft liefen sie praktisch auf Überrumpelung hinaus.
Das Mülheim-Kärlich-Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1979 war geeignet, die Position der Bürgerinitiativen und der einzelnen betroffenen Bürger in den Genehmigungs- und Gerichtsverfahren erheblich zu verbessern. Das Sondervotum von Simon und Heußner, in dem das Recht der Bürger, zum Schutz der eigenen Interessen im Verfahren frühzeitig an den Genehmigungsentscheidungen mitzuwirken, noch klarer herausgestellt wurde, trug noch verstärkend dazu bei.
Was für ein Gegensatz zu der Meinung des Bundesforschungsministers, der die Ansicht geäußert hatte, es dürfe nicht sein, daß "einzelnen Gruppen oder Verbänden", von den einzelnen Bürgern schon ganz zu schweigen, Mitentscheidungsrechte bei den Verwaltungsentscheidungen eingeräumt werden.
Aus dem Recht der Bürger, sich am Genehmigungsverfahren zu beteiligen, ergibt sich, daß es den Betroffenen unter Umständen gelingen kann, den Bau oder wenigstens die Inbetriebnahme der Anlage zu verhindern. Teilhabe am Verfahren bedeutet vorverlagerten Rechtsschutz. Darüber hinaus hat sie auch die Wirkung, daß die Gefährdungen, die von einer Atomanlage ausgehen können, in aller Öffentlichkeit diskutiert werden können. Sie ist ein Stück lebendige, nämlich direkte Demokratie.
Das deutsche atomrechtliche Genehmigungsverfahren hat international den Ruf der besonderen demokratischen und rechtsstaatlichen Qualität. Daß es das Bundesverfassungsgericht war, das die Bedeutung des Verfahrensrechts für die betroffenen Bürger so herausstellte, dürfte diesen Ruf wenn nicht begründet, dann doch erheblich verstärkt haben.
Mit seinen beiden Entscheidungen zu Kalkar 1978 und zu Mülheim-Kärlich 1979 hat das Bundesverfassungsgericht das Problem des außerordentlich großen Gefährdungspotentials der Atomkraftwerke aufs engste verknüpft mit der Verfassungsverpflichtung der staatlichen Gewalten, die Grundrechte der Bürger auf Schutz von Leben und körperlicher Unversehrtheit und auf effektiven Rechtsschutz bei ihren Entscheidungen zu beachten.
Im Hintergrund der Auseinandersetzungen um Mülheim-Kärlich stand der Reaktorunfall im Atomkraftwerk Three Mile Island 2 bei Harrisburg in den USA am 28. März 1979. Dort kam es zum erstenmal in einem großen Atomkraftwerk zur Stromproduktion zum Schmelzen eines Teils des Kerns im Reaktordruckbehälter. Der bis dahin von den Atombefürwortern für unwahrscheinlich und hypothetisch erklärte Fall war Realität geworden.
In der Bundesrepublik platzte die Nachricht von dem Unfall in das Gorleben-Hearing, das auf Vorschlag aus dem Landkreis Lüchow-Dannenberg vom niedersächsischen Ministerpräsidenten Ernst Albrecht vom 28. März bis 3. April 1979 in Hannover veranstaltet wurde. Albrecht hatte es beabsichtigt als "Entscheidungshilfe" für den Bau des NEZ bei Gorleben. Eingeladen waren zahlreiche international bekannte Experten, auch aus den USA. Alle Probleme des Anlagenkonzepts des NEZ, vom Eingangslager über die Wiederaufarbeitungstechnik bis zur Endlagerung, sollten in die wissenschaftliche Auseinandersetzung kommen.
Für den 29. März 1979 hatte die Bäuerliche Notgemeinschaft aus dem Landkreis Lüchow-Dannenberg zum Gorleben-Treck aufgerufen. Einem Traktorenzug aus dem Landkreis nach Hannover sollte in der Stadt eine Abschlußdemonstration folgen, wiederum als "Entscheidungshilfe für Ernst Albrecht".
Als am zweiten Tag des Hearings der Unfall bei Harrisburg bekannt wurde, stieg die ohnehin vorhandene Spannung noch höher. Zeitweise war das Interesse an den Ereignissen in den USA weit größer als das Interesse am eigentlichen Thema der Anhörung. Zur Abschlußkundgebung des Gorleben-Trecks drängten sich 150 000 Menschen auf den Plätzen und Straßen der Innenstadt von Hannover. Sie wurde die bis dahin größte Demonstration gegen die Atomenergie.
Der Unfall in TMI 2 war ausgelöst worden durch den Ausfall der Speisewasserpumpen im Sekundärkreislauf. Die Turbine wurde automatisch abgeschaltet. Durch das Ansteigen des Drucks im Primärkreislauf wurde die Reaktorschnellabschaltung ausgelöst. Die Notspeisepumpen im Sekundärkreislauf förderten zu Anfang kein Wasser, weil die Bedienungsmannschaft vergessen hatte, nach Reparaturarbeiten die Leitungsventile wieder zu öffnen. Über ein Abblaseventil am Primärkreislauf, das unerwartet offen stehen blieb, strömte radioaktiv verseuchtes Kühlmittel in den Sicherheitsbehälter und über eine Leitung in das außerhalb liegende Hilfsanlagengebäude, wo es aus einem Tank überlief. Von dort aus kam es zu einer erheblichen Freisetzung von radioaktiven Stoffen in die Umgebung. Ehe es der Bedienungsmannschaft gelang, notdürftig eine Kühlung in Gang zu setzen, waren mehrmals während des Unfallverlaufs die Brennelemente im Reaktordruckbehälter nicht mehr vollständig von Kühlwasser bedeckt. Teilweise schmolz der Kern. Aufgrund einer chemischen Reaktion zwischen den Hüllrohren der Brennelemente und dem Kühlwasser bildete sich eine Wasserstoffblase im Reaktordruckbehälter. Durch das offenstehende Abblaseventil strömte auch Wasserstoff in den Sicherheitsbehälter. Ungefähr zehn Stunden nach Unfallbeginn kam es zu einer Verpuffung des Wasserstoffs im Sicherheitsbehälter. Noch in den folgenden Tagen drohte die Wasserstoffblase im Reaktordruckbehälter die Anlage aufs schwerste zu beschädigen.
Eine eiligst gebildete Kommission tappte tagelang im Dunkeln, weil sie sich in der Situation, die sie als äußerst bedrohlich erkannt hatte, nicht zurechtfand. Nicht einmal die Experten vor Ort waren sich sicher, was für Entscheidungen zu treffen waren, weil grundlegende Informationen fehlten. Meßgeräte reichten nicht aus oder waren ausgefallen. Der Zustand des Kerns und der weitere Verlauf des Unfalls waren unbekannt.
Vier Tage nach dem Beginn des Unfalls war der Wasserstoff so weit aus dem Primärkreis entfernt, daß die Gefahr einer erneuten folgenschweren Beeinträchtigung der Kühlung beseitigt war. Erst fast zwei Wochen später war man sich einigermaßen sicher, daß eine katastrophale Freisetzung von Radioaktivität vorerst ausgeschlossen werden konnte.
Als die Bevölkerung in der Umgebung von der Freisetzung radioaktiver Stoffe aus dem verunglückten Reaktor erfuhren, machten sich Hunderttausende auf die Flucht. Berater schlugen den Behörden vor, eine Evakuierung zu organisieren. Man konnte sich aber nur zu der Empfehlung an Schwangere und Mütter mit Kleinkindern durchringen, den 8-km-Umkreis von Three Mile Island zu meiden.
Nach dem Unglück wurden in den USA mehrere Kommissionen zur Untersuchung des Unfallablaufs eingesetzt. Sie erarbeiteten auch Empfehlungen, die die gesamte Atompolitik der USA betrafen. Die Zulassung neuer Atomkraftwerke wurde vorläufig ausgesetzt.
Kritisiert wurde, daß in den Genehmigungsverfahren Sicherheitsprobleme bisher weitgehend ausgeklammert waren. Als Abhilfe wurde vorgeschlagen, die Genehmigungsverfahren so zu ändern, daß die Entscheidung über die Baugenehmigung erst dann getroffen würde, nachdem aufgrund hinreichend detaillierter Unterlagen alle Sicherheitsaspekte in einer sinnvollen Öffentlichkeitsbeteiligung zur Diskussion gestellt werden könnten.
Auch die Forschung in Richtung auf die Weiterentwicklung von Risikostudien mit den Methoden der quantitativen Analyse der Versagenswahrscheinlichkeiten und mit Untersuchungen der Schadensmöglichkeiten wurde erheblich intensiviert.
Auch in der Bundesrepublik stand selbst für die Bundesregierung plötzlich ernsthaft zur Debatte, was bislang undenkbar schien: ob die Bundesrepublik nicht doch ohne Kernenergie auskommen müsse. Die Möglichkeit eines schweren Unfalls in einem Atomkraftwerk konnte nicht mehr nur als Hirngespinst technikfeindlicher Pessimisten hingestellt werden. Bei dem Unfall bei Harrisburg waren Gefahren real geworden, für deren Verhinderung die Atomkraftwerke nicht ausgelegt waren. Angesehene Politiker wie der Vorsitzende der IG-Metall Eugen Loderer und der Bundesinnenminister Gerhard Baum forderten, die Atomkraftpolitik grundsätzlich zu überdenken. Selbst Birkhofer, der Vorsitzende der Reaktorsicherheitskommission konnte zitiert werden mit dem Ausspruch: "Wir stehen an einem Abgrund."
