Atomkraftwerke - Unsicher und grundrechtswidrig
Ein Bericht über Kernschmelzgefahr und Grundrechtsbeeinträchtigungen


Teil 2

Kernschmelzunfälle in deutschen Atomkraftwerken und ihre Auswirkungen auf Menschen und Umwelt


Inhalt

Die Veröffentlichung der Phase B der Deutschen Risikostudie Kernkraftwerke

Die politische Wirkung der DRS-B: Änderung des Atomgesetzes 1994

Was bedeutet: "Keine einschneidenden Maßnahmen außerhalb der Anlage erforderlich"?

Kernschmelzunfallfolgen in heute betriebenen Atomkraftwerken und Beziehungen zur Katastrophenschutzplanung

Aufbau und Funktionsweise von Druckwasserreaktoren und Ursachen für Kernschmelzunfälle

Phänomene und Schlüsselprobleme im Zusammenhang mit Kernschmelzunfallabläufen in heute betriebenen Druckwasserreaktoren

Kernschmelzphänomene in der Kurzzeitphase (Stunden nach Unfallbeginn)

Kernschmelzphänomene in der mittleren Zeitphase (Tage nach Unfallbeginn)

Schlüsselprobleme: Unwirksamkeit von Gegenmaßnahmen bei derzeitigen Druckwasserreaktoren

Weitere Möglichkeiten für das Eintreten von schwerwiegenden Unfällen in Atomkraftwerken, die Kernschmelzen zur Folge haben können

Nachweis von Ereignissen beim Kernschmelzen durch Experimente

Siedewasserreaktoren und Erkenntnisse über Kernschmelzunfälle

Aufbau und Funktionsweise von Siedewasserreaktoren

Kernschmelzunfallabläufe bei Siedewasserreaktoren

Was sind die Folgen von Kernschmelzunfällen in der Umgebung eines Atomkraftwerks?

Wie wollen die Verantwortlichen für den Katastrophenschutz die von einem Unfall im Atomkraftwerk betroffenen Menschen schützen?

Zur Begrenztheit der Sichtweise der Rahmenempfehlungen für den Katastrophenschutz: Ausgabe von Jodtabletten und erwarteter Unfallablauf

Der heutige Stand der Kenntnisse über die Unfallfolgen bei Kernschmelzunfällen und die Wirksamkeit von Katastrophenschutzmaßnahmen

Katastrophenschutz und Berücksichtigung des Standes von Wissenschaft und Technik: Ein Briefwechsel

Atomkraftwerke in der Bundesrepublik: Unsicher und grundrechtswidrig


Die Veröffentlichung der Phase B der Deutschen Risikostudie Kernkraftwerke

Auf die Veröffentlichung des Abschlußberichts der Deutschen Risikostudie Phase B mußte die interessierte Öffentlichkeit lange warten. In sie sollten die neueren Erkenntnisse der Reaktorsicherheitsforschung und der Erfahrungen mit dem Betrieb der vorhandenen Atomkraftwerke einfließen. Seit der Katastrophe von Tschernobyl war der Endbericht schon mehrfach angekündigt worden. Immer wieder waren Zwischenergebnisse bekanntgegeben worden, die die Aussage enthielten, in der DRS-A sei das Risiko durch Kernschmelzunfälle bei weitem überschätzt worden.

Am 30. Juni 1989 stellten der Bundesforschungsminister und die Gesellschaft für Reaktorsicherheit GRS in Mannheim die Endergebnisse der Phase B der DRS der bundesdeutschen Öffentlichkeit vor.

Man versuchte, die Aufmerksamkeit darauf zu lenken, daß nach den neueren Berechnungen die Gesamthäufigkeit aller Kernschmelzunfälle nur bei 4 mal in 1 000 000 Reaktorbetriebsjahren läge gegenüber 1 mal in 10 000 Reaktorbetriebsjahren, wie dies die DRS-A erbracht hatte.

Betrachtete man aber die Ergebnisse der DRS-B in Hinsicht auf das errechnete Risiko, also das Verhältnis von Eintrittshäufigkeit zu Schadensausmaß, dann erwiesen sich die Versprechungen, die Sicherheit der deutschen Atomkraftwerke sei weit besser, als sie in der DRS-A dargestellt worden war, als nicht haltbar.

Wir haben in der Tabelle 1 einige Zahlen dazu zusammengestellt. Ein Hinweis ist hier erforderlich. Alle die verwendeten Zahlenwerte können nur recht ungenau ermittelt werden. Die Rechenergebnisse können daher nur ungefähre Größenverhältnisse wiedergeben.

Die erste Spalte enthält Angaben aus der DRS-A: oben Eintrittshäufigkeiten von Kernschmelzunfällen insgesamt, dann Häufigkeiten von Kernschmelzunfällen mit schwerwiegenden Folgen, die nur 2% aller Fälle ausmachten, danach die damals errechneten Freisetzungsanteile einiger wichtiger Radionuklide aus dem Reaktorkern, schließlich die Zahl der späten Todesfälle, die sich als Folge daraus ergaben. Diesen Zahlen haben wir das relative Risiko 1 zugewiesen.

In der zweiten Spalte stehen entsprechende Angaben, die man auf die Aussagen des offiziellen Endberichts der DRS-B beziehen muß. Man sieht, daß zwar die Gesamthäufigkeit der Kernschmelzunfälle mit einem Wert angegeben ist, der nur bei 4 % der Gesamthäufigkeit der DRS-A liegt. Die Gesamthäufigkeit der Fälle deckt sich aber fast zu 100% mit der Häufigkeit von Unfällen mit schwerwiegenden Folgen; damit ist sie doppelt so groß wie in der DRS-A. Auch die Freisetzungsanteile der radioaktiven Stoffe müssen weit größer angesetzt werden. Außerdem müssen nach der Neubewertung der Daten aus den Atombombenabwürfen von Hiroshima und Nagasaki die Folgen von Bestrahlung höher bewertet werden. Zusammengenommen ergeben sich daraus Schadensfolgen, die zehnmal größer als sind in der DRS-A. Nach den Angaben in der zweiten Spalte ist aus den Ergebnissen der DRS-B ein zwanzigmal höheres relatives Risiko gegenüber der DRS-A zu errechnen.

Wir haben noch eine weitere Spalte hinzugefügt.

Einige Mitarbeiter des Öko-Instituts, die im Oktober 1989 eine im Auftrag des schleswig-holsteinischen Ministerium für Soziales, Gesundheit und Energie erarbeitete Bewertung der DRS-B leiferten, hatten sich nicht nur an die offiziell mitgeteilten Angaben gehalten, sondern sich die in der Studie selbst enthaltenen Ergebnisse angesehen. Dabei entdeckten sie eine Merkwürdigkeit. Ihnen fiel auf, daß bei der Darstellung der Kernschmelzunfälle im Endbericht sogenannte "Accident-Management-Maßnahmen" (kurz "AM-Maßnahmen") berücksichtigt waren, das heißt: Maßnahmen, mit denen die Bedienungsmannschaft unter Ausschaltung der automatischen Sicherheitseinrichtungen in das Unfallgeschehen eingreifen könnte, um zu verhindern, daß es zu schwerwiegenden Kernschmelzunfällen kommt. Diesen "AM-Maßnahmen" war gegen alle Erfahrung mit menschlichem Verhalten eine hundertprozentige Erfolgswahrscheinlichkeit zugewiesen. Diese Vorgehensweise ist international bei Risikoanalysen nicht üblich. In früher erarbeiteten Teilen der DRS-B, die ebenfalls veröffentlicht worden waren, waren bei der Errechnung der Eintrittshäufigkeit von Kernschmelzunfällen diese Maßnahmen nicht berücksichtigt. Daraus ergab sich ein ganz anderes Bild vom zu errechnenden Risiko. Die Häufigkeit der Kernschmelzunfälle insgesamt ist um eine Größenordnung höher. Gegenüber der in DRS-A genannten macht sie noch 30% aus. Da dies fast alles schwerwiegende Kernschmelzunfälle sind und die größeren Schadensfolgen beachtet werden müssen, ergibt sich ein relatives Risiko, das 150mal höher ist gegenüber dem der DRS-A.

Man muß sich nur einmal klarmachen, was eine Kernschmelzhäufigkeit von 3 mal in 100 000 Reaktorbetriebsjahren (oder 1 mal in 33 000/Ra) bedeutet. Als die DRS-B veröffentlicht wurde, waren in der Bundesrepublik 20 Atomkraftwerke in Betrieb. Nahm man an, daß sich in einem dieser Atomkraftwerke in den nächsten 20 Jahren ein Kernschmelzunfall ereignen könnte, dann war die rechnerische Chance des Eintretens ca. 1%. Wäre das erwartete Ereignis erwünscht, dann wäre die Chance um vieles höher als bei Lotto oder Toto. Bei der Schwere der Folgen, die bei Kernschmelzunfällen zu erwarten sind, ist diese Eintrittswahrscheinlichkeit unakzeptabel hoch.

Von nun an hätte es sich verbieten müssen, die Behauptung vom hohen, weltweit vorbildlichen Sicherheitsstandard der deutschen Atomkraftwerke aufrechtzuerhalten oder die Formel von den Kernschmelzunfällen als "hypothetischen Störfällen" weiterzuverwenden. Aufsichtsbehörden, die ihre Verpflichtung zum Schutz der Grundrechte ernstnahmen, hätten nun eine ernstzunehmende Begründung gehabt, die Stillegung der Atomkraftwerke zu verlangen, die ihrer Aufsicht unterstanden. Bekanntlich geschah nichts dergleichen.

Aber auch die interessierte Öffentlichkeit nahm dieses Ergebnis der Deutschen Risikostudie Kernkraftwerke kaum wahr. Es fehlte an politischem Druck, der von außen an die Atomkraftwerksbetreiber und die Aufsichtsbehörden hätte herangetragen werden können.

Erklärlich ist das nur, wenn man den Blick auf das Geschehen richtet, das spätestens seit dem Sommer 1989 alle Aufmerksamkeit auf sich zog.

DRS-A

DRS-B
(mit AM- Maßnahmen)

DRS-B
(ohne AM- Maßnahmen)

Häufigkeit aller Kernschmelzunfälle

10-4 /Ra

4 x 10-6 /Ra

3 x 10-5 /Ra

Häufigkeit schwerster Kernschmelzunfall

2 x 10-6 /Ra

(2%)

4 x 10-6 /Ra

(100 %)

3 x 10-5 /Ra

(100 %)

Freisetzungsanteile

Jod

Cäsium

Tellur

Strontium

Aktiniden

79 %

50 %

35 %

7 %

0,3 %

50 - 90 %

50 - 90 %

50 - 90 %

40 %

3 %

50 - 90 %

50 - 90 %

50 - 90 %

40 %

3 %

Zahl der späten Todesfälle

mittel

maximal


50 000

100 000


(500 000)

(1 000 000)


(500 000)

(1 000 000)

Risiko (relativ)
Häufigkeit x Schadensausmaß

1

20

150

Tabelle 1. Vergleich der Ergebnisse der DRS-A und der DRS-B

In der DDR wagten immer mehr Menschen zu zeigen, daß sie das Verhalten der Staatsregierung und ihre Lebensbedingungen nicht mehr erträglich fanden. Hunderttausende erzwangen sich über die Botschaften der Bundesrepublik in Prag, Warschau und Budapest die Ausreise in die Bundesrepublik. Seit dem September wurden die Montagsdemonstrationen in Leipzig eine Ermutigung für eine stetig wachsende Zahl von Teilnehmern, ihren Willen zu grundlegenden Veränderungen der DDR-Gesellschaft öffentlich zu äußern. Als ein erster Moment höchster Anspannung war der 7. Oktober, der 40. Jahrestag der DDR, erwartet worden, an dem sich in der Leipziger Innenstadt die ganze Gewalt des Staates gegen wehrlose Demonstranten wie zufällige Passanten entlud: ein Bürgerkriegsszenarium als Festzugabe. In anderen Städten, die nicht wie die Messestadt Leipzig im internationalen Blickfeld standen, kam es zu noch brutaleren Auseinandersetzungen. Als es der Bevölkerung von Leipzig zwei Tage später bei der Montagsdemonstration gelang, sich in großen Massen in der Innenstadt zu versammeln und trotz der bedrohlichen Situation nicht vor den auf einen militärischen Einsatz vorbereiteten Polizeikräften zu weichen, mußte die Staatsregierung erste Zugeständnisse machen. Dieser Tag war der Beginn der Herbstrevolution, mit der die Bevölkerung der DDR das Abtreten der alten Staatsmacht erzwang. Den Demonstrierenden selbst wurde die politische Wirksamkeit ihres eigenen Handelns bewußt. In den folgenden Wochen hielten sie nicht nur in Leipzig beharrlich an den Demonstrationen fest, um den sich andeutenden Prozeß der gesellschaftlichen Veränderung unumkehrbar zu machen. Sie setzten zuerst am 18. Oktober den Rücktritt des Staatsratsvorsitzenden Honecker und am 8. November den seines Nachfolgers Egon Krenz durch, daneben den vieler Inhaber politisch wichtiger Posten. Sowohl der Wunsch nach einer eigenständigen Entwicklung der DDR wie der nach Vereinigung beider deutscher Staaten wurde geäußert. Heute steht der Jubel im Vordergrund, in den Hunderttausende am 9. November nach der überraschenden Öffnung der Mauer in Berlin ausbrachen.

Die Gesellschaft der Bundesrepublik, in der kaum mehr jemand mit einer Wiedervereinigung rechnete, hatte sich in ihrem Teilstaat häuslich eingerichtet. Als in der Herbstrevolution eine Mehrheit der DDR-Bevölkerung den Wunsch nach nationaler Einheit aussprach, stand sie vor einer Herausforderung, auf die niemand vorbereitet war. In den folgenden Wochen und Monaten mußte sich nicht nur die Bundesregierung unter Helmut Kohl mit den unvermuteten Folgen dieser Entwicklung auseinandersetzen, sondern alle politisch Interessierten in der Bundesrepublik.

Die bundesrepublikanische Anti-AKW-Bewegung nahm auf einmal wahr, daß es auch in der DDR Atomanlagen gab. Aber sie lernte auch sehr bald die Bürgerinitiativen kennen, die sich schon Jahre zuvor an den meisten Standorten gegründet hatten, um sich gegen diese Anlagen zu wehren. Da die bundesdeutschen großen Stromunternehmen sofort ihre Absichten kundtaten, ihre bereits früher in die DDR aufgebauten Beziehungen zur Übernahme der DDR-Atomwirtschaft zu nutzen, setzte man dem die Bereitschaft entgegen, diese Initiativen zu unterstützen. Die Themen, mit denen man sich nun beschäftigen mußte, hießen: Atomkraftwerke sowjetischer Bauart in Rheinsberg, Greifswald und Stendal, sowohl in Betrieb wie im Bau, das Atommüll-Endlager Morsleben in einem ungeeigneten Kalibergwerk und das Uranabbaugebiet der Wismut AG im Thüringer Wald.