Aber Bundeskanzler Helmut Schmidt, der gerade einen Staatsbesuch in Brasilien machte, erklärte von dort aus, daß er auch nach der Katastrophe von Harrisburg den Atomstrom weltweit für unverzichtbar halte.
Unmittelbar nach Bekanntwerden des Unfalls hielten es die Aufsichtsbehörden der Bundesländer und das Bundesinnenministerium für notwendig, alle Atomkraftwerke, die in der Bundesrepublik im Betrieb und im Bau waren, darauf zu überprüfen, ob sich für ihre Sicherheit Folgerungen aus dem Unfallablauf ergaben.
In der Reaktorsicherheitskommission wurde besonders intensiv über Mülheim-Kärlich beraten. Der Reaktor, der ja ebenfalls von Babcock & Wilcox gebaut wurde, war in wichtigen Details mit TMI zu vergleichen. Die Aufsichtsbehörde ordnete an, daß keine weitere Teilerrichtungsgenehmigung erteilt würde, ehe nicht das Kühlsystem der Anlage überprüft sei.
Abbildung 4. Three Mile Island 2, Abfluß der Kernschmelze in den unteren Teil des Reaktordruckbehälters
Aber schon am 1. Juni 1979 teilte das Bundesinnenministerium mit, in der Bundesrepublik Deutschland seien keine unmittelbaren Konsequenzen zu ziehen, weil die technischen Unterschiede zwischen den deutschen Atomkraftwerken und TMI 2 keinen Anlaß dazu gäben.
Im August 1981 gab das Bundesinnenministerium einen Bericht heraus, in dem die Auseinandersetzung mit dem, was hier der "Beinahe-Kernschmelzunfall" im KKW TMI-2 genannt wurde, für nicht mehr notwendig erklärt wurde. In TMI sei ein Kernschmelzen gerade eben verhindert worden. Trotzdem habe man Lehren aus dem Unfall gezogen.
Nach dem seinerzeitigen Stand von Wissenschaft und Technik könnten Kernschmelzvorgänge in den deutschen Atomkraftwerken durch zuverlässige Kühl- und Notkühleinrichtungen verhindert werden; der völlige Ausfall der Kühlsysteme müsse nach Maßgabe der praktischen Vernunft nicht unterstellt werden.
Aber man werde über die bestehenden Kontrolleinrichtungen hinaus ein bundesweites und bundeseinheitliches, behördliches Fernüberwachungssystem zur Messung der Radioaktivitätsimmissionen einrichten. Die Kontrollwirkung dieses Systems beruht im wesentlichen darauf, daß es Unregelmäßigkeiten der Freisetzungen nach außen frühzeitig erkennen läßt. Es müsse dafür gesorgt werden, "daß ein ausreichend engmaschiges Sicherheitsnetz gegenüber allen nach Maßgabe praktischer Vernunft nicht auszuschließenden Störfallabläufen besteht".
Wir heute dürfen davon ausgehen, daß schon damals nur wenige Menschen verstanden, was mit diesen Sätzen gesagt wurde. Die nach Maßgabe praktischer Vernunft "nicht auszuschließenden" Störfallabläufe waren die, die im Anschluß an Breuer und das Bundesverwaltungsgericht zum Restrisiko erklärt worden waren oder, was dasselbe bedeutet, die Kernschmelzunfallabläufe aufgrund des völligen Ausfalls der Kühlsysteme, gegen die die deutschen Atomkraftwerke nicht ausgelegt waren. Mit Hilfe des Fernüberwachungssystems kann also erkannt werden, wenn es in einem Atomkraftwerk zu einem Kernschmelzunfall gekommen ist.
Man erhoffte sich davon, die "mit einem solchen System erreichbare Kontrolle kerntechnischer Anlagen" werde " außerdem einen erheblichen Beitrag zur Förderung des Vertrauens der Bürger in die Leistungsfähigkeit der Aufsichtsbehörden liefern".
Die Möglichkeit, einen Kernschmelzunfall frühzeitiger zu erkennen als vertrauensbildende Maßnahme!
Die Zielrichtung der Reaktorsicherheitsforschung in der Bundesrepublik betrachtete man als bestätigt.
Die Methode der Risikoanalyse werde im Bereich der Verhinderung eines Kernschmelzunfalls sowie der Eindämmung der Folgen eine rasch zunehmende Bedeutung erlangen, denn sie biete bei der Sicherheitsauslegung einer Anlage die Möglichkeit, ein Gesamtsystem von höchster Zuverlässigkeit zu konstruieren.
Wo blieb da die ursprüngliche Aufgabe, zuerst überhaupt einmal zu analysieren, welche Gefährdungsmöglichkeiten von den deutschen Atomkraftwerken ausgehen?
Harrisburg habe aber auch gezeigt, daß die allgemeine Risiko-Diskussion in Politik und Gesellschaft wirklichkeitsnäher geführt werden müsse. Es müsse deutlich Position bezogen werden zum Risiko der Kernenergienutzung, aber man müsse sich auch die natürlichen und alltäglichen Risiken bewußter vergegenwärtigen, denen sich der Mensch und die Gesellschaft grundsätzlich nicht entziehen kann. Wenn es gelinge, den Bürgern ein ausreichendes Verständnis für die Behandlung dieser Fragen in den sich ergebenden Güterabwägungen und Handlungsspielräumen zu vermitteln, werde dies dazu beitragen, daß der Staat bei den Bürgern die für seine Entscheidungen notwendige Glaubwürdigkeit und Zustimmung erlangt.
Seit dem Unfall von Harrisburg fehlte es also der Bundesregierung noch immer an Zustimmung der Bürger zu ihrer Atomenergiepolitik.
Als dieser Bericht veröffentlicht wurde, war noch nicht abzusehen, wann der Reaktordruckbehälter von TMI 2 geöffnet werden könnte. Endgültige Klarheit über das Schadensausmaß am Reaktorkern würde erst nach eingehender Untersuchung gewonnen werden können. Noch längst nicht waren alle im Störfallablauf aufgetretenen Vorgänge geklärt. Man wußte, daß die Aufräumungsarbeiten und vielleicht mögliche Reparaturen in dem beschädigten Atomkraftwerk TMI-2 noch mehrere Jahre in Anspruch nehmen würden. Die beschädigte Anlage blieb eine potentielle Gefahrenquelle für die Umgebung.
Man ließ sich davon aber nicht berühren und stellte fest, daß bereits jetzt alle Tatsachen bekannt seien, die für eine abschließende Beurteilung der Konsequenzen für die Sicherheit der Atomstromproduktion Bundesrepublik wesentlich seien.
Erst im Juli 1984 konnte der Reaktordruckbehälter geöffnet werden. Es bestätigte sich, daß die Brennelemente teilweise zusammengeschmolzen waren.
Ungefähr fünf Monate nach dem Unfall von Harrisburg war die erste Phase der Deutschen Risikostudie Kernkraftwerke (DRS-A) abgeschlossen. Am 8. August 1979 stellten Bundesforschungsminister Hauff und die Gesellschaft für Reaktorsicherheit GRS in Bonn der Öffentlichkeit erste Ergebnisse vor. Eine detaillierte Dokumentation der DRS-A in Form von acht Fachbänden wurde erst im August 1981 vorgelegt.
Die Bearbeiter der Phase A der DRS hatten im wesentlichen die Ansätze und Methoden der US-amerikanischen Risikostudie WASH-1400 auf die bundesdeutschen Verhältnisse übertragen.
Wichtige Ergebnisse und Schlußfolgerungen waren: Auch in den deutschen Atomkraftwerken ist Kernschmelze möglich. Die Eintrittshäufigkeit von Kernschmelzunfällen insgesamt wurde mit 10-4/Ra angegeben. Das heißt: Pro Reaktorbetriebsjahr ist mit einer Eintrittswahrscheinlichkeit für eine Kernschmelze von 1 : 10 000 zu rechnen. Damit wurden in etwa die Ergebnisse der amerikanischen Sicherheitsstudie bestätigt. Es hatte sich gezeigt, daß frühere Einschätzungen um das 100-fache zu optimistisch waren.
Um die Freisetzungsmengen von radioaktiven Stoffen in die Umgebung ermitteln zu können, waren mehrere Unfallabläufe beschrieben worden. Als folgenschwerster Fall war das schnelle Versagen des Sicherheitsbehälters durch eine Dampfexplosion mit sehr hohen Freisetzungen zu einem frühen Zeitpunkt dargestellt. In einer Gruppe waren verschieden große Leckagen im Primärkreislauf mit Freisetzungen aus dem Sicherheitsbehälter zu frühen Zeitpunkten zusammengestellt. In einer weiteren Gruppe waren Freisetzungen beim Überdruckversagen des Sicherheitsbehälters nach 25 Stunden zusammengefaßt. Die letzteren Unfallabläufe hatten an der Gesamtkernschmelzhäufigkeit einen Anteil von zusammen ca. 93%. Die Anteile für Dampfexplosion lagen bei ca. 2% und die für kleines Leck bei ca. 0,6%. Die Häufigkeit von Kernschmelzunfällen mit schwerwiegenden Folgen wurde also mit ca. zweimal in einer Million Reaktorbetriebsjahre (2x10-6/Ra) angegeben.