Notwendig war nun gemeinsames Handeln, um die Stillegung der bereits betriebenen und den Weiterbau der begonnenen DDR-Atomkraftwerke, eine akzeptable Sanierung der Wismut-Hinterlassenschaften und die Beendigung der Endlagerung in Morsleben durchzusetzen. Es gelang, in den heutigen östlichen Bundesländern die Stillegung der Atomkraftwerke zu erreichen. Bei der Sanierung in den Uranabbaugebieten konnte eine Billigstversion verhindert werden. Aber das Endlager Morsleben erschien nach anfänglichem Zögern des damaligen Bundesumweltministers Töpfer der Atomindustrie zur Lösung ihrer Entsorgungsprobleme so willkommen, daß es nun sogar länger betrieben wird, als es ursprünglich im Vereinigungsvertrag bestimmt wurde. Eine neue große Sorge ist hinzugekommen: Das Zwischenlager in Greifswald, das weit größer ist, als zur Aufnahme der Stillegungsabfälle aus Rheinsberg und Greifswald selbst erforderlich wäre, mit dem Platz geschaffen worden ist zur langfristigen Lagerung von abgebrannten Brennelementen aus den bundesrepublikanischen Atomkraftwerken.

Dahinter trat die noch kaum erkannte Möglichkeit, sich die Ergebnisse der DRS-B anzueignen und zur Argumentation gegen die Atomkraftwerke in der Bundesrepublik zu nutzen, zunächst in den Hintergrund.

Die Atomkraftwerksbetreiber werden es sehr zufrieden gewesen sein, daß sie nicht öffentlich mit diesen Ergebnissen konfrontiert wurden, die ja aus den Erfahrungen mit den deutschen Atomkraftwerken abgeleitet waren.

Die politische Wirkung der DRS-B: Änderung des Atomgesetzes 1994

Aber im Bundesumweltministerium kam man nicht umhin, sich mit den Konsequenzen aus der DRS-B zu befassen. Gegenüber den zu erwartenden schwerwiegenden Folgen traten die Eintrittshäufigkeiten nun in den Hintergrund. Selbst mit den von der GRS vertretenen Zahlen ließen sich kaum die früheren Äußerungen aufrechterhalten, das Kernschmelzrisiko könne der Bevölkerung als "Restrisiko" zugemutet werden.

In der Bewertung der DRS-B für das schleswig-holsteinische Energieministerium war auch ausgesprochen worden, daß die GRS ihren Auftrag nur unvollständig erfüllt hatte. In der DRS-A waren 1979 für die dargestellten Kernschmelzunfallabläufe auch Rechnungen zur Ausbreitung der radioaktiven Stoffe nach einem Unfall und Zahlenangaben zu den Unfallfolgen gemacht worden. Diese fehlten in der DRS-B weitgehend. Das war eine schwerwiegende Lücke in der Aussagefähigkeit der DRS-B. Eine Folge davon war, daß die Schwere der Folgen von Kernschmelzen für die Umgebung aus dem Blickfeld geschoben war. Man mußte die Ergebnisse anderer Studien verwenden, um sich ein Bild davon zu machen. Auch die Zahlen in unserer Tabelle 1 sind auf diese Weise zustandegekommen, weshalb wir sie auch in Klammern gesetzt haben. In der Folgezeit wurden im Öko-Institut und im KfK einige Studien erarbeitet, deren Ergebnisse zeigten, daß die Auswirkungen von Kernschmelzunfällen, wie sie in der DRS-B beschrieben sind, eine Reichweite von mehreren hundert Kilometern haben können.

Es ließ sich nicht mehr umgehen, die Forderung aus der Kalkar-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ernstzunehmen: "Hat der Gesetzgeber eine Entscheidung getroffen, deren Grundlage durch neue, im Zeitpunkt des Gesetzeserlasses noch nicht abzusehende Entwicklungen entscheidend in Frage gestellt wird, dann kann er von Verfassungswegen gehalten sein zu überprüfen, ob die ursprüngliche Entscheidung auch unter den veränderten Umständen aufrechtzuerhalten ist."

Und wirklich kam es zu einer Änderung des Atomgesetzes, die der Bundestag am 29. April 1994 beschloß und der der Bundesrat am 20. Mai 1994 zustimmte.

Im Atomgesetz sind im § 7 die Genehmigungsvoraussetzungen für Atomkraftwerke geregelt. Die wichtigste der dort aufgeführten Forderungen ist, daß gegen Schäden durch den Betrieb der Anlage Vorsorge zu treffen ist gemäß dem Stand von Wissenschaft und Technik. In diesen Paragraphen wurde ein Absatz 2a eingefügt, mit dem anerkannt wurde, daß es in den deutschen Atomkraftwerken zur Kernschmelze mit schwerwiegenden Folgen kommen kann. In keinem anderen Land findet man das in der Atomgesetzgebung. Es war ein Teil der deutschen Anti-Atom-Bewegung, der das durchgesetzt hat.

Im neuen § 7 Absatz 2a AtG ist die Anerkennung der schwerwiegenden Folgen von Kernschmelzunfällen in den deutschen Atomkraftwerken in folgender Weise formuliert: Eine Genehmigung für neue Atomkraftwerke darf nur erteilt werden, "wenn auf Grund der Beschaffenheit der Anlage auch Ereignisse, deren Eintritt durch die zu treffende Vorsorge praktisch ausgeschlossen ist, einschneidende Maßnahmen zum Schutz vor der schädlichen Wirkung ionisierender Strahlen außerhalb des abgeschlossenen Geländes der Anlage nicht erforderlich machen würden". Man kann nicht behaupten, daß das allgemeinverständlich ist, wir wollen darum in den nächsten Kapiteln darstellen, was damit gemeint ist.

Was bedeutet: "Keine einschneidenden Maßnahmen außerhalb der Anlage erforderlich"?

Der in der Diskussion um die Sicherheit von Atomkraftwerken verwendete Begriff "einschneidenden Maßnahmen außerhalb der Anlage" stammt aus der Fachsprache der für den Katastrophenschutz Verantwortlichen. Man versteht darunter "Katastrophenschutzmaßnahmen".

Das heißt: Nach dem neuen § 7 Abs. 2a AtG darf aus einem Druckwasserreaktor zukünftiger Bauart auch bei Kernschmelzunfällen nur so wenig Radioaktivität nach außen treten, daß außerhalb der Anlage Katastrophenschutzmaßnahmen nicht erforderlich sind.

Es gibt sehr verschiedene Arten von Katastrophenschutzmaßnahmen. Das fängt an mit der Aufforderung, die Fenster zu schließen und das Haus nicht zu verlassen, geht weiter über Verzehrverbote bis hin zu Evakuierung und Umsiedlung der Bevölkerung. Man kann natürlich darüber streiten, ob eine Aufforderung, im Haus zu bleiben oder ein Verzehrverbot von der betroffenen Bevölkerung nicht auch schon als einschneidende Eingriffe in ihre Lebensumstände erlebt werden. Wir wollen uns hier auf das beschränken, was in der Fachwelt diskutiert wird. Da wird im allgemeinen als einschneidende Maßnahme außerhalb der Anlage die Evakuierung angesehen.

In den Rahmenempfehlungen für den Katastrophenschutz in der Umgebung kerntechnischer Anlagen, die der Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit am 13. Januar 1989 bekanntgegeben hat, sind Regelungen festgelegt, bei welchen Bedingungen bestimmte Maßnahmen zu ergreifen sind, z.B. in Form von Dosisrichtwerten. In der Tabelle 2 sind Dosisrichtwerte zusammengestellt, die in den Rahmenempfehlungen für den Katastrophenschutz genannt werden. Es sind die Dosisrichtwerte für vier verschiedene Maßnahmen gezeigt. Es gibt jeweils einen unteren und einen oberen Richtwert. Wenn der untere Richtwert überschritten wird, dann sollen die Behörden die entsprechende Maßnahme ergreifen. Wird der obere Richtwert überschritten, dann müssen die Maßnahme durchgeführt werden. In dem Bereich zwischen beiden Werten haben die Behörden einen gewissen Entscheidungsspielraum.

In der Tabelle ist als unterer Richtwert für die Evakuierung der Bevölkerung eine Dosis von 100 mSv (nach alten Einheiten 10 rem) angegeben. Das entspricht einer Freisetzung der leicht flüchtigen Stoffe Cäsium, Jod und Tellur von 0,01% (in Worten: ein hundertstel Prozent) des gesamten Inventars im Reaktorkern.

Unter der Bedingung, daß bei einem Kernschmelzunfall Katastrophenschutzmaßnahmen entbehrlich sein sollen, bedeutet dies, daß bei einem neuen Atomreaktor es selbst dann, wenn es zu einem Kernschmelzunfall kommt, bei keinem Unfallverlauf zu einer Freisetzung von einem hundertstel Prozent an Cäsium, Jod und Tellur kommen darf, damit außerhalb der Anlage der Richtwert von 100 mSv nicht überschritten wird. Dies illustriert, daß sich erhebliche Konsequenzen für Druckwasserreaktoren daraus ergeben, wenn man die Anforderung aus § 7 Abs. 2a AtG "Keine Katastrophenschutzmaßnahme außerhalb der Anlage erforderlich" ernstnimmt.

Anforderungen dieser Art kann man aber nicht richtig interpretieren, wenn man nicht weiß, wie sich ein Kernschmelzunfall in einem heute betriebenen Atomkraftwerk auswirken würde. In den folgenden Kapiteln befassen wir uns deshalb zuerst mit den Folgen von Kernschmelzunfällen. Als nächstes stellen wir Aufbau und Funktionen der heutigen Druckwasserreaktoren und Ursachen für Kernschmelzunfälle und ihren Ablauf dar. Es folgen die bei Kernschmelzunfällen auftretenden technischen und physikalischen Phänomene, die man als die Schlüsselprobleme der derzeitigen Reaktoren bezeichnen muß, weil es keine technischen Schutzmöglichkeiten gegen sie gibt.

Maßnahme Bezugsdosis Unterer Richtwert [mSv] oberer Richtwert [mSv]
Verbleiben im Haus (sheltering) Effektivdosis durch Inhalation und akute externe Bestrahlung 5 50
Lunge und jedes bevorzugt bestrahlte Einzelorgan (Inhalation, akute externe Bestrahlung) 50 250
Evakuierung Effektivdosis durch Inhalation und akute externe Bestrahlung 100 500
Lunge und jedes bevorzugt bestrahlte Einzelorgan (Inhalation, akute externe Bestrahlung) 300 1500
Umsiedlung Effektivdosis durch externe Belastung und Inhalation infolge Resuspension im 1. Jahr nach der Freisetzung 50 250
Nahrungsmittel-
verbote
effektive Folgeäquivalentdosis durch Ingestion über 1 Jahr 5 50

Tabelle 2. Dosisrichtwerte und Katastrophenschutzmaßnahmen nach Unfällen in Atomkraftwerken

Viele der Aussagen und Abbildungen, auf die wir uns im Folgenden beziehen, stammen aus Aufsätzen für das KfK. Das überrascht vielleicht. Aber dort ist seit einigen Jahren eine Tendenz zu der Einsicht zu beobachten, daß man mit einseitiger Forschung nicht mehr weiter kommt. Das frühere Übergewicht der Aussagen aus dem Projekt Nukleare Sicherheit, mit denen den Atomkraftwerken in der Bundesrepublik eine besonders große Sicherheit zugeschrieben wurde, hat sich nach der Katastrophe von Tschernobyl verschoben. Eine Gruppe im KfK hat seitdem auch begonnen, Anlagen zumindest auf dem Papier zu konzipieren, die wirklich bei einem Kernschmelzunfall so reagieren könnten, daß keine Radioaktivität nach außen kommt. Gerade für diese gehörte die Auseinandersetzung mit den möglichen Unfällen zu den Voraussetzungen für ihre Arbeit.

Abbildung 7. Die Folgen der Katastrophe von Tschernobyl

Kernschmelzunfallfolgen in heute betriebenen Atomkraftwerken und Beziehungen zur Katastrophenschutzplanung

Was wären die Folgen, wenn es in einer derzeitigen Anlage zu einem Kernschmelzunfall kommt?

In der Vergangenheit ist dies kontrovers diskutiert worden, heute ist es jedoch nicht mehr strittig, daß die Folge eines Kernschmelzunfalls in einer derzeit betriebenen Reaktoranlage eine Katastrophe unvorstellbaren Ausmaßes wäre.

Die Abbildung 7 zeigt die Folgen des Unfalls von Tschernobyl. Dabei ist ein großer Teil des radioaktiven Inventars freigesetzt worden. Die verstrahlten Gebiete, aus denen die Bevölkerung den Vorschriften nach hätte evakuiert werden müssen - was nicht geschehen ist - reichen weit über eine 30 km-Zone bis in 200 km, ja 250 km Entfernung.

Das Atomkraftwerk in Tschernobyl, in dem das Unglück geschehen ist, hatte allerdings eine ganz andere Bauweise als die Reaktoren, die in der Bundesrepublik betrieben werden. Es ist daher nicht völlig falsch, wenn Vertreter der Atomwirtschaft noch heute wiederholen, ein solches Unglück könne es in den deutschen Atomkraftwerken nicht geben.

Kr,Xe

J

Cs

Te

Sr

Ce

Ba

Großflächiges Versagen des Sicherheitsbehälters

(Wasserstoff-Verbrennung, Dampfexplosion, Hochdruck-Pfad)

100% 50%-
90%
50%-
90%
50%-
90%
42% 4% 24%
Primärkreisleck im Ringraum

(Bypass-Unfall)

100% 37% 37% 23% 17% 1% 11%
Heizrohrleck im Dampferzeuger 17% 15% 15% 5% 7x10-3% - 0,1%
Kleines Leck im Sicherheitsbehälter (Niederdruckpfad) 100% 0,8% 4x10-2% 0,2% 2x10-2% 1x10-3% 1x10-2%
Gefilterte Druckentlastung 90% 0,2% 3x10-5% 4x10-4% 2x10-5% 2x10-6% 2x10-5%

Tabelle 3. Radionuklidfreisetzungen bei verschiedenen Unfallabläufen, bezogen auf das Kerninventar, nach Angaben der DRS-B

Nun zeigen aber die DRS-B und andere Untersuchungen der Reaktorsicherheitsforschung, daß auch bei einem Unfall in einem deutschen Druckwasserreaktor sehr viel an radioaktiven Stoffen freigesetzt wird. Aus dem Kernforschungszentrum Karlsruhe stammt Tabelle 3 mit einer Zusammenstellung von Daten aus der DRS-B zu Unfallabläufen und Freisetzungen radioaktiver Stoffe. Die Freisetzungsmengen sind in Prozent der Mengen der jeweiligen Stoffe im Reaktorkern angegeben. Uns interessieren in erster Linie die Unfallarten, die oben in der Tabelle aufgeführt sind. Es sind die schwerwiegendsten Unfallarten und zugleich die Unfallabläufe, die am häufigsten zu erwarten sind.