Die Berechnung der Folgen in der Umgebung der Anlage ergab für Dampfexplosion unter den ungünstigsten Wetterbedingungen 14 500 Soforttote, bis zu 104 000 Spätschäden und bis zu 5 600 km2 Landfläche, die so stark kontaminiert wurde, daß bis zu 2,9 Mio Personen evakuiert werden mußten. Die entsprechenden Zahlen für die Folgen eines Unfalls mit kleinem Leck im Primärkreislauf waren bis zu 5 100 Soforttote, bis zu 44 000 Spätschäden und bis zu 1 950 km2 Fläche für Evakuierung, von der bis zu 2,4 Mio Personen betroffen würden. Für die große Zahl der Unfälle mit spätem Versagen des Sicherheitsbehälters ergaben sich keine Soforttoten, bis zu 1 200 Spätschäden und bis zu 2 km2 Fläche, von der bis zu 9 100 Personen evakuiert werden müßten.
Verglichen mit den Angaben aus WASH-1400 war das für die deutschen Befürworter ein ziemlich unangenehmes Ergebnis. Einerseits waren die Eintrittswahrscheinlichkeiten doch weit höher, als man immer angekündigt hatte. Andererseits war herausgekommen, daß die Schäden infolge schwerer Unfälle höher sind als erwartet. Das war der Öffentlichkeit nur schwer zu vermitteln.
Die Fortsetzung der Arbeiten mit der anschließenden Phase B der Studie (DRS-B) war aber schon mit großem Aufwand angekündigt worden.
Die Analysen der Phase B sollten auf den Ergebnissen der Phase A aufbauen. In sie sollten die neueren Erkenntnisse aus der Reaktorsicherheitsforschung und aus den Betriebserfahrungen einfließen. Immerhin waren seit 1976, als die Arbeit an der DRS begonnen wurde, einige wenige Jahre zusätzlicher Erfahrungen mit dem Betrieb des 1300-MW-Reaktors Biblis B gemacht worden. So sollten die Erkenntnisse auf den neuesten Stand von Wissenschaft und Technik in der Reaktorsicherheitsforschung gebracht werden.
Die Institutionen, die an der Erarbeitung der Studie beteiligt waren, voran die Gesellschaft für Reaktorsicherheit GRS und das Kernforschungszentrum Karlsruhe KfK, kündigten in den Jahren nach 1979 an, mit der DRS-Phase B würde gezeigt werden können, daß die Eintrittshäufigkeit von Kernschmelzunfällen um ca. eine Größenordnung, also auf ein Zehntel, und die Freisetzungsanteile um 2 oder mehr Größenordnungen, um das hundert- oder sogar tausendfache, zu senken seien. Damit wären auch die Folgen entscheidend geringer. Das Risiko von schweren Unfällen sei weit niedriger als in der Phase A errechnet. Es werde sich erweisen, daß das verbleibende Restrisiko so klein sei, daß es von der Bevölkerung hingenommen werden könnte.
Die Bundesregierung hatte verkündet, sie halte es für wünschenswert, eine möglichst breite Mitarbeit verschiedener Gruppen, auch solcher, die der Kernenergie skeptisch gegenüberstehen, zu erreichen. Sie sei bereit, im Rahmen der Arbeiten an der Phase B der DRS auch atomkritische Forschung zu finanzieren - nur leider gebe es da niemanden.
Da nahm eine Gruppe von jungen Wissenschaftlern aus dem Arbeitskreis Technischer Umweltschutz an der TH Darmstadt, die auch den hessischen Bürgerinitiativen nahestand, den Forschungsminister Volker Hauff beim Wort. Um vom Forschungsministerium eine Bewilligung für Fördermittel zu bekommen, brauchten sie allerdings einen institutionellen Rahmen. Der bot sich ihnen im zwar noch jungen, aber doch schon bekannten Öko-Institut in Freiburg. Da die jungen Mitarbeiter in Darmstadt zuhause waren und sich schon intensiv mit Biblis beschäftigt hatten, wurde kurzerhand ein Büro in Hessen aufgemacht. So entstand die Projektgruppe Reaktorsicherheit im Darmstädter Büro des Öko- Instituts.
Zusammen mit vielen anderen unabhängigen Wissenschaftlern machte man sich mit einer gehörigen Portion Skepsis an die Arbeit. Es war offenkundig, daß neuere Erkenntnisse aus der Sicherheitsforschung nach der Veröffentlichung des Rasmussen-Reports bisher kaum bei der Arbeit an der DRS berücksichtigt worden waren. Zwischen 1980 und 1983 entstand eine gewichtige dreibändige Risikostudie, in der die Methoden der DRS kritisch untersucht und bewertet und Empfehlungen für das weitere Vorgehen bei der Phase B erarbeitet wurden. Erstmalig wurde mit ihr die Phalanx aus staatlicher und industrieller Atomforschung durchbrochen und die Zweifel an der Sicherheit der Atomenergie wissenschaftlich begründet.
Daß sich eine kompetente Gruppe außerhalb der staatlich eingebundenen Institutionen etablierte, scheint erheblich zur Stärkung von Wissenschaftlern in Instituten wie dem KfK und an manchen Hochschulen beigetragen haben, die nicht länger bereit waren, sich für die Aufrechterhaltung von der Illusion der hervorragenden Sicherheit deutscher Atomtechnik herzugeben.
In diesem Kapitel haben wir einige sehr unterschiedliche Ereignisse zusammengetragen, die als Schlaglichter auf die politische Entwicklung zwischen dem Frühjahr 1979 und dem Sommer 1983 gelten können, ohne daß wir ein vollständiges Bild angestrebt hätten. Es geht um große Demonstrationen, um Standortentscheidungen, um Aktivitäten des Bundestages und der Bundesregierung.
Sechs Wochen nach dem Gorleben-Hearing, am 16. Mai 1979 gab Ernst Albrecht seine Entscheidung bekannt, daß der Bau einer Wiederaufarbeitungsanlage in Gorleben nicht möglich sei, solange es nicht gelungen sei, breite Schichten der Bevölkerung von der Notwendigkeit und sicherheitstechnischen Vertretbarkeit der Anlage zu überzeugen. Im engsten Kreis des Kabinetts sagte er weit drastischer: "Ich will keinen Bürgerkrieg im Land." Die Planungen für das Endlager im Salzstock wurden weitergeführt.
Aus Anlaß des Unglücks von Harrisburg organisierten die Bürgerinitiativen im Oktober 1979 eine Großdemonstration in der Bundeshauptstadt Bonn. In der Hoffnung, politischen Druck auf die Bundesregierung ausüben zu können, versammelten sich 150 000 Atomenergiegegner. Es war aber nicht zugelassen worden, daß die Demonstration bis zu den Regierungsgebäuden gelangte. Enttäuscht mußten die Teilnehmer zur Kenntnis nehmen, daß sie einfach ignoriert wurden.
Auf dem Berliner Parteitag der SPD im Dezember 1979 gab es eine starke Gruppe, die den Rückzug aus der Atomenergie durchsetzen wollte. Bundeskanzler Helmut Schmidt konnte sich gegen sie nur mit einer Rücktrittsdrohung durchsetzen. Schließlich kam es zu einem Kompromiß. Der Parteitag faßte einen Doppelbeschluß: Einerseits sollte der Atomstrom jenen Rest des Bedarfs decken, der durch andere Energiequellen nicht aufgebracht werden könne; andererseits mußte Schmidt zusagen, sich darüber hinaus nicht in dieser Großtechnologie zu engagieren.
Nach dem Berliner Kompromiß schien der forsche Marsch in den Atomstaat gestoppt; der Harrisburg-Schock vom März 1979 wirkte allerorten nach.
Im Juni 1980 stellte die Enquête-Kommission "Zukünftige Kernenergiepolitik", die 1979 einstimmig vom Deutschen Bundestag eingesetzt worden war, ihre Ergebnisse vor. Eins der Ziele war, den Kohle- und Ölverbrauch zu senken. Die Kommission hatte vier mögliche Pfade für die Energiepolitik der Zukunft untersucht. Das Extrem auf der einen Seite war ein massiver Ausbau der Atomenergie auf der Basis von Schnellen Brütern und den zugehörigen Wiederaufarbeitungsanlagen. Allerdings ließ sich das nicht ohne erhebliche Steigerung des Verbrauchs an Kohle und Öl erreichen. Auf der anderen Seite hatte man die Möglichkeit einer Politik der Energiewende untersucht. Das Konzept dafür war im Öko-Institut entwickelt worden. Es ging aus von einer planvollen Senkung des Energiebedarfs, die ermöglicht wurde durch eine weit effizientere Energieanwendung und die Nutzung alternativer Stromproduktionstechniken. Eine solche Energiepolitik ohne Einbußen an Bequemlichkeit für die Energienutzer hatte sich als machbar herausgestellt. Die Kommission sprach die Empfehlung aus, erst 1985 über die zukünftige Energiepolitik zu entscheiden.
Daß die Ansätze für die Energiewende durchaus realistisch waren, zeigte sich im kontinuierlichen Rückgang des Stromverbrauchs in der Bundesrepublik der 1980 bei 1,1% lag, im Gegensatz zur Regierungspolitik, die von einer ständigen Steigerung des Strombedarfs ausging.
1980 erklärte sich Hessen unter Ministerpräsident Börner bereit, eine Wiederaufarbeitungsanlage aufzunehmen. Nacheinander wurden mehrere Standorte benannt. Jedesmal bildete sich sofort heftiger Widerstand dagegen,der sich auch in Wahlergebnissen niederschlug. Der Bauantrag wurde Ende 1982 zurückgezogen.
Nach der Bundestagswahl vom 5. Oktober 1980, die der SPD-FDP-Koalition eine sichere Mehrheit brachte, gab der als Bundeskanzler bestätigte Helmut Schmidt am 17. Dezember 1980 eine Regierungserklärung ab, die man etwa wie folgt zusammenfassen kann: Die Bundesregierung hält einen weiteren Ausbau der Kernenergie sicherheitstechnisch für vertretbar und - auf absehbare Zeit - energiepolitisch für notwendig. In der Stromherstellung soll der Einsatz von Öl und Gas deshalb noch weiter eingeschränkt werden. Das heißt, daß der Ausbau der Atomenergie durch Sachzwänge unvermeidbar gemacht werden sollte.
Der Hamburger Senat plante den Rückzug der HEW aus Brokdorf. Ein Sonderparteitag der hamburgischen SPD am 2. und 3. Februar 1981 sollte die Entscheidung bringen. Helmut Schmidt ließ sich nicht davon abbringen, bei einem Ausstieg Hamburgs aus Brokdorf "mit einem halbstaatlichen Unternehmen einzuspringen". Die Preag, die in Brokdorf Miteigentümerin war, sollte auch den Rest kaufen und dadurch den Bau sichern. Es blieb bei dem Eigentumsanteil der HEW.
Der endgültige Baubeginn in Brokdorf stand kurz bevor. Zum 28. Februar 1981 hatten die Bürgerinitiativen zu einer Demonstration am Baugelände aufgerufen. Bundeskanzler Helmut Schmidt selbst hatte ein Demonstrationsverbot ausgesprochen und die Bevölkerung vor der Teilnahme gewarnt. Dem Aufruf folgten 100 000 Menschen, zum großen Teil gerade deshalb, weil sie diese Beschränkung eines demokratischen Rechts nicht hinnehmen wollten. Wieder kam es zu schweren Polizeiübergriffen.
Später wurde ein Schauprozeß gegen zwei junge Mäner angestrengt, die einen Polizisten verprügelt hatten. Es wurde versucht, damit auch alle übrigen Teilnehmer der Demonstration zu diskreditieren.
Im November 1981 erklärte das Bundesverfassungsgericht das Verbot der Demonstration für verfassungswidrig. Es bestätigte im Nachhinein die Auffassung derer, die es als Grundrechtsverletzung nicht hatten hinnehmen wollen.
Im Lauf des Jahres 1981 kam die bayerische Staatsregierung um das Eingeständnis nicht mehr herum, daß sie für den Bau einer Wiederaufarbeitungsanlage einen Standort bei Schwandorf in der Oberpfalz vorgeschlagen hatte. 1982 wurde der offizielle Antrag für Wackersdorf gestellt. Ende 1982 machte auch Ernst Albrecht trotz seiner Versprechungen an die Bevölkerung wieder ein Angebot mit dem Standort einer ehemaligen Munitionsfabrik in Dragahn im Landkreis Lüchow-Dannenberg. Neben den noch nicht beendeten Versuchen, für die Wiederaufarbeitungsanlage im SPD-geführten Hessen einen Standort zu finden, wurde 1983 parallel dazu ein Standort im CDU-regierten Rheinland-Pfalz benannt. Die endgültige Entscheidung fiel erst am 4. Februar 1985 für Wackersdorf.
Am 5. November 1981 verabschiedete die Bundesregierung die Dritte Fortschreibung des Energieprogramms der Bundesregierung. Sie "will dafür sorgen, daß die Voraussetzungen für einen weiteren Zubau an Kernkraftwerken gegeben sind", ohne Rücksicht auf Parteitagsbeschlüsse von SPD und FDP. Zusätzlich zu den derzeit betriebenen und den im Bau befindlichen müßten bis 1995 14 weitere Atomkraftwerke gebaut werden. Als Begründung mußten rigorose Preiserhöhungen der erdölproduzierenden Länder, die sowjetische Invasion in Afghanistan und der Krieg zwischen Iran und Irak herhalten. Wieder einmal sollte die "Sorge ums Öl" die "Furcht vor dem Atom" verdrängen helfen. Der für diesen überdimensionalen Atomenergiezuwachs notwendige Strombedarf soll durch die Förderung der Gebäudeheizung mit Strom erreicht werden. Mit diesem Programm wurden die in wenigen Jahren angewachsenen Erkenntnisse über das hohe Potential der rationellen Verwendung von Energie beiseitegeschoben und die Empfehlung der Enquête-Kommission, erst 1985 zu entscheiden, ad acta gelegt. Mit diesem Kurs der Härte überfuhr Helmut Schmidt auch die Atomkraftgegner in der SPD selbst.
Im Jahr 1982 wurden nach einer Pause von fünf Jahren wieder Genehmigungen für drei Atomkraftwerke erteilt. Als letztes war am 6. Juli 1977 der Druckwasserreaktor Philippsburg 2 genehmigt worden. Die Bundesregierung hatte sich mit den Bundesländern darauf geeinigt, wie die Genehmigungsverfahren für die Atomkraftwerke "ohne Einbuße an Sicherheit" beschleunigt werden könnten. Es ging um das sogenannte "Konvoi"-Verfahren. Die noch zu bauenden Atomkraftwerke sollten alle nach demselben Konzept geplant werden; war eins davon erst einmal genehmigt, konnten gegen das Konzept der im Konvoi nachfolgenden Anlagen keine Einwendungen mehr erhoben werden.
Die erste Genehmigung nach diesem Verfahren wurde am 12. Juli 1982 in Bayern für Isar2/Ohu erteilt. Am 10. August folgte in Niedersachsen die für Emsland/Lingen und am 10. November in Baden-Württemberg die für Neckarwestheim II. Trotz der Anstrengungen der Bundesregierung, den Ausbau der Atomenergie ganz erheblich zu steigern, blieben diese drei die letzten Atomkraftwerke, die in der Bundesrepublik gebaut worden sind.
Im September 1982 stellte die Physikalisch-Technische Bundesanstalt PTB in Braunschweig, die damals für die Endlagerplanung zuständig war, den Antrag auf Planfeststellungsverfahren für das Atommüllendlager Schacht Konrad in Salzgitter.
Am 17.September 1982 kam es zum Bruch der SPD-FDP-Koalition. Nach dem konstruktiven Mißtrauensvotum gegen Helmut Schmidt wurde Helmut Kohl Bundeskanzler mit einer Koalition aus CDU/CSU und FDP.
Bei der Bundestagswahl am 6. März 1983 erhielt die CDU/CSU 48,8% der Stimmen, die SPD 38,2%, die FDP 7%. Mit 5,6% der Stimmen zogen zum erstenmal die Grünen in den Bundestag ein. Helmut Kohls Position als Kanzler von CDU/CSU und FDP war gesichert.
Im Juli 1983 entschied sich die Bundesregierung für den Bau von zwei Bergwerksschächten für das Endlager im Salzstock Gorleben, bevor die Untersuchungsarbeiten abgeschlossen und bewertet waren. Mit dem Endlagerstandort Gorleben sollte das Programm Atomenergienutzung, das aus dem Schlingern nicht herausgekommen war, gerettet werden. Die zuständigen Wissenschaftler aus der PTB hatten zuvor empfohlen, andere Standorte zu untersuchen, weil sich schon jetzt zeigte, daß der Salzstock die erforderlichen Ansprüche an die Langzeitsicherheit nicht erfüllen würde. Per Weisung verbot ihnen Innenminister Zimmermann, öffentlich über diese Erkenntnisse zu sprechen.
In früheren Genehmigungsverfahren, insbesondere dem zum Atomkraftwerk Wyhl, war es den Betroffenen gelungen,die außerordentlichen Gefahren, die von einer solchen Anlage ausgehen können, zu thematisieren. Nun standen die Ergebnisse der DRS-A im Raum. Hatten sie zwar auch vorläufigen Charakter, so waren darin doch mögliche Unfallabläufe bis hin zu den Folgen für die Menschen und die Umgebung beschrieben und wissenschaftlich belegt. Um für die noch anstehenden Genehmigungsverfahren auszuschließen, daß Einwender sich auf diese Erkenntnisse stützten, machte man sich das Mißverständnis der Kalkar-Entscheidung zunutze, das das Bundesverwaltungsgericht unter Zuhilfenahme der Erwägungen Breuers eingeführt hatte. Danach schließt die nach dem Stand von Wissenschaft und Technik erforderliche Vorsorge die Hinnahme eines gewissen, nach den Maßstäben praktischer Vernunft aber nicht mehr in Rechnung zu stellenden Restrisikos mit ein.
Das "Restrisiko" galt nun als höchstrichterlich juristisch verbindlich definiert. Es wurde endgültig als Gegenstück zu den Auslegungsstörfällen behandelt. Nur einzelne Juristen hielten daran fest, daß diese Deutung der Logik der Kalkar-Entscheidung direkt widerspricht.
Damit war der Boden dafür bereitet, daß die in der DRS beschriebenen Unfallabläufe einer Berücksichtigung im Genehmigungsverfahren entzogen werden konnten. Sie bezogen sich ja nur auf den Restrisikobereich, gegen den eine Auslegung nun nicht mehr eingefordert werden konnte. Kernschmelzunfälle wurden als "hypothetisch" oder als "jenseits der Grenze der praktischen Vernunft" liegend aus der Diskussion verdrängt.
Gegenüber der Öffentlichkeit wurden die Auslegungsstörfälle dargestellt und behandelt als die Störfälle, die als einzige technisch möglich seien.
Von nun an setzte man alles daran, möglichst viele Störfalltypen, gegen die eine Auslegung entweder unmöglich oder einfach kostspielig ist, als zum "Restrisiko" gehörig zu definieren.