Abbildung 8. Evakuierungszonen bei einem Kernschmelzunfall im Atomkraftwerk Grafenrheinfeld bei Südwestwind, ohne Regen

Bekanntlich muß es am Standort eines Atomkraftwerks eine Katastrophenschutzplanung geben. Dabei ist vorgesehen, bis zu einem Abstand von 10 km, bestenfalls 25 km von der Anlage in Windrichtung entfernt die Bevölkerung zu evakuieren. Außerhalb der 25 km-Zone sind keine besonderen Katastrophenschutzmaßnahmen für Atomkraftwerksunfälle geplant.

Im Öko-Institut wurden für die Stadt Schweinfurt Rechnungen durchgeführt, wie weit man nach einem Kernschmelzunfall mit Versagen des Sicherheitsbehälters im Atomkraftwerk Grafenrheinfeld die Bevölkerung evakuieren müßte, wenn man die Eingreifwerte der Katastrophenschutzplanung berücksichtigt.

Auf Abbildung 8 umgrenzt die äußere gestrichelte Linie die Fläche, die nach dem unteren Eingreifwert der Rahmenempfehlungen zu evakuieren wäre. Die innere kleinere Fläche wäre zu evakuieren, wenn man den oberen Grenzwert zugrundelegen würde. Diese Evakuierungszonen gelten für den Fall, daß Südwestwind weht, was für Grafenrheinfeld die herrschende Windrichtung ist, und daß es nicht regnet. Es sollte eine Fläche bis ca 200 km von der Anlage entfernt evakuiert werden. Die 10 bis 25 km der Katastrophenschutzplanung reichen bei weitem nicht aus.

Bei Regen würde es schlimmer. Das ist in Abbildung 9 dargestellt. Dann ist die Fläche, in der nach den Eingreifwerten der Katastrophenschutzplanung evakuiert werden muß, gut 100 km lang, und die Fläche, die evakuiert werden sollte, reicht fast bis nach Leipzig.

Abbildung 9. Evakuierungszonen bei einem Kernschmelzunfall im Atomkraftwerk Grafenrheinfeld bei Südwestwind, mit Regen

Im Öko-Institut ist zusammengestellt worden, wie große Flächen nach den Rahmenrichtlinien für den Katastrophenschutz betroffen wären je nach den Freisetzungsmengen für die leichtflüchtigen Stoffe Jod, Cäsium und Tellur, die in der DRS-B angegeben sind. Dies ist nachfolgend in Tabelle 4 dargestellt. Werden bei einem Unfall 50 bis 90% dieser Stoffe freigesetzt, dann ist die Fläche, die evakuiert werden müßte, 1000 bis 10 000 km2 groß. Es gibt auch Unfalltypen, bei denen 1% des Cäsium und Jod freigesetzt werden. Dann müßte, je nach Witterungsbedingungen, noch eine Fläche von 10 bis 100 km2 evakuiert werden. Das ungefähr ist die Fläche, die von den Katastrophenschutzplanungen erfaßt wird.

Die Reaktorsicherheitskommission RSK, das offizielle Beratergremium der Bundesregierung, formuliert diese Tatsache in verschiedenen Stellungnahmen so: "Bis zu einer Freisetzung von maximal 1% dieses Inventars sind die Katastrophenschutzpläne wirksam." Man weiß dort also sehr genau, daß bei höheren Freisetzungsanteilen die geplanten Katastrophenschutzmaßnahmen nicht ausreichen, um die Bevölkerung zu schützen.

Freisetzungsanteile für J, Cs, Te zu evakuierende Fläche
50 - 90 % (DRS-B) 1 000 - 10 000 km2
1 % 10 - 100 km2
0,1 % £ 10 km2
0,01 % keine Evakuierung erforderlich

Freisetzungsanteil für Edelgase zu evakuierende Fläche
100 % 10 - 100 km2
10 % £ 10 km2
1 % keine Evakuierung erforderlich

Tabelle 4. Flächen, die nach den Richtwerten der Rahmenrichtlinien für den Katastrophenschutz nach einem Kernschmelzunfall in einem heute betriebenen Druckwasserreaktor von Evakuierung betroffen wären

Freisetzungsanteil für Cäsium Fläche
50 - 90 % bis 100 000 km2
1 % 100 - 1 000 km2
0,1 % £ 100 km2
0,01 % £ 10 km2
0,001 % keine Umsiedlung erforderlich

Tabelle 5. Flächen, die nach den Richtwerten der Rahmenrichtlinien für den Katastrophenschutz nach einem Kernschmelzunfall in einem heute betriebenen Druckwasserreaktor von Umsiedlung betroffen wären

Auch wenn nur 1 Promille dieses Inventars freigesetzt würde, wären noch kleine Flächen zu evakuieren. Entbehrlich im Sinne des § 7 Abs. 2a AtG wäre eine Evakuierung erst dann, wenn der Freisetzungsanteil für diese Stoffe 1/100% oder kleiner wäre.

Man könnte eigentlich erst sicher sein, daß nicht evakuiert werden muß, wenn 1% der Edelgase oder weniger freigesetzt würde. Es gibt heute keine Lösung dafür, wie man das bewerkstelligen könnte, denn die Rückhaltung von Edelgasen ist technisch kaum zu bewältigen.

Durch die Evakuierung soll verhindert werden, daß die Bevölkerung während des Durchziehens der radioaktiven Wolke durch Einatmen geschädigt wird. Diese Maßnahme müßte daher schnell erfolgen, vor dem Durchzug der radioaktiven Wolke.

Man muß aber auch eine weitere Katastrophenschutzmaßnahme beachten, die häufig unterschätzt oder gleich ganz vergessen wird. Das ist die Maßnahme Umsiedlung der Bevölkerung. Sie gehört nicht zu den Maßnahmen, die sofort nach Eintreten eines Kernschmelzunfalls durchgeführt werden müssen. Daher findet man die Dosisrichtwerte dafür in den Rahmenempfehlungen für den Katastrophenschutz an einer ganz anderen Stelle als die für Verbleiben im Haus oder Evakuierung. In Tabelle 2 stehen sie in der vorletzten Zeile.

Durch die Umsiedlung soll die Langzeitverseuchung der Bevölkerung durch das abgelagerte Material verhindert werden. Sie wird erforderlich, wenn die Fläche für einen längeren Zeitraum nicht bewohnbar ist. Sie hat nach dem Durchzug der radioaktiven Wolke zu erfolgen, wenn langfristig die entsprechenden Dosisgrenzwerte überschritten werden. Dabei müssen langsamer zerfallende radioaktive Stoffe berücksichtigt werden. Die Grenzwerte für die Umsiedlung beruhen deshalb auch auf einer anderen Berechnung als die für die Evakuierung.

Wie die vom Öko-Institut zusammengestellte Tabelle 5 zeigt, wäre Umsiedlung nicht erforderlich, wenn von dem dafür relevanten Inventar an Cäsium 1/1000 Prozent oder weniger freigesetzt wird.

Aufbau und Funktionsweise von Druckwasserreaktoren und Ursachen für Kernschmelzunfälle

Wie kann es in den heute betriebenen Druckwasserreaktoren zu Kernschmelzunfällen und zu diesen dramatischen Freisetzungen von radioaktiven Stoffen und ihren Folgen kommen?

In dem Funktionsschema für Druckwasserreaktoren in Abbildung 10 ist im Innern des großen kugelförmigen Sicherheitsbehälters in der Mitte der Reaktordruckbehälter zu sehen, in dem sich die uranhaltigen Brennelemente des Reaktorkerns befinden. Beim Betrieb des Atomkraftwerks wird in den Brennelementen durch eine Kettenreaktion bei der Spaltung der Uranatome Wärmeenergie frei. Zugleich entstehen bei der Uranspaltung weitere Stoffe als ebenfalls radioaktive Spaltproduktein großen Mengen neu.

Ein üblicher Reaktordruckbehälter hat einen Durchmesser von 5 m und ist etwa 10 m hoch. Die thermische Leistung liegt bei 3.760 MW (MW = Megawatt, in eine alltäglichere Maßeinheit übersetzt: 3760 Millionen Watt). Es wird also auf sehr kleinem Raum eine enorme Wärme produziert. Um diese abzuführen, sind schon im Normalbetrieb vier Reaktorkühlkreisläufe mit vier riesigen Pumpen notwendig.

Die Wärme muß aus dem Kühlwasser des Primärkreislaufs in den Sekundärkreislauf abgeleitet werden, indem in vier großen Wärmetauschern oder Dampferzeugern das Wasser des Sekundärkreislaufs so stark erhitzt wird, daß es in gasförmigen Zustand übergeht und als Dampf durch die Frischdampfleitungen zur Turbine geleitet werden kann.

Mit der Turbine wird ein Generator zur Stromproduktion angetrieben. Bei diesem Vorgang wird ungefähr ein Drittel der produzierten Wärme in elektrischen Strom umgewandelt. Die Kraft, mit der der Dampf die Turbine antreiben kann, hängt wesentlich vom Druckabfall hinter der Turbine ab. Deshalb befindet sich hinter der Turbine der Kondensator, in dem der Dampf nach dem Durchströmen der Turbine soweit wieder abgekühlt wird, daß er wieder zu Wasser kondensiert und zum Dampferzeuger zurückgeleitet werden kann. Dabei wird der größere Rest der produzierten Wärme dem Sekundärkreis entzogen und durch weitere Kühlsysteme entweder über Kühltürme in die Atmosphäre oder in den Fluß abgeleitet. Auch das ist in dem Funktionsschema in Abbildung 10 dargestellt.

Abbildung 10. Kühlkreisläufe eines Druckwasserreaktors

Für den Betrieb der Anlage sind Sicherheitssysteme notwendig. Druckschwankungen im Primärkreislauf während des Betriebs müssen über einen Druckhalter ausgeglichen werden. Der Betriebsdruck im Primärkreis liegt bei etwa 160 bar. Steigt der Druck im Primärkreis über 175 bar, dann wird über Sicherheitsventile des Druckhalters Dampf in einen Abblasebehälter im Sicherheitsbehälter abgeblasen.

Im Sekundärkreislauf soll der Betriebsdruck bei knapp 70 bar liegen. Auch hier sind Sicherheitsventile angeordnet, über die Dampf in die Umgebung abgeblasen werden kann, falls der Druck im Sekundärkreislauf zu hoch wird.

Allerdings fehlen in Abbildung 10 der Druckhalter und die Sicherheitsventile.

Man findet sie auch nicht in der folgenden Abbildung 11 mit dem Schema der Sicherheitssysteme eines Druckwasserreaktors, die bei schweren Störfällen in Funktion treten sollen.

Abbildung 11. Schema der Sicherheitssysteme eines Druckwasserreaktors

Wenn es zu einer Störung in der Anlage kommt, durch die die Kühlung des Kerns beeinträchtigt wird, dann wird mit Hilfe von Steuerstäben, die von oben zwischen die Brennelemente eingeführt werden, die Kettenreaktion unterbrochen. Aber die radioaktiven Spaltprodukte, die sich in den Brennelementen befinden, zerfallen noch weiter; dabei entsteht auch weiterhin noch Wärme und zwar nicht gerade wenig. Diese Nachzerfallswärme muß nach dem Abschalten über Wochen und Monate über leistungsfähige Not- und Nachkühlsysteme aus dem Kern abgeführt werden.

Aus den Druckspeichern soll sofort schnell unter hohem Druck Kühlmittel in den Primärkreislauf eingespeist werden. Nach der Entleerung der Druckspeicher wird das Niederdruck- Notkühlsystem zum Nachspeisen des verlorenen Wassers aus den Notkühlwasserbehältern notwendig. Außerdem muß die längerfristige Nachwärmeabfuhr durch Langzeit-Notnachkühlung über Zwischenkühlsystem und Nebenkühlwassersystem sichergestellt werden. Das Notstromsystem ist erforderlich, um die Stromversorgung der notwendigen zahlreichen Pumpen sicherzustellen.

Abbildung 12. Zeitlicher Verlauf der Nachzerfallswärmeleistung eines 1300 MW-Druckwasserreaktors nach einer Reaktorschnellabschaltung.

In Abbildung 12 ist durch den Verlauf der Kurve veranschaulicht, daß die Nachwärmeproduktion direkt nach der Abschaltung des Reaktors noch ca 5% der thermischen Leistung des Reaktors beträgt. Das ist eine Leistung von knapp 200 MW. Für ein Heizkraftwerk wäre das schon eine sehr beachtliche Leistung. Eine Stunde nach der Abschaltung hat der Reaktor noch eine Leistung von ungefähr 1% der thermischen Leistung. Nach hundert Tagen ist sie auf etwa 1 Promille abgesunken.

Fällt die Kühlung des Reaktorkerns aus, beispielsweise weil die Notkühlsysteme versagen, die Pumpen ausfallen oder die Stromversorgung unterbrochen ist oder weil es zu Fehlsteuerungen kommt, dann kann die Nachzerfallswärme nicht aus dem Reaktor abgeführt werden. Der Kern heizt sich sehr schnell auf. Die Temperaturanstieg steigt mit 30 °C pro Minute. Die Betriebstemperatur liegt bei etwa 300 °C, man kann also leicht ausrechnen, daß die Schmelztemperatur der Brennelemente von etwa 2000 °C nach ungefähr einer Stunde erreicht ist, so daß das Schmelzen des Kerns beginnt. Das ist unvermeidbar. Zuerst schmelzen die Brennelementhüllrohre aus Zirkaloy und dann das Uran. Nach zwei bis drei Stunden sind die 100 Tonnen Strukturmaterialien und Brennstoff des Kerns vollständig geschmolzen. Und dann nimmt das Unglück seinen Lauf.

Wie man sieht, steht die Tatsache, daß es zum Kernschmelzen kommen kann, in direktem Zusammenhang mit der Notwendigkeit, die Kühlung des Kerns wegen der Nachwärmeproduktion auch nach der Schnellabschaltung aufrechtzuerhalten. Sie ergibt sich direkt aus der Konstruktion der Druckwasserreaktoren.

Ein Atomkraftwerk ist also ein hochkomplexes System von Rohrleitungssystemen und Behältern, die teils während des normalen Betriebs, teils nur in Notfallsituationen funktionieren müssen, von Pumpen, um das Kühlmittel in diesen Rohrleitungen zu transportieren, zahlreichen Ventilen, mit denen Durchströmen oder Absperrung von Wasser und Dampf geregelt werden, Elektromotoren, die Pumpen und Ventile antreiben, und den dazugehörigen Kabelsträngen. Zur Steuerung und Überwachung der Vielfalt von technischen Elementen und Vorgängen sind Meß- und Kontrolleinrichtungen notwendig. Ihre Signale werden über Meßleitungen in die Warte geleitet, die zum Schutz vor der starken Strahlung im Innern des Sicherheitsbehälters in einem besonderen Gebäude untergebracht ist. Zwischen den einzelnen Anlagenteilen bestehen vielfache Abhängigkeiten. Manche möglichen Funktionsstörungen und ihre Ursachen sind bekannt, andere können lange Zeit unentdeckt bleiben.

In der Abbildung 13 zeigen wir noch eine Darstellung von Siemens/KWU vom Aufbau eines Druckwasserreaktors heutiger Bauart. Die äußere dickste Barriere, die aufgeschnitten gezeigt ist, ist die Betonhülle, die Kuppel, die man weithin sieht. Sie ist allerdings keine Barriere gegen die Freisetzung von Radioaktivität in die Umgebung, sondern sie schützt die Anlage vor Einwirkungen von außen, vor allem vor Flugzeugabsturz. Darunter, ebenfalls aufgeschnitten, ist der Sicherheitsbehälter zu erkennen. Diese Stahlkugel von über 50 m Durchmesser umschließt alle radioaktivitätsführenden Teile der Anlage, insbesondere den Reaktordruckbehälter und alle sonstigen Bestandteile des Primärkreislaufs.

Ursprünglich galt als die wichtigste Funktion des Sicherheitsbehälters, bei einem Leck im Primärkreislauf den entweichenden Dampf aufzufangen, sodaß dieser zu Wasser kondensieren kann. Dies kann sich im Pumpensumpf der Anlage sammeln und steht als Kühlmittel für Notkühlmaßnahmen weiterhin zur Verfügung, statt in die Umgebung zu entweichen. Später erkannte man, daß der Sicherheitsbehälter bei einem Kernschmelzen als Barriere gegen das Austreten von radioaktiven Stoffen in die Umgebung betrachtet werden kann. Diese Funktion steht heute im Vordergrund des Interesses.

In Abbildung 14 ist dies noch einmal schematischer dargestellt. Die Radioaktivität ist im Normalbetrieb eingeschlossen im Reaktorkern, der die Brennelemente enthält und vom Primärkreiskühlmittel umströmt wird. Der Reaktordruckbehälter ist aufgehängt in einer Tragstruktur aus Beton; oben ist diese mit Betonplatten abgedeckt, die eine Strahlenabschirmung für das Personal bilden. Auch diese Bauteile sind keine Rückhaltebarriere für die radioaktiven Stoffe. Gelangen die radioaktiven Stoffe aus dem Kern heraus, dann ist es nur eine Frage der Zeit, wann die Barriere Reaktordruckbehälter zerstört wird, die radioaktiven Stoffe wie Cäsium, Jod und Tellur in den Sicherheitsbehälter gelangen und wann der Sicherheitsbehälter zerstört wird.

Ist die Radioaktivität aus dem Sicherheitsbehälter herausgekommen, dann ist sie auch in der Umgebung. Das heißt: Die äußerste Rückhaltebarriere für die radioaktiven Stoffe ist der Sicherheitsbehälter. Über den Sicherheitsbehälter gibt es deshalb zahlreiche Untersuchungen. Auch unsere Überlegungen, die sich jetzt anschließen, drehen sich um ihn.

Primärkreis Notkühlkreis
1 Reaktordruckbehälter
2 Dampferzeuger (4)
3 Hauptkühlmittelpumpe (4)
4 Druckspeicher (4 x 2)
5 Flutbecken (4)
6 Sicherheitseinspeisepumpen (4)
7 Nachwärmekühler (4)
8 Nachkühlpumpe (4)

Abbildung 13. Blick in den Sicherheitsbehälter eines Druckwasserreaktors heutiger Bauart

Abbildung 14. Der Sicherheitsbehälter im Mehrfach-Barrieren-System und die wesentlichen Strahlenabschirmungen in einem Druckwasserreaktor

Phänomene und Schlüsselprobleme im Zusammenhang mit Kernschmelzunfallabläufen in heute betriebenen Druckwasserreaktoren

In der DRS-B sind eine Reihe von Kernschmelzunfallabläufen beschrieben worden. Die Möglichkeit, daß sie geschehen können, ist damit als herrschende wissenschaftliche Meinung allgemein anerkannt. Zumindest von diesen Unfallabläufen kann daher nicht mehr behauptet werden, sie seien wissenschaftlich strittig oder "hypothetisch". In der politischen Auseinandersetzung um die Gefahren aus der Atomenergie kommt daher diesen Unfallabläufen eine wichtige Bedeutung zu. Auch Atomenergiebefürworter können nicht mehr die Augen davor verschließen, daß es in den deutschen Druckwasserreaktoren zu diesen Unfallabläufen kommen kann.

Die Auswahl der Unfallabläufe in der DRS-B ist aber nicht daran orientiert, wirklich alle Möglichkeiten für die Ursachen und Abläufe von Kernschmelzunfällen zu erfassen. Andere technisch oder physikalisch mögliche Unfallabläufe haben die Bearbeiter der DRS-B heruntergespielt oder von ihnen gar keine Notiz genommen. Würden diese Unfallabläufe und die mit ihnen verbundenen Phänomene berücksichtigt, hätte das zunächst einmal Einfluß auf die errechnete Eintrittshäufigkeit schwerwiegender Atomkraftwerksunfälle. Eine Gruppe von Wissenschaftlern am KfK und auch Hochschulprofessoren, die der Atomenergie nicht ablehnend gegenüberstehen, beharren darauf, daß man diese Phänomene nicht unbeachtet lassen darf. Es ist aus unsrer Sicht für die politische Diskussion sehr wichtig, daß nicht nur atomkritische Wissenschaftler nicht zu akzeptieren bereit sind, diese Unfallabläufe und ihre Folgen zu vernachlässigen. Bemühungen, die Wahrnehmung der Kernschmelzgefahren möglichst zu beschränken, werden besonders von der Reaktorsicherheitskommission RSK unterstützt. Ihnen steht also eine recht große Gruppe unabhängiger Wissenschaftler gegenüber, deren Aussagen nicht ernsthaft in Zweifel gezogen werden können.

Im Folgenden werden wir daher sowohl in der DRS-B beschriebene Unfallabläufe darstellen wie auch einige, die darüber hinaus beachtet werden müssen. Schon mit diesen kann die große Gefahr, die von den deutschen Atomkraftwerken ausgeht, gezeigt werden. Eine weitergehende Vollständigkeit hinsichtlich anderer realistisch möglicher Unfallabläufe beanspruchen wir nicht.

Ein großer Teil des Abbildungsmaterials, das wir zur Erläuterung benutzen, stammt aus der DRS-B und aus Veröffentlichungen des KfK. Manches davon ist als Propagandamittel zu betrachten, das Beschönigungen enthält. Wir haben auch Arbeitsergebnisse des Öko-Instituts verwendet, die ebenfalls auf der Grundlage offizieller Angaben erstellt wurden.

Im Verlauf von Kernschmelzunfällen können Phänomene auftreten, die dazu führen, daß der Sicherheitsbehälter zerstört wird, sodaß die radioaktiven Stoffe nicht zurückgehalten werden können. Diese wollen wir nun behandeln.

Bei Kernschmelzunfällen muß man unterscheiden nach Unfallabläufen, bei denen ein hoher Innendruck im Reaktordruckbehälter und dem Primärkreislauf erhalten bleibt, dem Hochdruck- oder HD- Kernschmelzen, und anderen Fällen, bei denen wegen des Ausströmens großer Mengen von Kühlwasser durch ein großes Leck der Innendruck im Primärkreislauf schnell bis auf etwa Atmosphärendruck abfällt, dem Niederdruck- oder ND-Kernschmelzen.

Ein weiterer Fall, der in der DRS-B eine gewisse Rolle spielt, ist das sogenannte ND*-Kernschmelzen mit abgesenktem Druck. Dieser kommt hier aber noch nicht in Betracht, weil er nur als Ergebnis der sogenannten "Accident-Management"-Maßnahmen oder "anlageninternen Notfallmaßnahmen" zu diskutieren ist, die in der DRS-B vorgeschlagen worden sind, um die Eintrittswahrscheinlichkeit von schwerwiegenden Kernschmelzunfällen ganz erheblich zu verringern. Wir werden uns weiter unten noch mit diesen Maßnahmen auseinandersetzen müssen.

Die Folgen nach einem Kernschmelzunfall kann man in drei Zeitphasen einteilen, denen die verschiedenen Phänomene zugeordnet werden können.

Für die dramatischsten Folgen von Kernschmelzunfällen sind Vorgänge verantwortlich, die sich in der Frühphase nach dem Beginn des Unfalls abspielen. In dieser Kurzzeitphase, während der wenigen Stunden des Kernschmelzens, kann es zu den Phänomenen Hochdruckkernschmelzen, Wasserstoffexplosion, Dampfexplosion oder dem Versagen des Sicherheitsbehälters aufgrund eines schon vorhandenen Lecks kommen.

Eine mittlere Phase umfaßt einige Tage nach Unfallbeginn. Wenn wider Erwarten zuerst alles gut gegangen ist und der Sicherheitsbehälter die ersten Stunden heil überstanden hat, dann wird diese Phase interessant. Es kommt zu einem langsamen Druckaufbau im Sicherheitsbehälter, der zur Zerstörung des Sicherheitsbehälters führen kann. Auch das Durchschmelzen des geschmolzenen Kerns durch das Fundament auf Grund von Beton-Schmelze-Wechselwirkung gehört in diese Phase.

Schließlich gibt es noch die Langzeitphase, die, wie schon der Unfall in Three Mile Island 2 gezeigt hat, Monate und Jahre nach dem Unfallbeginn dauert. Mit der geschmolzenen Masse des Kerns müßte irgendetwas passieren, z.B. müßte ihre Lage kontrolliert werden. Und vorweg müßte man versuchen, überhaupt in die Anlage hineinzukommen. Das war z.B. bei dem Unfall in Harrisburg ein sehr großes Problem. Fragt man einen Kernenergiefachmann, was für Maßnahmen für diesen Zeitraum vorgesehen sind, dann wird er zugeben müssen, daß man darüber nichts sagen kann und sich erst dann damit beschäftigen wird, wenn es zu einem Kernschmelzunfall gekommen ist.

Wichtig für unsere Betrachtungen sind in erster Linie die Probleme der Kurzzeitphase, weil diese dazu führen, daß das radioaktive Inventar bzw. ein großer Anteil davon bereits wenige Stunden nach Unfallbeginn nach außen gelangt. Auch die Phänomene der mittleren Zeitphase können noch zu schwerwiegenden Verseuchungen der Umgebung führen.

Kernschmelzphänomene in der Kurzzeitphase (Stunden nach Unfallbeginn)

Hochdruckkernschmelzen durch Ausfall der Notstromversorgung

Als erstes der Phänomene der Kurzzeitphase behandeln wir das Hochdruckkernschmelzen (auch HD-Kernschmelzen).

Solche Unfallabläufe sind zuerst in den USA 1985 und 1986 ins Blickfeld gekommen. Bis dahin hatte man schlicht vergessen, den hohen Druck im Primärkreislauf während des Betriebs zu beachten, der unter bestimmten Unfallbedingungen eine auschlaggebende Rolle spielt.

Ein Beispiel für einen Unfallablauf mit Hochdruckkernschmelzen ist der Ausfall der Notstromversorgung, der zum Stillstand aller Pumpen in der Anlage führt. Es kommt zur Schnellabschaltung. Aber die Nachzerfallswärme, die über den Dampferzeuger in den Sekundärkreislauf übertragen wird, kann nicht mehr abgeführt werden. Der Sekundärkreislauf wird aufgeheizt, der Druck darin steigt an. Nach dem Erreichen des Ansprechdrucks der Sicherheitsventile der Frischdampfleitungen dampft in weniger als einer Stunde der Sekundärkreislauf in die Atmosphäre aus. Nach dem Ausdampfen der Sekundärseite kann auf diesem Weg keine Energie mehr aus dem Primärkreis abgeführt werden. Deshalb steigen Temperatur und Druck im Primärkreis. Beim Erreichen des Ansprechdrucks öffnen die Sicherheitsventile des Primärkreislaufs, und Kühlmittel wird in das Containment abgeblasen, bis die Sicherheitsventile wieder schließen. Druckentlastung und Kühlmittelzufuhr durch Hochdruck-Einspeisung ist nicht möglich. Der Druck im Primärkreislauf bleibt hoch. Das Abblasen bei wiederholtem Druckanstieg bedeutet Kühlmittelverlust aus dem Primärkreis.

Die Temperatur in den Brennelementen steigt kontinuierlich an. Spätestens nach Frei-legung des Kerns beginnt das Kernschmelzen. Im Normalbetrieb hat der Primärkreis-lauf einen Druck von 160 bar, erst oberhalb dieses Drucks öffnen sich die Sicherheitsventile. So hoch bleibt dann auch der Druck während des Kernschmelzens.

Hochdruckkernschmelzen durch kleines Leck im Primärkreislauf und Ausfall der Notkühlsysteme

Zu einem vergleichbaren Ablauf wie beim Ausfall der Notstromversorgung kommt es beim Kühlmittelverlust aus einem kleinen Leck im Primärkreislauf. Durch das Ausdampfen über das kleine Leck in den Sicherheitsbehälter nimmt die Kühlmittelmenge im Primärkreis kontinuierlich ab. Wenn die Einspeisung von Kühlmittel über das Hochdruck-Notkühlsystem versagt, verringert sich die Möglichkeit des Wärmetransports zum Dampferzeuger und des Wärmeaustauschs in den Sekundärkreislauf immer mehr. Die Abfuhr der Nachzerfallswärme über den Sekundärkreislauf wird behindert. Wegen des anhaltenden Wärmeeintrags aus dem Kern bleibt der Druck im Primärkreis hoch. Der Kühlmittelverlust aus dem kleinen Leck setzt sich fort. Wenn die Brennelemente nicht mehr von Wasser bedeckt sind, beginnt die Kernaufheizung und bald darauf das Kernschmelzen.