Gut kann man das zeigen am Beispiel der sogenannten "Basissicherheit", die Prof. Kußmaul von der Materialprüfungsanstalt der Universität Stuttgart 1978 als erster propagierte.
Ursprünglich entwickelte er das Konzept "Basissicherheit" als Antwort auf verschiedene negative Erfahrungen beim Bau von Reaktordruckbehältern.
Einerseits waren an bereits gebauten oder gerade in der Fertigung befindlichen Druckbehältern Risse und Fehlstellen gefunden worden. Andererseits zeigten Auswertungen der Schadensstatistik von konventionellen Druckbehältern, wie sie z.B. in Anlagen der chemischen Industrie verwendet werden, daß ihre Versagenswahrscheinlichkeit im Bereich von 1 mal in 100 000 Betriebsjahren liegt. Dieser Wert ist für Atomreaktoren wegen der gravierenden Folgen nicht tolerierbar.
Kußmaul behauptete nun, beim Bau von Reaktordruckbehältern sei besondere Sorgfalt bei der Materialwahl und bei der Überwachung der Fertigung garantiert, wegen dieser "Basissicherheit" könne das Versagen des Reaktordruckbehälters und der druckführenden Leitungen des Primärkreislaufs ausgeschlossen werden.
Bei einer neuen Verhandlung um Wyhl vor dem VGH Mannheim im September 1981 trat Kußmaul gegen die Berstschutz-Forderung des Freiburger Verwaltungsgerichts auf. Er hielt ein "Versagen durch Bersten" für "nicht begründbar", zusätzlicher Berstschutz sei mithin überflüssig.
Kußmauls Gutachten lag auch der Neufassung der Störfalleitlinien für Druckwasserreaktoren zugrunde, die das Bundesinnenministerium im August 1983 herausgab. In diesen Regeln ist festgelegt, gegen welche Störfälle bei der Planung von Atomkraftwerken Schadensvorsorge erforderlich ist, also Sicherheitseinrichtungen berücksichtigt werden müssen.
Nun benutzte man die "Basissicherheit" auch als Begründung dafür, daß bestimmte Sicherheitseinrichtungen nicht notwendig seien.
Wenn eine der Hauptkühlmittelleitungen während des Betriebs der Anlage abreißt, dann werden sehr große Kräfte frei, unter denen die Enden der Rohre weit ausschlagen und benachbarte für die Sicherheit notwendige Anlagenteile zertrümmern können. Auch ein solcher Unfall würde zu einer Kernschmelze führen. Solche Leitungen haben deshalb normalerweise Halterungen, sogenannte Ausschlagsicherungen, mit denen das Umsichschlagen der Rohrenden verhindert werden soll. Man behauptete, allein wegen der "Basissicherheit" seien solche Unfälle unmöglich. Die Ausschlagsicherungen könnten deshalb wegfallen. Im Genehmigungsverfahren brauchten deshalb Nachweise für die Aufnahme dieser Kräfte nicht erbracht zu werden.
So wurde beim Atomkraftwerk Brokdorf nachträglich nach Einführung des "Basissicherheit" in der 4. und 5. Teilerrichtungsgenehmigung (vom 21. Dezember 1982 und 30. Dezember 1985) auf die Ausschlagsicherungen verzichtet. Brokdorf wurde damit der weltweit der erste große Druckwasserreaktor, der nicht mehr gegen diese Folgen des bekanntesten Auslegungsstörfalls ausgelegt ist.
Im Ausland wird nicht derart unvorsichtig mit dem Risiko von Rohrleitungsbrüchen umgegangen.
Schließlich wurde die "Basissicherheit" auch zum Nachweis der Sicherheit schon lange betriebener älterer Anlagen herangezogen.
Unter dem Stichwort "Abbau von Überkonservativitäten" wurde durch die Ausgrenzung von Störfallabläufen aus dem Katalog der Auslegungsstörfälle der Sicherheitsstandard für Atomkraftwerke in der Bundesrepublik eher gesenkt als erhöht. Wurde zuerst der Bruch des Reaktordruckbehälters und der Hauptrohrleitungen aus der Betrachtung ausgeschlossen, wurden danach auch die Ausschlagsicherungen wegdiskutiert.
Weil für Nichtinsider die technischen Zusammenhänge kaum zu verstehen waren, konnte dieser Abbau an Sicherheit weitgehend unbeachtet von der Öffentlichkeit vor sich gehen.
Die Arbeit an der Deutschen Risikostudie Kernkraftwerke, die ja weiterging, wurde als "rein theoretische Auseinandersetzung" behandelt. Die Diskussionen um sie wurden verdrängt in den wissenschaftsinternen Bereich, den GRS und KfK dominierten, allerdings immer unter scharfer Beobachtung durch die Darmstädter Projektgruppe Reaktorsicherheit des Öko-Instituts.
Auch die Rechtsprechung trug ihren Teil dazu bei, die Auseinandersetzung um die außerordentlichen Gefahren der Atomenergienutzung aus der Öffentlichkeit zu verbannen. Das kann man an dem Fortgang der gerichtlichen Auseinandersetzungen um Wyhl beobachten.
Der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg in Mannheim am 14. März 1982 das Urteil des Verwaltungsgerichts Freiburg auf, mit dem die erste Teilerrichtungsgenehmigung für Wyhl als rechtswidrig erklärt worden war.
Zwar konnte der VGH nun die Erfahrungen von Harrisburg nicht übergehen. Er übernahm aber die Diktion der Bundesregierung, der Reaktor TMI II sei technisch mit dem in Wyhl geplanten nicht vergleichbar, ein solcher Unfall könne deshalb in Wyhl nicht passieren.
Weiter stellte der VGH fest, daß ein Unfall in der Größenordnung einer nationalen Katastrophe nicht auszuschließen sei. In diesem Punkt mochte er sich nicht über die Aussage des Verwaltungsgerichts von 1977 hinwegsetzen. Er zog aber eine höchst zweifelhafte Schlußfolgerung daraus.
Dieser Unfall sei höchst unwahrscheinlich. Bei der Überprüfung durch das Verwaltungsgericht komme es aber nicht darauf an, ob bei einem Unfallereignis viele tausend Menschen umkämen oder lediglich der Kläger; der Kläger selbst könne sich nämlich allein auf den Schutz seines eigenen Lebens berufen und nicht darauf, daß mit ihm noch Tausende andere gefährdet seien. Auf ihn allein bezogen sei das Risiko noch wesentlich geringer. Er könne deshalb die gerichtliche Überprüfung nicht verlangen. Der VGH verknüpfte also den juristischen Grundsatz des individuellen Rechtsschutzes, nach dem eine gerichtliche Überprüfung nur aus der Sicht des einzelnen Klägers erfolgen kann, mit einer absurden Rechnerei mit Risikozahlen.
Wo man nicht klagen kann, kann auch kein Richter Recht sprechen. Mit seiner Argumentation entzog der VGH wesentliche Gefahrenbereiche der Atomenergienutzung der Rechtmäßigkeitskontrolle durch die Verwaltungsgerichte.
Das war vor der Festsetzung der Störfall-Leitlinien von 1983.
Der juristische Streit um Wyhl war aber immer noch nicht beendet. Im Dezember 1985 kam es zur endgültigen Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts.
Für die Vertreter der Landesregierung und der Betreiberfirmen muß es höchst ernüchternd gewesen sein, daß der Gerichtssaal im fernen Berlin selbst nach fast elf Jahren seit der Genehmigung gefüllt war mit Menschen aus den Badisch-Elsässischen Bürgerinitiativen.
Das BVerwG entschied zu Lasten der Kläger.
Aus der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts greifen wir zwei Punkte heraus.
Der Bürger kann die Beachtung des "vorläufigen positiven Gesamturteils" verlangen, das im gestuften atomrechtlichen Genehmigungsverfahren mit der ersten Teilerrichtungsgenehmigung verbunden ist. Daraus ergibt sich jedoch, daß der Bürger, der gegen die erste Teilerrichtungsgenehmigung klagen will, selbst den Nachweis führen muß, daß der rechtmäßige Betrieb zum Zeitpunkt der Inbetriebnahme der Anlage nicht möglich sein würde. Das BVerwG meinte nun, wenn nach herrschender Auffassung der Wissenschaftler die Lösung von technischen Problemen in Zukunft möglich erscheine, dann sei die Klage unbegründet.
Wem das BVerwG zutraute, die herrschende Auffassung der Wissenschaftler zu vertreten, das haben wir anläßlich der Auseinandersetzung mit dem Mißverständnis gesehen, das auf den Aufsatz von Breuer zurückging. Wenn ein Schadenseintritt nicht mehr in Betracht gezogen zu werden brauchte, weil es genügte, daß er "nach dem Erkenntnisstand der führenden Naturwissenschaftler und Techniker praktisch nicht vorstellbar" ist, dann hatte ein Kläger kaum eine Chance, dem eine andere Auffassung entgegen zu setzen.
Aber das Bundesverwaltungsgericht entzog sich auch der Verpflichtung, hier wenigstens selbst noch eine Kontrolle auszuüben. Es erklärte: "Risikoermittlung und Risikobewertung gehören zur Kompetenz der Exekutive." Es führte aus, was darunter verstanden werden sollte. Z. B. sei die Allgemeine Berechnungsgrundlage für Strahlenexpositionen bei radioaktiven Ableitungen mit der Abluft eine normkonkretisierende Richtlinie. Sie binde auch die Verwaltungsgerichte.
Diese Richtlinie ist aber nicht Gesetz, sondern nur durch die Verwaltung erlassen. Dasselbe ist von den Störfall-Leitlinien zu sagen. Dadurch wird deutlich, was Normkonkretisierung durch die Verwaltung bedeutet. Es ist die Verwaltung, die die Grenze zwischen Gefahr und Vorsorge und Restrisiko bestimmt.
Für das BVerwG folgte daraus, daß es nicht Sache der nachträglichen verwaltungsgerichtlichen Kontrolle sein könne, die der Exekutive zugewiesene Wertung wissenschaftlicher Streitfragen einschließlich der daraus folgenden Risikoabschätzung durch eine eigene Bewertung zu ersetzen. Die Genehmigungsbehörde dürfe im Rahmen ihrer Entscheidung die nach dem Stand von Wissenschaft und Technik dem einzelnen gegenüber erforderliche Vorsorge gegen Schäden als getroffen ansehen, und damit habe es auch mit dem Drittschutz sein Bewenden.
Das hieß: Der klagende Bürger als der Dritte gegenüber Antragsteller und Genehmigungsbehörde konnte nicht mehr das Verwaltungsgericht dazu bringen, sich mit den wissenschaftlichen Streitfragen und ihrer Wertung zu befassen. Er muß sich darauf verlassen, daß die Genehmigungsbehörde ihre Entscheidung getroffen hat gestützt auf die Richtlinien, die auf die herrschende Auffassung der Wissenschaftler und Expertengremien zurückgehen. Die durch Normkonkretisierung zustandegekommenen Richtlinien kann er nicht durch Klage in Frage stellen. Mehr Schutz seiner Rechte als Dritter kann er auch vom Gericht nicht verlangen.
Dieses Urteil des BVerwG war Ausdruck eines tiefen Glaubens in die Ernsthaftigkeit der Veranwortung und die Besorgtheit der wissenschaftlichen und technischen Experten in den Beratergremien.
Das Bundesverwaltungsgericht entzog sich so einerseits der Forderung der Kalkar-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, das zwar die Schwierigkeiten gesehen hatte, die auf Gerichte bei der Bewertung wissenschaftlich strittiger Fragen zukommen können, die Gerichte aber dennoch nicht aus ihrer Verantwortung zum Schutz der Grundrechte entlassen hatte.
Andererseits hat es den Drittschutz aufs engste eingeschränkt, ganz im Gegensatz zur Mülheim-Kärlich-Entscheidung, in der das Bundesverfassungsgericht die grundrechtliche Bedeutung eines effektiven Rechtschutzes so klar herausgestellt hatte.
Vor den Bürgern als Drittbetroffenen breitete sich juristisches Niemandsland aus.
Am Montag, dem 28. April 1986, berichteten die Medien in der Bundesrepublik, nach Messungen stark erhöhter Radioaktivität in Finnland, Schweden, Norwegen und Dänemark müsse sich am 26. April in dem sowjetischen Atomkraftwerk Tschernobyl ein schwerer Unfall ereignet haben. Nach Art und Menge der gemessenen radioaktiven Stoffe müsse es in einem der vier Reaktoren zur Zerstörung des Kerns gekommen sein. Im Lauf des Tages versuchten Journalisten, alle erreichbaren Informationen zusammenzutragen. Das erwies sich als außerordentlich schwierig, weil die sowjetischen Behörden noch am Montagnachmittag keine Angaben über Einzelheiten des Unglücks machten. Spätestens am Dienstag wurden auch in der Bundesrepublik stark erhöhte radioaktive Belastungen festgestellt.
Abbildung 5. Der zerstörte Reaktorblock in Tschernobyl
Was hatte sich ereignet? Bis heute sind der Unfallablauf und seine Auswirkungen nicht in allen Einzelheiten geklärt. Es kann daher nur ein Teil der Fakten rekonstruiert werden. Aus den wichtigsten bekanntgewordenen Details ergibt sich etwa folgendes: Die Bedienungsmannschaft hatte den Auftrag bekommen, mit dem Reaktor einen Versuch durchzuführen. Die Arbeitsanweisungen dafür waren schlecht vorbereitet und unvollständig. Schon bei der Vorbereitung des Versuchs am 25. April kam es zu Schwierigkeiten. Um den Versuch am frühen Morgen des 26. April dennoch beginnen zu können, setzte sich die Mannschaft über Bedienungsanweisungen hinweg. Sehr schnell reichte die Reaktorkühlung nicht mehr aus. Als etwa 20 Minuten nach ein Uhr der Versuch abgebrochen werden sollte, war es bereits zu spät. Im selben Moment waren zwei Explosionen zu hören. Augenzeugen außerhalb sahen, wie über dem Kraftwerksblock glühende und brennende Teile feuerwerksartig in die Höhe geschleudert wurden. Durch chemische Reaktionen von Dampf mit den Metallen der Brennelemente war es zu den Explosionen gekommen. Die hohe Temperatur setzte den Graphitblock in Brand, in dem in einzelnen Röhren die Brennelemente angeordnet waren. Ein Teil des Reaktorblocks und das umgebende Gebäude wurden zerstört. Es kam zur Kernschmelze. Mit dem vom Brand stark erhitzten Luftstrom wurden radioaktive Stoffe aus dem Reaktorkern herausgerissen und bis in weite Entfernungen getragen.
Der 30-km-Umkreis um das zerstörte Atomkraftwerk mußte für unbewohnbar erklärt werden. Die 30 000 Einwohner der nahegelegenen Kleinstadt Pripjat und des übrigen Gebiets wurden fast ohne Vorbereitung für dauernd evakuiert. Gebiete in größerer Entfernung waren zum Teil weit höher verstrahlt.
Bis dahin hatten auch Fachleute nicht damit gerechnet, daß der Graphit im Reaktor Feuer fangen könnte. Ohne Unterbrechung der Luftzufuhr konnte er nicht gelöscht werden. Wurde der Graphitbrand mit dem Transport von radioaktiven Stoffen aus dem Reaktor sich selbst überlassen, standen noch weit schlimmere Auswirkungen bevor. Man griff zu dem Mittel, aus Hubschraubern tausende Tonnen von Sand und Dolomit sowie Bor und Blei, die radioaktive Strahlung absorbieren, auf die Ruine abzuwerfen. Tausende von Armeeangehörigen wurden zu den Rettungsarbeiten abkommandiert. Erst gegen den 5. und 6. Mai brachte das einen gewissen Erfolg.
Die Freisetzungen aus dem Reaktor dauerten etwa elf Tage lang an. Mit dem Luftstrom des Brandes wurden sie in große Höhen transportiert und durch die in jenen Tagen stark drehenden Winde zuerst bis nach Skandinavien, dann auch über ganz Mitteleuropa verbreitet. In den Tagen um das Monatsende wurden Meßergebnisse von Jod 131 und Cäsium 137 aus allen Teilen der Bundesrepublik bekannt, die die offiziell angesetzten Grenzwerte bedenklich überschritten. Insbesondere in Süddeutschland wurden sie durch mehr oder weniger heftige Regenfälle verstärkt. Niemand hatte sich bis dahin vorstellen können, daß ein schwerer Reaktorunfall noch in so großen Entfernungen so erhebliche Auswirkungen haben könnte.
Das Wissen, dieser konkreten Gefahr unausweichlich ausgesetzt zu sein, bewirkte in der Bevölkerung der Bundesrepublik ein Gefühl von sprachloser Erschütterung bis zu Panik. Auch Wissenschaftler, die sich theoretisch mit den Folgen von schweren Reaktorunfällen vertraut gemacht hatten, berichteten später von dem Empfinden von Entsetzen und Hilflosigkeit, das ihnen zuerst bewußt geworden sei, weil sie keine Worte dafür fanden, als tatsächlich geschah, was sie doch erwartet hatten. Selbst Befürworter der Atomtechnik gaben im ersten Moment zu, daß dies das Schlimmste war, was in einem Atomkraftwerk passieren konnte.
Viele Juristen und Verwaltungsrichter hatten sich in den Gerichtsverfahren von den offiziellen Sachverständigen überzeugen lassen, das Restrisiko sei das, "was nicht eintritt", und die Kernschmelze gehöre dazu. Gerade sie traf der Schock besonders.
Die ersten offiziellen Reaktionen in der Bundesrepublik kamen von Bundesforschungsminister Riesenhuber. Er meinte am 29. April, nach dem gegenwärtigen Erkenntnisstand stelle der Unfall keine Gefahr für das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland dar. Am selben Tag erklärte der Innenminister Zimmermann, falls dies von der UdSSR gewünscht werde, sei die Bundesregierung zu jeder ihr möglichen Hilfe bereit. Mit dieser Erklärung verband er die weitere, in bundesdeutschen Kernkraftwerken könne ein Unfall wie der in Tschernobyl ausgeschlossen werden. Deutsche Kernkraftwerke seien anerkannt sicher und stünden unter ständiger Kontrolle. Außerdem sei ihre Technik anders.
Aber in der Bevölkerung war nach den Auseinandersetzungen der vorausgegangenen Jahren soviel an kompetenter Information vorhanden, daß sie sich weigerte, diese Beschwichtigungsversuche zu akzeptieren, mit denen die verantwortlichen Minister die Atomkatastrophe herunterspielten, um den weiteren Ausbau der Atomenergie und Plutoniumwirtschaft nicht zu gefährden. Sie lösten eher Verärgerung aus wegen des Mangels an Verantwortung, der sich dahinter zu erkennen gab.