Zu den Unfallabläufen mit kleinem Leck im Primärkreis gehören auch die, bei denen die Sicherheitsventile des Druckhalters fälschlich offen stehenbleiben, statt nach der beabsichtigten Druckabsenkung im Primärkreislauf wieder zu schließen. Das nicht gestoppte Abblasen bedeutet den Verlust von Kühlmittel aus dem Primärkreislauf.

Zerstörung des Sicherheitsbehälters durch Losreißen des Reaktordruckbehälters bei Hochdruckkernschmelzen

Das KfK hat beschrieben, was dann vor sich geht. Der Kern wird von innen aufgeheizt. Die Schmelze läuft seitlich an den Brennelementen herunter. Schließlich stürzt der Kern oder ein Teil davon als schmelzende Masse mit einer Temperatur von weit über 2000°C auf den Boden des Reaktordruckbehälters ab. In wenigen Minuten hat der Behälterboden die Schmelztemperatur des Stahls erreicht. In der Abbildung 15 aus dem KfK wird gezeigt, daß der Boden durch Abschmelzen ringsum abgetrennt wird. In diesem Moment wird eine enorme Energiemenge frei. Der Raum zwischen dem Reaktordruckbehälter und den umgebenden Betonstrukturen ist sehr eng. Es kommt zu einem Effekt wie beim Abschuß einer Rakete. Auf den Querschnitt des Reaktordruckbehälters mit einem Durchmesser von 5 m wirkt der Innendruck des Primärkreislaufs. Die Kurven in Abbildung 16 zeigen, daß in den ersten Sekunden eine Schubkraft zwischen 300 und 100 Mega-Newton auf den Reaktordruckbehälter einwirkt. Der Reaktordruckbehälter wird aus seiner Verankerung gerissen und raketenartig nach oben geschleudert, sodaß er den Sicherheitsbehälter zerstört. Auch schon losgerissene Bruchstücke des Reaktordruckbehälters können den Sicherheitsbehälter durchschlagen. Bei der Heftigkeit dieser Vorgänge werden nicht nur die Edelgase und die leicht flüchtigen Stoffe vollständig freigesetzt, sondern auch große Mengen der schwer flüchtigen Stoffe in die Umgebung mitgerissen.

Abbildung 15. Rundumabriß des Reaktordruckbehälterbodens bei Hochdruckkernschmelzen

Abbildung 16. Die Schubkräfte, die beim Hochdruckkernschmelzen auf den Reaktordruckbehälter wirken

Zerstörung des Sicherheitsbehälters durch Direct Containment Heating

Reißt beim HD-Kernschmelzen nicht ringsum der Boden des Reaktordruckbehälters ab, dann kann es zu einem Vorgang kommen, der Direct-Containment-Heating (DCH) genannt wird. Werden Kernschmelze und Dampf nur durch mehrere kleine Öffnungen aus dem Reaktordruckbehälter gepreßt, dann versprühen sie feinverteilt in den Sicherheitsbehälter. Dort geben sie in kürzester Frist eine große Menge an Energie frei, der Druck steigt schlagartig so weit an, daß der Sicherheitsbehälter aufreißt und große Mengen an radioaktiven Stoffen in die Umgebung austreten.

Die Mehrheit der deutschen Fachleute nimmt zwar an, diesen Ablauf bei deutschen Druckwasserreaktoren nicht berücksichtigen zu müssen, weil der Raum zwischen dem Reaktordruckbehälter und den umgebenden Betonstrukturen zu eng sei, als daß die versprühende Schmelze den freien Raum des Sicherheitsbehälters erreichen und dort ihre Energie freisetzen könnte. Der Reaktorexperte Professor Karwat von der Technischen Universität München hält jedoch dieses Ereignis auch in deutschen Reaktoren für möglich.

Es zeigt sich, daß beim Durchschmelzen des Reaktordruckbehälters bei hohem Primärkreisdruck praktisch gleichzeitig mit einem Versagen des Sicherheitsbehälters zu rechnen ist, unabhängig davon, auf welche Weise der Boden des Reaktordruckbehälters versagt.

Abbildung 17. Beispiel für die Verteilung von Wasserstoff im Sicherheitsbehälter bei einer Kernschmelze

Vom Unfallbeginn an, also dem Ausfall der Notstromversorgung oder dem Auftreten des kleinen Lecks, dauert es bis zum Durchschmelzen des Reaktordruckbehälters und der Zerstörung des Sicherheitsbehälters nur 2,5 bis 5 Stunden.

Beim Hochdruckkernschmelzen sind die erwarteten Anteile der Spaltprodukte, die aus dem Reaktorkern freigesetzt werden, extrem hoch. Das zeigt die Tabelle 3 mit Zahlenwerten aus der DRS-B. Nicht nur, daß die gesamte Menge der radioaktiven Edelgase Krypton und Xenon entweicht. Mindestens 50 Prozent des Inventars an leichtflüchtigen Nukliden Jod, Cäsium und Tellur, 40 Prozent des Strontium und ein beträchtlicher Anteil der schwerflüchtigen Stoffe Cer und Barium gelangen in die Umgebung. Dies ist noch mehr, als bei der Katastrophe von Tschernobyl aus dem zerstörten Reaktor über ausgedehnte Gebiete verteilt wurde.

Wasserstoffexplosion

Ein weiteres Phänomen der Kurzzeitphase ist die Wasserstoffexplosion. In der DRS-A war die Wasserstoffproblematik noch ohne weitere Begründung ausgeklammert worden. Mit dem Unfall in Three Mile Island 2 wurde in der Reaktorsicherheitsforschung schockartig bewußt, daß Wasserstoffexplosion den Sicherheitsbehälter gefährden kann.

Bei Temperaturen von 800° an, die beim Kernschmelzen sehr bald erreicht werden, kommt es zur chemischen Reaktion von Wasser oder Wasserdampf mit metallischen Teilen, insbesondere mit den Brennstabhüllrohren aus Zirkaloy. Dabei entstehen Metalloxid und Wasserstoff. Es dauert ungefähr eine Stunde, bis alles Zirkonium aus dem Zirkaloy umgesetzt ist. Der Wasserstoff strömt während des Kernschmelzens oder danach aus dem Primärkreislauf in den Sicherheitsbehälter, sei es, daß im Reaktordruckbehälter oder irgendwo im Rohrleitungssystem ein Leck auftritt oder im Primärkreis Ventile offenstehen. Wie in Abbildung 17 angedeutet ist, breitet sich der Wasserstoff im Innern des Sicherheitsbehälters ungleichmäßig aus. Wie das im Einzelfall geschieht, kann man nicht mit Hilfe von Simulationsrechnungen darstellen. Es werden 1000 bis 2000 kg Wasserstoff freigesetzt. Von einer bestimmten Konzentration an gibt es zündfähige Gemische mit der Luft im Innern des Sicherheitsbehälters, also Knallgas. Zündquellen gibt es in einem Reaktor immer. Das können Kabel sein oder Stellen, die durch die hohen Temperaturen während des Unfalls stark erhitzt worden sind. Beachtet werden muß auch, daß der Wasserstoff in die Nebenräume im Sicherheitsbehälter strömen kann. Eine Explosion in einem engen Raum hat eine wesentlich heftigere Zerstörungswirkung. Es ist daher sehr wahrscheinlich, daß es zu einer gewaltigen Explosion kommt, die den Sicherheitsbehälter zerstört. Das kann geschehen durch den Druckstoß der Explosion oder dadurch, daß Betontrümmer oder auch Stahltüren durch den Raum geschleudert werden und den relativ dünnen Sicherheitsbehälter durchschlagen. Die Wasserstoffexplosion ist deshalb eine gefürchtete Erscheinung.

Wegen der Heftigkeit dieser Vorgänge werden ähnlich hohe Freisetzungen an radioaktiven Stoffen aus dem zerstörten Reaktor erwartet wie beim Hochdruckkernschmelzen.

Dampfexplosion im Reaktordruckbehälter

Auch das Phänomen Schmelze-Kühlmittel- Wechselwirkung oder Dampfexplosion führt mit großer Wahrscheinlichkeit zur Zerstörung des Sicherheitsbehälters.

Die Dampfexplosion war in frühen amerikanischen Untersuchungen zur Reaktorsicherheit als die wichtigste Ursache für die Zerstörung des Sicherheitsbehälters angesehen worden.

In der DRS-B wurde die Möglichkeit der Zerstörung des Sicherheitsbehälters bei einer Dampfexplosion im Reaktordruckbehälter nicht berücksichtigt. Man muß daher zurückgreifen auf das, was das KfK dazu sagt. Von dort stammt auch die Abbildung 18. Zur Dampfexplosion kommt es, wenn der Behälter-Innendruck nicht höher ist als ca. 35 bar. Zu solchen Druckverhältnissen im Primärkreislauf kommt es bei einem Kühl-mittelverlust aus einer Hauptkühlmittelleitung, wenn die Größe des Lecks ausreicht, um den Primärkreisdruck deutlich absinken zu lassen. Weil sich der Primärkreislauf rasch entleert, kommt es frühzeitig zum Beginn des Kernschmelzens. Wir erinnern uns, daß die Schmelze auf den Boden des Reaktordruckbehälters abstürzt. Dort befindet sich immer auch noch Restwasser aus dem Primärkreislauf, das noch nicht verdampft ist. Im Reaktordruckbehälter wird durch die Dampfexplosion die Schmelze nach oben geschleudert, Teile des Reaktordruckbehälters, beispielsweise sein Deckel, werden herausgeschleudert und können den Sicherheitsbehälter durchschlagen.

Die Freisetzungsmengen entsprechen denen beim Hochdruckkernschmelzen oder bei Wasserstoffexplosion.

Abbildung 18. Explosionsenergie einer Dampfexplosion im Reaktordruckbehälter

Bypass-Unfall oder Austreten von Radioaktivität durch Versagen der Gebäudeabschlußklappen und Umgehung des Sicherheitsbehälters

Die Ursache für das Phänomen Umgehung des Sicherheitsbehälters oder Bypass-Unfall hat nichts Spektakuläres an sich. Der Sicherheitsbehälter eines Druckwasserreaktors wird von einer Vielzahl von Rohrleitungen wie Hilfssystemen für den Reaktor oder Lüftungsanlagen durchdrungen, die mit dem Primärkreis in Verbindung stehen. Wenn ein Kernschmelzunfall beginnt, müssen alle diese Durchgänge abgeschlossen werden.

Es geschieht relativ leicht, daß Absperrklappen des Gebäudeabschlusses nicht schließen. Man hat dann von vornherein eine Leckage im Sicherheitsbehälter, und der Sicherheitsbehälter kann die Funktion, die radioaktiven Stoffe einzuschließen, nicht mehr erfüllen. Man nennt dies auch Umgehung des Sicherheitsbehälters durch die radioaktiven Stoffe oder Bypass-Unfall. Je nach dem Durchmesser der Rohrleitung kann die Leckage ziemlich groß sein kann. Durch die Öffnung treten radioaktive Stoffe, die aus der Kernschmelze in den Sicherheitsbehälter gelangt sind, in die Umgebung aus.

Nach den Angaben der DRS-B in Tabelle 3 muß auch dann mit der vollständigen Freisetzung der Edelgase, einem Viertel bis über einem Drittel von Jod, Cäsium und Tellur, einem Sechstel des Strontium und deutlichen Anteilen von Cer und Barium gerechnet werden.

Dampferzeuger-Heizrohrbruch

Die im Reaktordruckbehälter produzierte Wärme soll über die Dampferzeuger möglichst weitgehend in den Sekundärkreislauf abgegeben werden. Deshalb bestehen die Wärmetauscher aus einer Vielzahl von Rohren mit verhältnismäßig dünnen Wandungen, die vom aufgeheizten Kühlwasser des Primärkreislaufs durchströmt werden. Sie sind umgeben vom Wasser des Sekundärkreislaufs, das durch die Aufnahme der durch die Rohrwandungen übergehenden Wärmeenergie in Frischdampf für die Turbine umgesetzt wird. Die Wandungen der Dampferzeuger-Heizrohre müssen sehr dünn sein. Sie gehören daher zu den Bauteilen eines Atomkraftwerks, die am stärksten durch Rißbildung gefährdet sind.

In den Arbeiten zur DRS-A hatte man auf die Untersuchung von Dampferzeuger-Heizrohrbrüchen verzichtet, weil zu wenig Detailkenntnisse über die zu berücksichtigenden Faktoren vorhanden waren. Erst 1987 wurden in Vorarbeiten zur DRS-B die Probleme erwähnt, die sich aus dem Zusammenspiel von Sicherheitssystemen und Ort des Lecks ergeben.

Nach dem Bruch eines oder einiger Dampferzeuger-Heizrohre steht ein Weg vom Primärkreis in den Sekundärkreis offen. Wegen des Druckgefälles zwischen Primärkreis und Sekundärkreis gerät Primärkreiskühlmittel in den Sekundärkreis. Der Sicherheitsbehälter wird umgangen wie bei einem Bypass-Unfall. Ist durch den Bruch nur eines Dampferzeuger-Heizrohrs ein kleines Leck entstanden, dann bleibt der Druck im Primärkreis hoch, und es kommt zum Kernschmelzen unter Hochdruck- Bedingungen. Sind mehrere Heizrohre gebrochen, dann kann es zu einer gewissen Druckabsenkung im Primärkreislauf kommen; aber dann entstehen Bedingungen, durch die Wasserstoffexplosion, Dampfexplosion oder Direct-Containment-Heating begünstigt werden.

Ein weiteres schwerwiegendes Problem bei Dampferzeuger-Heizrohrbruch entsteht dann, wenn die Hochdrucksicherheitseinspeisung anspringt, mit der der Kühlmittelverlust aus dem Primärkreislauf ergänzt werden soll. Aus dem defekten Dampferzeuger wird Kühlwasser in die Frischdampfleitungen gepreßt. Man spricht von Überspeisung des Dampferzeugers. Diese Leitungen und die ihnen zugeordneten Abblaseregel- und Sicherheitsventile, die nicht dafür konstruiert sind, Wasser-Dampf-Gemisch oder Wasser durchzuleiten, werden beschädigt, so daß sie ihre Schließfunktionen nicht mehr erfüllen können.

Bei einem Dampferzeuger-Heizrohrbruch werden von Beginn an zusammen mit dem Primärkreiskühlmittel radioaktive Stoffe aus dem Leck in den Sekundärkreis und über die Ventile in die Umgebung freigesetzt.

In der Tabelle 3 sind dem Heizrohrleck im Dampferzeuger relativ kleine Freisetzungswerte zugeordnet. Das hängt damit zusammen, daß in der DRS-B nur Angaben für einen Unfallverlauf gemacht wurden, bei dem es nach dem Bruch mehrerer Heizrohre zur Absenkung des Drucks im Primärkreis gekommen ist. Infolge davon wurde angenommen, daß ein großer Anteil der aus dem Kern freigesetzten radioaktiven Stoffe in der Anlage zurückgehalten wird. Trotz dieser abmildernden Bedingungen sind die Freisetzungen von Jod und Cäsium mit 15% der Gesamtmenge noch ziemlich hoch. Es muß noch mit schwerwiegenden Unfallfolgen gerechnet werden. Wären die erschwerenden Bedingungen eines einzelnen Rohrbruchs berücksichtigt worden, dann hätten die Schadensfolgen noch weit höhere Werte erreicht.

Kernschmelzphänomene in der mittleren Zeitphase (Tage nach Unfallbeginn)

Niederdruck-Kernschmelzen

Es kann auch Bedingungen geben, bei denen nicht schon nach den ersten Stunden eines Kernschmelzunfalls eins der eben beschriebenen Phänomene eingetreten ist, bei denen dennoch mit Beschädigungen des Sicherheitsbehälters zu rechnen ist. Das ist dann der Fall, wenn der Kern bei niedrigem Druck im Primärkreislauf schmilzt. Das geschieht, wenn im Primärkreis ein größeres Leck auftritt, beispielsweise durch den Abriß einer Rohrleitung mit großem Durchmesser. Wenn das Leck groß genug ist, fällt sofort der Druck im Primärkreis auf den Innendruck des Sicherheitsbehälters ab. Wegen des Verlusts von großen Mengen Kühlwasser über das Leck kommt es schon nach etwa 55 Minuten zum schnellen Verdampfen des Kühlwassers aus dem Reaktordruckbehälter. Die Brennelemente erhitzen sich sehr rasch. Um diesen Temperaturanstieg rechtzeitig abfangen zu können, soll unter Druck stehendes Notkühlwasser aus den Druckspeichern über Rückschlagklappen in den Primärkreis eingespeist werden, bis die anderen langsameren Pumpennotkühlsysteme wirksam werden. Aber mit dem ruckartigen Druckabfall läuft eine Druckentlastungswelle vom Leck ausgehend durch die Hauptkühlmittelleitung in den Reaktordruckbehälter. Dadurch können die Kernhalterungen verformt werden, die Stellung der Brennelemente zueinander gerät in Unordnung. Ist durch die Zerstörung der Kerneinbauten und das Ineinanderfallen der Brennelemente der Durchfluß von Kühlmittel durch den Kern zu stark behindert, geht die Aufheizung des Kerns weiter bis zum Kernschmelzen.

Zum Kernschmelzen kommt es auch dann, wenn zwar der Kern noch gekühlt werden könnte, aber die Not- und Nachkühlung versagt.

Wegen der Nachzerfallswärmebildung dampft zunächst das noch vorhandene Kühlmittel aus dem Reaktordruckbehälter aus. Wenn der Kern nicht mehr von Kühlwasser bedeckt ist, heizt er sich weiter auf, bis er Schmelztemperatur erreicht.

Wegen des geringen Drucks im Primärkreislauf muß es beim Durchschmelzen des Reaktordruckbehälters nicht zu heftigen Reaktionen kommen, die zur sofortigen Zerstörung des Sicherheitsbehälters führen. Trotzdem muß noch tagelang mit Beschädigungen des Sicherheitsbehälters gerechnet werden. Die dabei auftretenden Phänomene sind einer mittleren Zeitphase von einigen Tagen nach Unfallbeginn zuzuordnen.

Beton-Schmelze-Wechselwirkung und Erosion des Fundaments

Ist der Reaktordruckbehälter unter niedrigem Druck im Primärkreislauf und ohne Beschädigung des Sicherheitsbehälters durchgeschmolzen, stürzt die Schmelze auf den Betonboden des Reaktorgebäudes ab. Die heiße Schmelze löst eine chemische Reaktion aus, bei der Wasserdampf und Wasserstoff aus dem Beton freigesetzt werden. Der Beton zerfällt. In der Schmelze entsteht immer noch Nachzerfallswärme, durch die dieser Prozeß in Gang gehalten wird. Das bewirkt eine langsame Abtragung oder Erosion des Fundaments. Infolge dieser Beton-Schmelze-Wechselwirkung kann die Schmelze innerhalb einiger Tage das gesamte Fundament durchdrungen haben. Sobald sie mit dem Grundwasser in Berührung kommt, wird es verseucht. Zahlenangaben über die Höhe der Belastung gibt es nicht.

Dieser Unfallablauf ist in den siebziger Jahren durch einen amerikanischen Spielfilm als "Chinasyndrom" bekanntgeworden. In der DRS-A war er infolge der Anlehnung an den Rasmussen-Report als der hauptsächlich zu erwartende Unfallablauf angesehen worden.

Langsamer Druckaufbau im Sicherheitsbehälter

In den ersten Tagen nach Unfallbeginn ist die Nachwärmeproduktion immer noch hoch. Aus der Abbildung 12 läßt sich ablesen, daß ihre Leistung nach 10 Tagen immer noch mehr als 10 MW beträgt. Durch den anhaltenden Wärmeeintrag wird das im Sicherheitsbehälter vorhandene Wasser verdampft. Dieser Prozeß führt zusammen mit dem Freiwerden von Gasen aufgrund der Beton-Schmelze-Wechselwirkung zu einem langsamen Druckanstieg bis über den Druck hinaus, dem der Sicherheitsbehälter normalerweise standhalten soll. Gibt es keine Möglichkeit zur Druckentlastung des Sicherheitsbehälters, wird er nach etwa 5 Tagen versagen. Radioaktive Stoffe, die sich nicht an Anlagenteilen oder Gebäudewandungen abgelagert haben, treten in die Umgebung aus.

In Tabelle 3 werden unter dem Stichwort "Kleines Leck im Sicherheitsbehälter (Niederdruck- Pfad) Freisetzungswerte für die Edelgase von 100% genannt. Für Jod werden 0,8%, für Tellur 0,2% und für Cäsium 4 Hundertstel Prozent angegeben. In der DRS-B ist man davon ausgegangen, daß die Edelgase nicht zurückgehalten werden können, die leichtflüchtigen Stoffe sich jedoch im Lauf mehrerer Tage fast vollständig im Innern der Anlage abgesetzt haben werden. Ob das realistisch ist, kann man durchaus in Zweifel ziehen.

Schlüsselprobleme: Unwirksamkeit von Gegenmaßnahmen bei derzeitigen Druckwasserreaktoren

Bei der Beschreibung der Kernschmelzunfälle sind wir bis jetzt im wesentlichen einer Darstellung gefolgt, wie man sie auch in der DRS-B und in KfK-Veröffentlichungen findet. Man kann sagen, daß es bis hierher weitgehende Übereinstimmung in den Meinungen der Fachleute zum Stand von Wissenschaft und Technik gibt.

Nun wäre es angesichts so zerstörerischer Unfallabläufe wie denen, die wir hier beschrieben haben, eine berechtigte Frage, ob in diese Abläufe eingegriffen werden könnte, um sie zu verhindern oder wenigstens ihre Auswirkungen zu mildern. Die Autoren der DRS-B haben versucht, den Eindruck zu vermitteln, es seien Prozeduren möglich, mit denen diese Ziele zu erreichen wären. Untersucht man aber ihre Vorschläge dazu näher, dann muß man feststellen, daß ihr Umgang mit diesen Fragen nicht gerade von einer verantwortungsvollen Haltung geprägt ist. Denn wirksame Gegenmaßnahmen gegen die Phänomene, durch die der Sicherheitsbehälter im Verlauf von Kernschmelzunfällen zerstört oder umgangen wird, gibt es in den derzeitigen Atomkraftwerken nicht.

Das wollen wir in den nächsten Abschnitten zeigen.

Hochdruck-Kernschmelzen und die sogenannten "Accident-Management"- Maßnahmen

Bei den Vorarbeiten zur DRS-B zeichnete sich seit 1987 ab, daß die am häufigsten zu erwartenden Kernschmelzunfälle diejenigen sind, bei denen es zum Durchschmelzen des Reaktordruckbehälterbodens bei hohem Druck im Primärkreislauf, zu frühzeitiger Zerstörung des Sicherheitsbehälters und daraus resultierenden frühen massiven Freisetzungen radioaktiver Stoffe kommt.

In der Endfassung der DRS-B wird aber behauptet, es dürfe angenommen werden, in 99 von 100 dieser Fälle sei es möglich, mit den sogenannten "Accident-Management"-Maßnahmen (AM-Maßnahmen) oder auch "anlageninternen Notfallmaßnahmen" erfolgreich das Eintreten von Kernschmelzabläufen unter Hochdruck-Bedingungen zu verhindern. Mit diesen Prozeduren könnten die Häufigkeit von schwerwiegenden Kernschmelzunfällen verringert oder die Folgen von Kernschmelzabläufen begrenzt werden.

In den Endbericht der DRS-B wurde eine Darstellung der Unfallabläufe mit Berücksichtigung der "Accident- Management"-Maßnahmen ergänzend zu den Untersuchungen ohne "Accident- Management"-Maßnahmen als zusätzliches Kapitel eingefügt. Auf diese Weise sind die ursprünglichen Ergebnisse ohne Berücksichtigung von "Accident-Management"-Maßnahmen in der DRS-B ablesbar geblieben.

Aber auch die Reaktorsicherheitskommission vertritt in einem Positionspapier vom 9. Dezember 1992 die Aussage, mithilfe von Maßnahmen des anlageninternen Notfallschutzes könne die Wahrscheinlichkeit schwerer Unfälle so weit reduziert werden, daß man diese nach menschlichem Ermessen ausschließen könne.

Dieser Auffassung muß mit allem Nachdruck widersprochen werden.

Man muß sich sehr genau ansehen, was unter diesen "Accident- Management"-Maßnahmen" verstanden werden soll, wenn man ihre Wirksamkeit beurteilen will.

Ein wichtiges Beispiel ist der Unfallablauf, bei dem auf Grund von Stromausfall die Pumpen in der Anlage versagen, sodaß es zum Kernschmelzen unter hohem Druck im Primärkreislauf kommt. Wir haben diesen Ablauf vorn bereits beschrieben.

Die Bearbeiter der DRS-B und die RSK unterstellen, es gebe vielfältige Maßnahmen, mit deren Hilfe die Bedienungsmannschaft das Kernschmelzen unter hohem Druck verhindern könne.

Um für den Primärkreislauf eine gewisse Kühlwirkung und Absenkung des Innendrucks zu erreichen, solle eine im Normalbetrieb nicht vorhandene unplanmäßige Wärmesenke über den Sekundärkreislauf geschaffen werden. Aus dem Sekundärkreislauf könne über Ventile Wasserdampf in die Umgebung abgegeben werden. Dann müßte Kühlwasser in größeren Mengen nachgeliefert werden. Anfangs könnten dafür die Wasservorräte genutzt werden, die in den verschiedenen Behältern in der Anlage vorhanden sind. Schließlich könne sogar mit Feuerlöschpumpen über improvisierte Leitungsanschlüsse Wasser von außen, z.B. aus dem Kühlteich oder Fluß, in die Anlage befördert werden. Diese Maßnahmen wurden als "sekundärseitige anlageninterne Notfallmaßnahmen" bezeichnet.

Sollte es nicht gelingen, mit diesen Maßnahmen eine Absenkung des Drucks im Primärkreislauf zu erreichen, könne es zum Einsatz von "primärseitigen anlageninternen Notfallmaßnahmen" kommen. Die Bedienungsmannschaft könne das sogenannte "Bleed and feed" durchführen, das heißt: durch absichtliches wiederholtes Öffnen der Druckhalterventile könne Dampf in den Sicherheitsbehälter abgeblasen werden, um eine Druckentlastung des Primärkreises zu ermöglichen, und nachfolgend Wasser über die Notkühlsysteme in den Primärkreislauf nachgespeist werden, um die Kühlung aufrechtzuerhalten.

Nach der Darstellung in dem Teil der DRS-B mit Berücksichtigung der "AM-Maßnahmen" wird der Eindruck erweckt, bei knapp 90% der Hochdruckunfallabläufe könne das Kernschmelzen ganz vermieden werden. Bei der Mehrzahl der übrigen Fälle sei es möglich, den Unfallablauf in ein Kernschmelzen mit niedrigerem Druck im Primärkreislauf, in das sogenannte ND*-Kernschmelzen, zu überführen und damit die frühe Zerstörung des Sicherheitsbehälters zu vermeiden. Insgesamt spielt damit das Kernschmelzen bei hohem Druck im Primärkreislauf in der Darstellung der DRS-B keine wesentliche Rolle mehr.

Dieses vom Endbericht der DRS-B vermittelte Bild stimmt mit der zu erwartenden Realität nicht überein. Ihm widersprechen schon die Ergebnisse der Risikostudie selbst.

Die "Accident- Management"-Maßnahmen wären in jedem Fall von vornherein auf Handeingriffe des Bedienungspersonals angewiesen. In bestimmten Fällen soll der in den ersten Minuten nach einem Störfall automatisch wirkende Reaktorschutz außer Funktion gesetzt werden. Andererseits sollen Ventilschaltungen vorgenommen werden, die im normalen Betrieb und bei erwarteten Störfällen auf keinen Fall durchgeführt werden dürfen, wie z.B. Öffnen der Primärkreissicherheitsventile.

Daß Sicherheitssysteme wie z.B. Ventile, deren Schutzfunktion eng an ihr automatisches Öffnen und Schließen gekoppelt ist, von der Bedienungsmannschaft durch Handmaßnahmen geöffnet und geschlossen werden können, stößt international auch innerhalb der Betreiberkreise auf entschiedene Ablehnung. Es wird als erheblicher Mangel an Sicherheitsbewußtsein kritisiert.

Ein solches Vorgehen steht im Widerspruch zu der Sicherheitsphilosophie, daß die Automatik, also das Reaktorschutzsystem mindestens in den ersten 30 Minuten nach Unfallbeginn Vorrang vor menschlichen Eingriffen hat.

Die Durchführung von "Accident- Management"-Maßnahmen wäre nur innerhalb begrenzter Zeitabschnitte oder Zeitfenster während des Unfallablaufs möglich. Diese Zeitfenster beginnen mit dem Eintreten der Störung, die den ganzen folgenden Ablauf des Unfalls auslöst. Nach dem Ende des Zeitfensters ist Kernschmelzen nicht mehr zu verhindern. Bei einem Kernschmelzen unter hohem Druck beginnt der Kernschmelzvorgang 110 Minuten nach Störfallbeginn, und nach 140 Minuten durchdringt die Schmelze bereits den Boden des Reaktordruckbehälters. Unter niedrigem Druck beginnt die Kernschmelze wegen des schnellen Kühlmittelverlusts sogar schon nach 55 Minuten und zerstört den Reaktordruckbehälter nach 120 Minuten.