Angesichts der strahlenbelasteten Nahrungsmittel und der Einschränkungen der Bewegungsfreiheit, die insbesondere die Kinder mit ihrem Spielbedürfnis traf, suchte man notwendigen Rat für ein angemessenes Verhalten. Man traute ihn eher unabhängigen und nichtstaatlichen Instituten zu. Dort standen monatelang die Telefone nicht still, weil besorgte und sich hilflos fühlende Menschen um Auskünfte baten.
Allenthalben kämpfte man anfangs darum, sich nicht vom Gefühl lähmender Angst überwältigen zu lassen. Eine hilfreiche Alternative war, selbst aktiv zu werden. Das geschah in verschiedensten schon lange existierenden Gruppen wie in neu sich zusammenfindenden Mütter- und Elterninitiativen. In vielen Städten folgte man einem Aufruf des Öko-Instituts vom 8. Mai und gründete Energiewendekomitees, in denen man gemeinsam massiven Druck auf die verantwortlichen Politiker und Behörden ausüben konnte, um mögliche energiepolitische Alternativen durchzusetzen. Die praktischen Erfolge bei der Änderung örtlicher Energiepolitik, die man heute beobachten kann, gehen in sehr vielen Fällen auf die Arbeit solcher Gruppen zurück.
Das Öko-Institut erstellte gemeinsam mit dem Institut für ökologische Wirtschaftsforschung im Auftrag des Bundeswirtschaftsministeriums ein erstes Szenario, in dem belegt wurde, daß der Ausstieg aus der Atomenergie sofort möglich war. Auch nach späteren Untersuchungen sind die Bedingungen dafür immer noch vorhanden.
Bis in die politischen Parteien hinein mehrten sich die Stimmen für einen Ausstieg aus der Atomenergie. Die Grünen forderten: Sofort. In der SPD hieß es: So schnell wie möglich. Und auf dem Parteitag im August kam es zu dem Beschluß, falls die SPD wieder die Bundesregierung stellt, sollten spätestens in zehn Jahren alle Atomkraftwerke stillgelegt sein.
In zahlreichen Demonstrationen in den Städten und gegen die bereits betriebenen Atomkraftwerke gab die Bevölkerung ihrer Hoffnung Ausdruck, nun könnte endlich die sofortige Stillegung aller Atomkraftwerke durchgesetzt werden.
Schon seit längerem war der 13. Juni 1986 für die Inbetriebnahme des Atomkraftwerks Brokdorf vorgesehen. Die Anti-AKW-Bürgerinitiativen hatten schon vor dem Unglück in Tschernobyl eine Demonstration kurz vor diesem Zeitpunkt am 7. Juni am Bauplatz geplant. Nun empfanden es sehr viele als Provokation, daß ausgerechnet dieses so heftig umstrittene und darüber hinaus überhaupt noch ein Atomkraftwerk so bald nach der Katastrophe in Betrieb gehen sollte.
Aber wieder wurde eine Diffamierungskampagne gegen die Demonstration gestartet. Mit der Behauptung, es gebe gesicherte Erkenntnisse über geplante terroristische Anschläge wurde einerseits vor der Teilnahme an der Demonstration gewarnt, andererseits ein massives Polizeiaufgebot begründet. Am Tag der Demonstration selbst kam es am Baugelände und an einer engen Ortsdurchfahrt weit davon entfernt ohne jeden Anlaß zu maßlos provokativen Übergriffen der Polizei.
Als am folgenden Sonntagvormittag in Hamburg sich spontan mehrere hundert Leute zum Protest gegen diese Polizeiaktionen zusammenfanden, wurden sie unter dem Vorwand, sie planten Zerstörungen in der Innenstadt, viele Stunden lang festgehalten. Dagegen kam es in den angrenzenden Stadtteilen zum Ausbruch heftiger Empörung.
Viele Menschen, die sich zum erstenmal entschlossen hatten, sich an einer so großen Demonstrationen zu beteiligen, erlebten diese Brutalität als ganz besonders erschreckend, weil sie es nun als so ganz besonders notwendig verstanden hatten, sich für ihre Schutzbedürfnisse einzusetzen! Manchem blieb das lange im Gedächtnis, daß die politisch Verantwortlichen sich sogar unter diesen Bedingungen über den Willen der Bevölkerung hinwegsetzten. Es mag auch Resignation und Zweifel gefördert haben, gegen diese staatlich gebilligten Gewaltakte die eigenen Interessen durchsetzen zu können.
Am 6. Juni 1986 gründete die Bundesregierung das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Der erste Minister wurde der ehemalige Frankfurter Oberbürgermeister Wallmann. Nach ihm wurde das sogenannte Wallmann-Ventil benannt, eine Einrichtung zur "gefilterten Druckentlastung", die nach und nach in alle deutschen Atomkraftwerke eingebaut wurde, mit der der Druck im Sicherheitsbehälter eines Atomkraftwerks nach einem Kernschmelzunfall so weit abgesenkt werden soll, daß der Behälter nicht zerstört wird. Über die Mängel ihrer Wirksamkeit werden wir später zu sprechen haben.
Gerade in den letzten Apriltagen sollten die Ergebnisse des im KfK bearbeiteten Projekts Nukleare Sicherheit öffentlich vorgestellt werden. Wegen der schlimmen Nachrichten aus Tschernobyl verschob man diese Veranstaltung bis in den Juni. Während der Pressekonferenz wagte man zu behaupten, bei einem deutschen Reaktor werde man selbst bei einem Kernschmelzen außerhalb praktisch nichts merken. So wurde es auch durch die Medien der Öffentlichkeit vermittelt. Die wissenschaftlichen Arbeiten waren zu diesem Zeitpunkt aber zu ganz anderen Ergebnissen gekommen. Das Öko-Institut widersprach dieser falschen und irreführenden Behauptung in einem umfangreichen Papier. Einige Wochen später brachte die Süddeutsche Zeitung eine Gegenüberstellung der Aussagen des Öko-Instituts und denen des KfK. Das löste nicht nur eine öffentlich geführte Kontroverse aus, sondern führte sogar im KfK zu heftigem Ärger, denn man mußte bestätigen, daß man die eigenen Aussagen gegen die des Öko- Instituts nicht aufrechterhalten konnte.
Seit dem Unglück von Tschernobyl gibt es eine Beständigkeit der abwehrenden Haltung gegen Atomkraftwerke in breitesten Kreisen.
Heute noch fürchten die Vertreter der Atomindustrie den Jahrestag der Katastrophe. Auch die Hilfe, die von vielen Gruppen für die erkrankten und belasteten Kinder aus dem Umkreis von Tschernobyl geleistet wird, hält die Erinnerung und das Wissen wach.
Im März 1989 erklärte der Vorstandsvorsitzende der Veba, von Bennigsen-Foerder, für viele überraschend, die deutsche Stromwirtschaft sei nicht länger bereit, die Kosten für Planung und Bau der Wiederaufarbeitungsanlage (WAA) in Wackersdorf zu tragen. Bundeskanzler Kohl reagierte zuerst mit heftiger Verärgerung. Er hatte bis dahin das Projekt für abgesichert gehalten, obwohl sich die finanziellen Schwierigkeiten für das Projekt schon lange abgezeichnet hatten.
Die bayerische Staatsregierung hatte den Standort Wackersdorf in der Hoffnung vorgeschlagen, in der abgelegenen Oberpfalz werde sich nur geringer Widerstand gegen die Anlage entwickeln.
Es kam aber anders.
Der Leiter der Kernforschungsanlage Jülich, Merz, faßte es in der Ausgabe der atw vom Oktober 1989 in die treffenden Worte: "Neben den ökonomischen Vorteilen dürften politische Gründe mindestens ebenso ausschlaggebend für die unerwartete Entscheidung der Veba ... gewesen sein. Das juristische Hick-Hack, das ... über die Jahre 1986 bis im Frühjahr 1989 im Rahmen des Genehmigungsverfahrens stattgefunden hat und die parallel dazu abgelaufenen Demonstrationen am Baugelände und während der Anhörungsverfahren, sprechen für sich."
Die Bundesregierung hatte es abgelehnt, die Kosten für den Bau der Anlage zu übernehmen. Sie hatte erreicht, die Atomkraftwerksbetreiber dafür in die Pflicht zu nehmen. Die Planung und Antragstellung für die Anlage wurde von der Deutschen Gesellschaft für Wiederaufarbeitung DWK durchgeführt, einem Konsortium, das von den großen Stromproduktionsunternehmen gemeinsam getragen wurde.
Schon nach der ersten Auslegung der Antragsunterlagen der DWK waren im Erörterungstermin erhebliche Planungsmängel festgestellt worden.
Am 4. Februar 1985 fiel die endgültige Entscheidung. Den Zuschlag für die Bauarbeiten erhielt ein Konsortium unter Federführung der Siemens-Tochter Kraftwerksunion KWU.
Wenige Tage danach sprachen sich auf einer Demonstration in Schwandorf 40.000 Demonstranten, fast nur Menschen aus der Region und von diesen unerwartet viele, gegen die WAA aus. Den Bau der Plutoniumfabrik lehnten sie ab wegen der radioaktiven Verseuchung der Umgebung, wegen der Beziehung zum Schnellbrüterprogramm und der militärischen Nutzbarkeit des produzierten Plutoniums, und weil sie nicht bereit waren, den Verlust der Arbeitsplätze in der Maxhütte in Sulzbach-Rosenberg durch die Zustimmung zu den angebotenen Arbeitsplätzen in der WAA hinzunehmen.