Es ist aber unvermeidbar, daß erst eine gewisse Zeit vergeht, bis das Personal erkennt, daß der Unfall mit den regulären Sicherheitssystemen nicht beherrscht werden kann und daß nun der Fall eingetreten ist, bei dem man sich zum Verstoß gegen die regulären Sicherheitsbestimmungen entscheiden soll.

Ein Kernschmelzen könnte selbst bei günstigem Zeitverlauf nur abgefangen werden, wenn die richtige Notfallmaßnahme ergriffen würde, bevor es zu nennenswerten Kernschäden kommt. Das Bedienungspersonal müßte sich unter einem enormen Zeitdruck zum Handeln entscheiden.

Möglichst zu Beginn des Zeitfensters müßte der jeweilige Störfall durch das Bedienungspersonal genau identifiziert werden. Würden zum Beispiel bei einem kleinen Leck die Maßnahmen ergriffen, die für Dampferzeuger-Heizrohrbruch vorgesehen sind, dann würde dadurch der Unfallablauf eher verschlimmert.

Vorausgesetzt werden müßte auch, daß das Personal den weiteren Unfallablauf zutreffend voraussehen kann. Die Anwendung von "AM"-Maßnahmen zum falschen Zeitpunkt kann auch Unfallabläufe erst herbeiführen. Beispielsweise ist ein zu frühes Öffnen der Druckhalterventile gleichzusetzen mit der Auslösung eines kleineren bis mittleren Lecks im Primärkreislauf. Wird zu spät eingegriffen, kann das Kernschmelzen unter hohem Druck nicht mehr verhindert werden.

Der Zyklus von Identifizierung über Entscheidung, Einleitung von Maßnahmen, Erfolgskontrolle und eventuell Korrektur der Entscheidung müßte vor dem Ende des jeweiligen Zeitfensters erfolgreich abgeschlossen sein.

Selbst die Autoren der DRS-B schreiben dazu: "Charakteristisch hierfür ist, daß das Bedienungspersonal zu Beginn das volle Ausmaß der Probleme noch nicht kennt. Der Störfall entwickelt sich mit fortschreitender Zeit, und die notwendigen Entscheidungen müssen Schritt für Schritt getroffen werden.

In solchen Situationen haben Verzögerungen oder Probleme bei vorausgegangenen Entscheidungen einen sehr ungünstigen Einfluß auf die Qualität von noch zu treffenden Entscheidungen. Letzten Endes sind die Entscheidungsträger eher einige Schritte im Verzug, als daß sie dem Ereignisablauf einen Schritt voraus sind, d.h. künftige Entwicklungen voraussehen können.

Ereignisabläufe, die vorausschauendes Denken verlangen (z.B. Einleitung von vorbereitenden Handlungen), für die aber nur knapp bemessene Handlungszeiten zur Verfügung stehen, werden von Effekten wie "verzögerte oder unklare Prozeßrückmeldung in sehr ungünstiger Weise beeinflußt."

Mit andern Worten: Das Bedienungspersonal kann sich nicht darauf verlassen, daß es richtig handeln kann und wird. Einer solchen Situation gegenüber ist es schlicht überfordert.

Schon diese Feststellung aus der DRS-B spricht gegen die Bewertung der "Accident-Management"- Maßnahmen als ernstzunehmende Methode, mit der in den meisten Fällen das Kernschmelzen unter hohem Druck erfolgreich zu verhindern wäre.

Es kommt hinzu, daß auch die technischen Bedingungen fehlen, die eine zwingende Voraussetzung für einen Erfolg dieser Vorgehensweise wären. Das Personal müßte zuverlässige Informationen über die Kühlfähigkeit und den aktuellen Zustand des Kerns haben. Es gibt aber keine Möglichkeit, den Beginn einer Kernzerstörung eindeutig zu identifizieren. Zum Beispiel sagt die Austrittstemperatur des Kühlmittels aus dem Kern nichts aus über den möglichen Ablauf des Unfalls. Darüber hinaus können die Meßeinrichtungen nur Werte für Zustände liefern, die im Normalbetrieb beachtet werden müssen. Extreme Werte bei Temperaturen und Drücken, die im Verlauf schwerer Störfälle auftreten werden, können mit ihnen nicht angezeigt und in die Warte übermittelt werden.

Viele technische und thermodynamische Vorgänge in einem Reaktor, die bei Kernschmelzunfällen berücksichtigt werden müßten, können nicht zuverlässig durch Rechenmodelle ermittelt werden. Man weiß deshalb auch gar nicht genau, worauf man sich einlassen müßte.

Selbst dann, wenn dem Bedienungspersonal mit viel Glück die Eingriffe gelingen würden, wäre das Kernschmelzen selbst nicht zu verhindern. Man hofft nur, den Druck im Primärkreis so weit absenken zu können, daß sich der Reaktordruckbehälter beim Durchschmelzen nicht aus seiner Verankerung losreißt und es nicht zum Durchschlagen des Sicherheitsbehälters kommt. Im Unterschied zu echten Niederdruckbedingungen versagt der Reaktordruckbehälter aber bei deutlich höheren Innendrücken zwischen etwa 20 und 30 bar. Man hat daher diesem Kernschmelzen die Bezeichnung ND*-Kernschmelzen gegeben.

Man muß aber noch weitere Gesichtspunkte berücksichtigen. Selbst wenn "Accident-Management-Maßnahmen" zur Vermeidung des Bruchs des Sicherheitsbehälters erfolgreich durchgeführt werden könnten, müßte die Freisetzung von Wasserstoff mit folgender Explosion beachtet werden. Käme die Überführung in ein ND*-Kernschmelzen zustande, so würden die Bedingungen für Direct-Containment-Heating oder Dampfexplosion verbessert. An die Stelle der einen Möglichkeit zum frühzeitigen Versagen des Sicherheitsbehälters treten die anderen, bei denen ebenfalls frühzeitig große Anteile der radioaktiven Stoffe aus dem Kern in die Umgebung freigesetzt werden.

Die hier angeführten Argumente dürften genügen schon, um die Behauptung zu widerlegen, die "Accident-Management"-Maßnahmen seien wirksame Gegenmaßnahmen gegen das Kernschmelzen unter hohem Druck. Mit der Aussage im Endbericht: Es "wird vorläufig angenommen, daß sie in 99 von 100 Fällen erfolgreich durchgeführt werden können", widersprechen die Autoren ihren eigenen Erkenntnissen, die sie an anderer Stelle geäußert haben. Diese Vorgehensweise ist nicht nur wissenschaftlich nicht haltbar. Sie ist auch nach den Maßstäben eines aufrichtigen Umgangs mit den schwerwiegenden Gefährdungen, denen andere Menschen in der Folge solcher Unfälle ausgesetzt sind, nicht akzeptierbar.

Die Berücksichtigung der sogenannten "AM-Maßnahmen", wie sie von GRS und RSK vertreten wird, stellt sich als ein Täuschungsmanöver heraus, mit dem von der Tatsache abgelenkt werden soll, daß bei einem Kernschmelzunfall in einem der heute betriebenen Atomkraftwerke mit frühen, massiven Radioaktivitätsfreisetzungen und mit katastrophalen Folgen für die Bevölkerung und die Umwelt gerechnet werden muß.

Schließlich gibt es noch einen Einwand, der die Betreiber von Atomkraftwerken selbst davon abhalten sollte, irgendwelche Hoffnungen in die "anlageninternen Notfallmaßnahmen" zu setzen. Selbst wenn es dem Personal gelungen sein sollte, das beginnende HD-Kernschmelzen in einen weniger stark gefährdenden Kernschmelzablauf zu überführen und die Zerstörung des Sicherheitsbehälters zu verhindern, wäre der Reaktor nach einem solchen Ereignis nicht mehr zu gebrauchen. Schon mit dem Abblasen großer Mengen von Kühlmittel über den Druckhalter würde der Sicherheitsbehälter hochgradig radioaktiv verseucht. Er wäre für längere Zeit nicht betretbar. Ein auch nur teilweises Schmelzen des Kerns ohne den Bruch des Sicherheitsbehälters setzt selbstverständlich den Reaktor außer Funktion.

Wasserstoffexplosion

Es gibt keine funktionsfähigen technischen Gegenmaßnahmen zur Verhinderung von Wasserstoffexplosionen.

Unter den Reaktorsicherheitsfachleuten ist jahrelang diskutiert worden, an verschiedenen Stellen im Sicherheitsbehälter sogenannte Zündkerzen einzubauen und diese zu zünden, wenn der Wasserstoff in den Sicherheitsbehälter austritt. Man meinte, wenn man für diese Zündkerzen eine günstige Anordnung fände, dann würde man dadurch den Wasserstoff abbrennen können, ohne daß es zu einer Explosion kommt. Frühzeitig hat das Öko-Institut darauf hingewiesen, daß Zünder das sicherste Mittel sind, den Sicherheitsbehälter gezielt zu zerstören. Heute hat sich diese Auffassung weithin durchgesetzt.

Die Reaktorsicherheitskommission, die die Bundesregierung in Fragen der Reaktorsicherheit berät, neigte trotzdem lange Zeit dazu, diesem Vorschlag zuzustimmen. Erst durch Anstrengungen verschiedener Seiten hat sie sich davon abbringen lassen. Im Frühjahr 1994 hat sie sich zu einer Empfehlung durchgerungen, nach der in die Sicherheitsbehälter sogenannte Rekombinatoren eingebaut werden sollen, mit denen der Wasserstoff gezielt ohne Flamme verbrannt werden soll, ehe es zur Explosion kommt. Das sind flächige Materialien, deren Oberfläche als Katalysator bei einer flammenlosen Rekombination von Wasserstoff mit dem Sauerstoff der Luft wirkt, so daß der Wasserstoff zu Wasser umgesetzt wird. In der Schweiz sind dafür platinüberzogene Geflechte entwickelt worden. Man hat auch entdeckt, daß an bestimmten beschichteten Folien solche Vorgänge ablaufen können. Im Sicherheitsbehälter müßten sehr große Flächen mit solchen Materialien ausgelegt werden. Man kann aber schon mit relativ einfachen Versuchen zeigen, daß es sehr lange dauert, bis es zu einer nennenswerten Volumenverminderung des Wasserstoffs kommt. Zu Beginn des Kernschmelzens, wenn der Wasserstoff in großen Mengen in den Sicherheitsbehälter ausströmt, ist der Rekombinationsprozeß nicht schnell genug, sodaß sich trotzdem in kurzer Zeit zündfähige Gemische bilden. Für diesen Zeitraum reicht die Wirkung der Kombinatoren nicht aus, um Wasserstoffexplosion zu verhindern. Nur wenn der Sicherheitsbehälter mehrere Tage lang standgehalten haben sollte, könnte die Wirkung dieser Katalysatoren ausreichen, um den vorhandenen Wasserstoff umzuwandeln.

Die RSK hat daraufhin das sogenannte Dualkonzept vorgeschlagen, nämlich beide Methoden anzuwenden, die Zünder für die Kurzzeitphase und die Rekombinatoren für die Langzeitphase. Aber man kann sicher sein, daß weder mit den Zündern noch mit den Rekombinatoren noch mit diesem Dualkonzept der RSK die Wasserstoffproblematik zu lösen ist.

Dampfexplosion

In Anlagen, in denen große Mengen geschmolzenen Metalls mit Wasser in Berührung kommen können, sind Dampfexplosionen nie auszuschließen.

Die Dampfexplosion war bereits in den siebziger Jahren als eine Möglichkeit für einen explosiven Vorgang bei einem Reaktorunfall erkannt worden. Man war sich nur nicht schlüssig, ob dabei mit einer Zerstörung des Sicherheitsbehälters zu rechnen sei. Man unterstellte damals, daß es zur Zerstörung des Sicherheitsbehälters kommen würde, und betrachtete diesen Unfallablauf als den schwerstmöglichen Unfall. In den achtziger Jahren wurde versucht, diese Vorgänge herunterzurechnen. Als Vulkanologen die daraus abgeleiteten Aussagen lasen, widersprachen sie heftig auf Grund ihrer eigenen Erfahrungen. Denn auch, wenn ein Lavastrom unterirdisch auf ein Wasservorkommen trifft, kommt es zu ähnlich explosionsartigen Ereignissen mit sehr hohen Energiefreisetzungen.

Maßnahmen, mit denen Dampfexplosionen verhindert werden könnten, gibt es nicht.

Bypass-Unfälle durch Umgehung des Sicherheitsbehälters

Bypass-Unfälle, bei denen während einer Kernschmelze radioaktive Stoffe in die Umgebung austreten, weil Abschlußklappen der durch den Sicherheitsbehälter führenden Rohrleitungen offen stehen geblieben sind, können nie ganz ausgeschlossen werden. Man kann zwar versuchen, die Zahl der Rohrdurchführungen durch den Sicherheitsbehälter zu verringern. Damit kann bestenfalls die Eintrittswahrscheinlichkeit für diese Art der Freisetzung von radioaktiven Stoffen verringert werden. Eine gewisse Anzahl von Rohrdurchleitungen durch den Sicherheitsbehälter bleibt aber notwendig. Deshalb kann auch das Versagen des Durchdringungsabschlusses als Ursache für das Austreten von radioaktiven Stoffen aus der Kernschmelze in die Umgebung nicht vollständig ausgeschlossen werden.

Dampferzeuger-Heizrohrbruch

Dampferzeuger-Heizrohrbrüche machen nach der DRS-B knapp 4% der Gesamtkernschmelzhäufigkeit aus. Ein Problem ergibt sich bei diesen Lecks dadurch, daß beim Einpumpen von Kühlmittel in den Primärkreislauf mit den Hochdrucksicherheits pumpen Wasser durch das Leck in den Sekundärkreislauf gepreßt wird, d.h. daß der Dampferzeuger überspeist wird. Das führt zu Schäden in der Frischdampfleitung und den dazugehörigen Ventilen. Vom Beginn des Unfallablaufs an steht für die freiwerdenden radioaktiven Stoffe ein Weg in die Umgebung offen.