Die Bevölkerung und die Anti-Atom-Initiativen entwickelten früh die unterschiedlichsten Aktionsformen.
Hart an der Grenze zum zukünftigen Baugelände wurde ein Franziskusmarterl errichtet, an dem regelmäßig ökumenische Andachten stattfanden.
Im August 1985 wurde eine Besetzung auf dem Bauplatz und die Errichtung eines Freundschaftshauses organisiert. Ihre polizeiliche Räumung am Mittag erfüllte nicht ihren Zweck der Einschüchterung, sondern bestärkte die Bevölkerung aus der Umgebung in ihrem Widerstand gegen die staatliche Entscheidung.
Im September 1985 wurde die erste Teilerrichtungsgenehmigung erlassen.
Als im Dezember 1985 der Rodungsbeginn gerichtlich genehmigt war und mit der Rodung begonnen wurde, erzwangen am 14. Dezember aus einer Demonstration mit 40 000 Teilnehmern heraus mehrere tausend Menschen eine zweite Platzbesetzung erzwungen und danach ein Hüttendorf gebaut.
Sie wurde am 16. Dezember durch polizeiliche Räumung beendet.
Am 20. Dezember wurden die Rodungsarbeiten unterbrochen. Da wurde die Errichtung eines Hüttendorfs begonnen. Vom 21. Dezember bis zum 5. Januar hielten dort ungefähr 800 Menschen in winterlicher Kälte aus, von Bewohnern der Umgegend mit Hilfe und Zuspruch unterstützt.
Zwar war auch diesmal die Räumung durch die Polizei unausweichlich, und die bereits begonnene Rodung wurde fortgesetzt. Aber auch dies bestärkte in der Oberpfalz eher den Durchhaltewillen.
Es kam zu regelmäßigen Demonstrationen am Baugelände. Selbst als ein stabiler Zaun um das Gelände errichtet war, gab die Bevölkerung die Demonstrationen nicht auf.
Im Frühjahr und Sommer steigerte die Polizei die Anwendung von immer brutaleren Mitteln. Seit Pfingsten wurde sogar Kampfgas eingesetzt, das in der Kriegführung nicht erlaubt ist. Am 7. Juni versammelten sich trotz eines Demonstrationsverbots weit über 40 000 Menschen am Bauzaun, um gegen diesen WAAhnsinn zu demonstrieren.
Die Bilder dieser bürgerkriegsähnlichen Zusammenstöße zwischen den Demonstranten und den staatlichen Polizeikräften zogen international das Aufsehen auf sich.
Ein Staat, der sich so darstellt, wird nicht mehr wahrgenommen als Schutzinstitution für die Grundrechte der Bürger.
Von Anfang an konnte mit Klagen von Einzelpersonen und Gemeinden gegen verschiedene Genehmigungsakte Aufschub durch Gerichtsentscheidungen Aufschub bewirkt werden.
Im März 1987 erbat die DWK überraschend die Antragsunterlagen von der Genehmigungsbehörde zurück. Bei der Detailplanung der KWU hatten sich so große technische Schwierigkeiten gezeigt, daß sich schließlich die Baupläne deutlich von den ursprünglichen unterschieden. Seit dem Herbst 1987 wurden nach und nach neue Unterlagen für ein erheblich verändertes Konzept bei der Genehmigungsbehörde abgeliefert. Von den umfangreichen Änderungen war fast jeder Anlagenteil betroffen. Die Genehmigungsbehörde mußte ein neues Genehmigungs- und Beteiligungsverfahren einleiten.
Das Interesse der Medienöffentlichkeit wuchs.
Ungewöhnlich viele Menschen nutzten aktiv die Beteiligung an diesem neuen Genehmigungsverfahren. Während der Einwendungsfrist im Frühjahr 1988 wurden über 800.000 Einwendungen gegen die neuen Planungen erhoben, von denen weit über die Hälfte in Österreich gesammelt worden waren.
Im Juli 1988 fand über mehrere Wochen ein weithin beachteter Erörterungstermin statt. In enger Zusammenarbeit mit der Bürgerinitiative, die die Interessen der Betroffenen vertrat, konnten die Sachbeistände der Einwenderseite vorführen, daß die Anlage auch nach den neuen Unterlagen große technische Mängel hatte und die Umgebung hoch belasten würde. Nur die Aufwendung beträchtlicher zusätzlicher finanzieller Mittel hätte die Aussicht auf mögliche Verbesserungen eröffnet.
Abbildung 6. Das Freundschaftshaus vom 15. August 1985 auf dem Bauplatz der WAA Wackersdorf
Als der Erörterungstermin nach fünf Wochen von der Verhandlungsleitung abgebrochen wurde, verstanden das alle Anwesenden als Niederlage für die DWK.
Das macht verständlich, wie die Stromwirtschaft, die das alles bezahlen sollte, zu ihrer endgültigen Enscheidung gegen den Bau der Wiederaufarbeitungsanlage Wackersdorf kam.
Dieser bisher eindrucksvollste Erfolg der Bevölkerung, die sich gegen die Nutzung der Atomtechnik wehrt, hat gezeigt, daß es für die von den Gefährdungen Betroffenen mitentscheidend ist, was für eine Auffassung von ihren Rechten im Genehmigungsverfahren sie haben.
Das Beteiligungsrecht nach Atomrecht ist sehr oft nur danach beurteilt worden, wie mißgünstige Verhandlungsleiter es gegen Einwenderinnen und Einwender gehandhabt hatten. Verbreitet hatte sich die Meinung gebildet, es sei von vornherein nur eine Farce, ein schlecht gespieltes Schmierentheater, in dem die Interessen der Betroffenen übergangen wurden.
In den hartnäckigen Auseinandersetzungen um die WAA Wackersdorf haben die Bürgerinitiativen einerseits von Anfang an immer wieder eine Beziehung zwischen den Genehmigungsschritten und den Demonstrationen hergestellt.
Andererseits wurden im Genehmigungsverfahren die Handlungsmöglichen aus dem Beteiligungsrecht von den Bürgerinitativvertretern und einigen ihrer Sachbeistände konsequent und offensiv genutzt.
Man darf dahinter die Nutzbarmachung der Erfahrungen vermuten, die in den Auseinandersetzungen um das Atomkraftwerk Mülheim-Kärlich gemacht wurden bis hin zu dem Bundesverfassungsgerichtsurteil von 1979. Auch gab es keine Kernschmelzproblematik und deshalb keine als "Restrisiko" bezeichnete Grenze, mit der es den Einwendern hätte verwehrt werden können, sich gegen die schwerwiegenden Folgen von möglichen Unfällen zu wehren.
Auch an den Standorten anderer Atomanlagen ließen sich viele andere Gruppen und Einzelpersonen trotz wiederholter leidvoller Erfahrungen von dieser Auffassung ihrer Rechte nicht abbringen, sondern hielten oft über lange Jahre zäh an ihr fest.
Die Anteilnahme breiter Kreise der Bevölkerung an allen den Aktionsformen gegen die WAA Wackersdorf wurde selbst von Vertretern der Atomwirtschaft als deutliches Zeichen dafür betrachtet, daß eine "nationale" Wiederaufarbeitungsanlage endgültig politisch nicht mehr durchsetzbar war.
Nachdem der Plan für Wackersdorf aufgegeben war, war die gesamte Entsorgungsplanung in der Bundesrepublik Deutschland durcheinandergeraten. Ein Endlager für hochradioaktive Abfälle war nicht in Sicht. Die Atomindustrie rettete sich mit den Problemen um den Abtransport der abgebrannten Brennelemente in die Weiterführung der bestehenden Verträge mit La Hague in Frankreich und Sellafield in Großbritannien. Die Verhandlungen darüber, die gezwungenermaßen die Bundesregierung führen mußte, kamen am 6. Juni 1989 zum Abschluß.
Frühzeitig wurde von Atomkraftgegnern gefordert, auch diesen Weg nicht mehr zuzulassen. Denn das Verschieben der Wahrnehmung der Gefährdung aus dem eigenen Gesichtskreis verführte die politisch Verantwortlichen dazu, fürs erste eine weitere Notwendigkeit zum Handeln nicht zu erkennen. Darüber hinaus kann in beiden Anlagen wegen der Ableitung von radioaktiven Abwässern ins Meer von einer schadlosen Beseitigung der gefährdenden Stoffe nicht die Rede sein.
Das Planfeststellungsverfahren für das Endlager für schwach- und mittelradioaktive Abfälle in Schacht Konrad mußte unterbrochen werden. Die Kontrollierbarkeit der plutoniumhaltigen Wiederaufarbeitungsabfälle, die nun aus den unter militärischer Führung stehenden ausländischen Anlagen zurückgenommen werden mußten, war nicht mehr sichergestellt. Bis heute ist unklar, ob dieses Problem neben den vielen anderen, die im Erörterungsverfahren bekannt wurden, zufriedenstellend gelöst werden konnte. Die Genehmigung für Schacht Konrad ist immer noch nicht in Sicht.
Unterdessen verstärkt sich der politische Druck, den Entsorgungsproblemen auszuweichen durch die langfristige Lagerung aller Abfallarten in bloßen Zwischenlagern ohne genügenden Schutz für die Bevölkerung.
Unter den für die Atomwirtschaft so unangenehm chaotischen Verhältnissen des Sommers 1989 wurde die Phase B der Deutschen Risikostudie Kernkraftwerke fertiggestellt.