Abbildung 19. Gefilterte Druckentlastung oder "Wallmann-Ventil"

In der DRS-B sind auch für diesen Unfall "Accident-Management"-Maßnahmen vorgeschlagen worden. Immerhin wurde eingestanden, daß in diesem Fall Maßnahmen vom Sekundärkreislauf her in der Regel nicht möglich sind. Auch die Erfolgswahrscheinlichkeit wurde wegen dieser erschwerenden Randbedingungen niedriger angesetzt als bei den Hochdruck-Kernschmelzabläufen.

Aber auch hier gilt, was wir oben zu den sogenannten "Accident-Management"-Maßnahmen festgestellt haben: Sie sind nicht akzeptabel.

Langsamer Druckaufbau im Sicherheitsbehälter

Niederdruck-Kernschmelzen sollte nach den Ergebnissen der DRS-B zu langsamem Druckaufbau im Sicherheitsbehälter und seinem späten Versagen und zu relativ geringen Freisetzungen in die Umgebung führen, wenn der Sicherheitsbehälter nicht wegen anderer Mechanismen, z.B. Wasserstoffexplosion, frühzeitig zerstört wird.

Nach dem Unglück von Tschernobyl wurde in den bundesdeutschen Atomkraftwerken eine Einrichtung eingebaut, die als "gefilterte Druckentlastung"bezeichnet wird. Mit ihr soll vermieden werden, daß ein Druckanstieg im Innern zum Platzen des Sicherheitsbehälters führt. Ein populärer Name dafür ist Wallmann-Ventil, nach dem Bundesumweltminister, auf dessen Initiative das zurückgeht.

In Abbildung 19 ist der Aufbau der "gefilterten Druckentlastung" zu sehen. Eine Ableitungsstrecke führt vom Sicherheitsbehälter zu einer Filteranlage und eine weitere geht von dort in den Kamin. Kommt es zu einem Kernschmelzen und zu einer Freisetzung aus dem Reaktordruckbehälter in den Sicherheitsbehälter, dann wird der Druck im Sicherheitsbehälter im Lauf von einigen Tagen ansteigen, sodaß er zu platzen droht. Dann soll ein Teil der Atmosphäre aus dem Sicherheitsbehälter über das Wallmann-Ventil gefiltert abgelassen werden.

Vielfach hat für Erstaunen gesorgt, welche Wirksamkeit das Wallmann- Ventil hat. In den Filtern können nur Stoffe herausgefiltert werden, die fest sind oder sich im Filter niederschlagen, wie Cäsium, Jod und andere Stoffe. Nicht im Filter festgehalten werden Edelgase. Diese werden also trotz des Wallmann-Ventils zu 100 % freigesetzt.

Wenn man dann die Dosiswerte nachrechnet, stellt man fest: Bei 100 % Edelgasfreisetzung kann auf Katastrophenschutzmaßnahmen bis in größere Entfernung von der Anlage nicht verzichtet werden. Die Anforderungen, die nach dem Stand von Wissenschaft und Technik heute an Atomkraftwerke gestellt werden müssen, werden also nicht erreicht.

Wie die vom Öko-Institut zusammengestellte Tabelle in Abb. 11 zeigt, wäre Umsiedlung nicht erforderlich, wenn von dem dafür relevanten Inventar an Cäsium 10E-5 oder 1/1000 Prozent oder weniger freigesetzt wird.

Weitere Möglichkeiten für das Eintreten von schwerwiegenden Unfällen in Atomkraftwerken, die Kernschmelzen zur Folge haben können

Die tatsächlichen Möglichkeiten für das Eintreten von Kernschmelzunfällen sind weit vielfältiger, als wir sie hier dargestellt haben.

Beispielsweise können durch die Erschütterungen bei Flugzeugabsturz, Erdbeben oder Brand in der Anlage Zerstörungen an Komponenten hervorgerufen werden, aus denen sich ein Kernschmelzunfall entwickeln kann. Auch durch Überflutung des Ringraums bei Überschwemmung können wichtige Systeme versagen.

Man kann nicht alle Unfallabläufe voraussehen. Zum Beispiel ist es unmöglich, in einem so komplexen System wie einem Atomkraftwerk im voraus alle Möglichkeiten festzustellen, wie es durch Verkettung des Versagens einzelner Komponenten oder Abläufe zu einem schweren Unfall kommen kann.

Oder man weiß, wie schwerwiegend Unfallabläufe sein können, kann sie aber nicht quantifizieren, das heißt, man kann nicht wie bei einzelnen Armaturen oder Vorgängen auf Erfahrung beruhende Zahlen dafür nennen, daß sie so und so häufig versagen. Dazu gehört zum Beispiel das, was man "menschliches Versagen" nennt.

Das kann vielfältiger Art sein: Bei Planung und Bau kann es zu Konstruktionsfehlern kommen. Die Betriebsmannschaft kann von den Vorschriften des Betriebshandbuchs abweichen. In Tschernobyl hat dies im April 1986 erheblich zur Auslösung der Katastrophe beigetragen. Darüber hinaus können bei der Planung und Kontrolle von Reparaturarbeiten Fehler gemacht werden. Der bekannteste Fall dieser Art in einem Druckwasserreaktor ist der Unfall im amerikanischen Druckwasserreaktor Three Mile Island 2 bei Harrisburg im März 1979, bei dem der Kern teilweise zusammengeschmolzen ist. Die Betriebsmannschaft hatte vergessen, für einen Reparaturvorgang geschlossene Armaturen wieder zu öffnen. Zu diesen Unfällen gehört auch der Zwischenfall im Atomkraftwerk Biblis im Dezember 1987, der erst ein Jahr später durch die Veröffentlichung in der amerikanischen Fachzeitschrift Nucleonics Week in der deutschen Öffentlichkeit bekannt wurde. Dort stand damals stundenlang eine Sperrarmatur zum Primärkreis offen, ohne daß die Betriebsmannschaft die rote Warnlampe registrierte. Radioaktives Kühlmittel strömte aus dem Primärkreislauf in den Ringraum zwischen Sicherheitsbehälter und Reaktorgebäude aus. Der jüngste gravierende Zwischenfall dieser Art in einem deutschen Atomkraftwerk wurde am 6. Juni 1998 im Atomkraftwerk Unterweser bei Esenshamm offenbar. Mängel in der Planung und Kontrolle von Maßnahmen zur Durchführung von Reparaturen hatten zum Ausfall von Sicherheitssystemen geführt. Auch in diesem Fall hat zuerst Nucleonics Week darauf gedrungen, die Schwere dieses Unfalls zu beachten.

Die Struktur dieser Ereignisse ist zwar immer wieder ähnlich. Die Möglichkeiten und Anlässe dafür sind aber so unterschiedlich, daß man ihre Eintrittshäufigkeit im einzelnen kaum zahlenmäßig belegen kann.

Nachweis von Ereignissen beim Kernschmelzen durch Experimente

Die Unfallabläufe, die wir eben beschrieben haben, werden in der Öffentlichkeit gern als "hypothetische Unfälle" bezeichnet, um ihnen den Schein zu geben, sie gehörten zu dem, was das BVerfG Ungewißheiten jenseits der Schwelle der praktischen Vernunft genannt hat, die unentrinnbar seien und insofern als sozialadäquate Lasten von allen Bürgern zu tragen seien.

Es sind aber viele teils freiwillige, teils unfreiwillige Experimente gemacht worden, die insbesondere die Auswirkungen von explosiven Vorgängen belegen.

Vom Kernforschungszentrum Karlsruhe wurde in Zusammenarbeit mit dem russischen Kurtschakow-Institut (Kurtschatow?) in einer Versuchsanlage in Moskau mit Wasserstoff experimentiert. Vom Ablauf des Experiments wurden Videoaufnahmen gemacht. In einer entsprechenden Atmosphäre wurden 5 kg Wasserstoff gezündet. Die Explosion war unerwartet so heftig, daß starke Panzerplatten losgerissen wurden und durch den Versuchsraum flogen. Es wäre wünschenswert, daß das Kernforschungszentrum Karlsruhe die Videoaufnahmen von diesem Vorfall zugänglich machte. Dann könnte man sich besser vorstellen, was eine eine Wasserstoffexplosion tatsächlich ist.

Bei diesem Experiment sind nur 5 kg Wasserstoff explodiert. Bei einer Explosion in einem Atomkraftwerk hätte man es mit 1000 kg Wasserstoff oder mehr zu tun. Entsprechend größer wäre die freiwerdende Energie.

Auch die Mitarbeiter des Battelle-Instituts in Frankfurt/M. konnten sich am 6. 12.1988 aus eigener Anschauung von der Wirkung von H2-Verbrennung überzeugen. Man hatte zuerst mit Verbrennungen in einem ungeteilten Raum experimentiert. Dann war man übergegangen zu einer Anordnung mit mehreren Räumen, die den Einbauten im Sicherheitsbehälter von Druckwasserreaktoren entsprachen, in denen sich der Wasserstoff verteilte. Dabei kam es zu Explosionen, die wegen der dazwischenliegenden Wände als teilverdämmte bezeichnet werden. Sie waren von nicht erwarteter Heftigkeit. Ein Eingreifen der Feuerwehr war notwendig. Seitdem sind die Mitarbeiter von Battelle weit vorsichtiger geworden, wenn es sich um die Auswirkungen von Wasserstoffexplosionen in Mehr-Raum-Anordnungen handelt.

In den USA hat man viele Experimente zur Wechselwirkung zwischen Schmelze und Wasser, also Dampfexplosion gemacht, vorsichtshalber in ganz kleinem Maßstab. Die erste Serie von Versuchseinrichtungen wurde restlos zerstört, sogar bis zu den Druckmeßeinrichtungen, die in der Entfernung aufgestellt worden waren.

Ein unfreiwilliges Experiment hat man im Kernforschungszentrum Karlsruhe gemacht. Dort ist in der Versuchsanlage Beta seit vielen Jahren die Beton-Schmelze-Wechselwirkung experimentell untersucht worden. Man ließ heiße, nicht radioaktive Schmelze in Beton eindringen, um zu sehen, wie sich die Beton-Schmelze-Wechselwirkung ausbreitet. Ein Ergebnis ist: der Vorgang wird nicht gestoppt.

Bei einem der Experimente ist dann Wasser zugeführt worden. Beim erstenmal ging das gut. Beim zweitenmal gab es eine Dampfexplosion, die die Versuchsanlage Beta sprengte, so daß die Trümmer bis an die Decke der Halle flogen. Das empfand man als sehr peinlich. Denn man hätte daran denken müssen, daß alle diese Phänomene untereinander zusammenhängen. Man glaubte, das eine einigermaßen zu beherrschen, hat aber das andere erst hervorgerufen.

Die experimentellen Erfahrungen zeigen, daß es sich bei allen diesen Phänomenen um sehr energiereiche Ereignisse handelt. Und es gibt immer wieder Überraschungen, die darauf hindeuten, daß man die Probleme unterschätzt.

Siedewasserreaktoren und Erkenntnisse über Kernschmelzunfälle

Die Ergebnisse der Deutschen Risikostudie Kernkraftwerke beziehen sich auf Untersuchungen und Betriebserfahrungen mit Druckwasserreaktoren. Wenn man davon absieht, daß mehrere Atomkraftwerke schon längere Zeit stillstehen, gibt es in der Bundesrepublik 21 Atomreaktoren zur Stromproduktion. Davon sind sieben als Siedewasserreaktoren gebaut. Sie sind alle von der KWU (ehemals AEG) hergestellt worden. Diese Reaktoren unterscheiden sich ihrem Bauprinzip nach von den Druckwasserreaktoren. Dies bedeutet, daß die Aussagen der DRS nicht ohne weiteres auf diese Atomkraftwerke bezogen werden können. Es kann aber auch bei ihnen zu Kernschmelzunfällen mit schwerwiegenden Folgen kommen. Wir wollen hier deshalb auch einige Aussagen über diesen Reaktortyp machen.

Es ist weit schwieriger, zu akzeptablen Aussagen über Kernschmelzunfälle bei den Siedewasserreaktoren zu kommen, da es für sie keine Risikostudien in der Art der Deutschen Risikostudie Kernkraftwerke gibt. Man kann lediglich Einzelstudien zu einzelnen Anlagen und zu jeweils einzelnen technischen und sicherheitsrelevanten Problemen heranziehen. Hinzu kommt, daß sich die Bautypen der Siedewasserreaktoren in der Bundesrepublik in Anordnung und Aufbau bestimmter technischer Einrichtungen, die für das Verhalten bei Kernschmelzunfällen von Bedeutung sind, noch voneinander unterscheiden. Wir können hier deshalb nur einige wenige technische Problempunkte nennen, die für alle Siedewasserreaktoren deutscher Bauart zutreffen. Unter diesen Umständen ist es auch nicht möglich, Aussagen über die Wahrscheinlichkeit des Eintretens von Kernschmelzunfällen in diesen Anlagen zu machen. Es können aber Kernschmelzunfälle mit ähnlich schwerwiegenden Folgen eintreten wie bei Druckwasserreaktoren; demgegenüber tritt, wie wir bereits angeführt haben, die Frage nach der Eintrittswahrscheinlichkeit in den Hinter grund.

Abbildung 20. Siedewasserreaktor, Sicherheitsbehälter der Baulinie ‘69 (Krümmel)

Aufbau und Funktionsweise von Siedewasserreaktoren

Auch bei Siedewasserreaktoren ist der Ausfall der Wärmeabfuhr aus dem Reaktorkern das schwerwiegendste Sicherheitsproblem.

Die Gesamtunfallabläufe mit Kernschmelzen bei Siedewasserreaktoren unterscheiden sich aber charakteristisch von den Unfallsequenzen bei Druckwasserreaktoren. Die für die Freisetzung von radioaktiven Stoffen wichtigen Unterschiede zwischen beiden Reaktortypen hängen in erster Linie mit der verschiedenartigen Konzeption des Sicherheitsbehälters zusammen. In Abb. 20 und 21 zeigen wir schematisch den Aufbau der beiden in Deutschland gebauten Siedewasserreaktortypen.

Bei Druckwasserreaktoren wird der für den Antrieb der Turbine benötigte Dampf durch Abgabe der Energie aus dem Primärkühlkreislauf über Wärmetauscher in den Sekundärkreislauf produziert. Der Sicherheitsbehälter umschließt den Primärkreislauf vollständig; er ist groß genug, daß er bei einem Kühlmittelverlust aus dem Primärkreislauf die gesamte freiwerdende Dampfmenge aufnehmen kann.

Demgegenüber wird bei Siedewasserreaktoren die Turbine von dem im Reaktordruckbehälter entstehenden Dampf über die Frischdampfleitungen ohne zwischengeschalteten Wärmetauscher direkt angetrieben. Der Kühlkreislauf ist nicht vollständig vom Sicherheitsbehälter umschlossen, sondern muß durch ihn hindurchgeführt werden.

Aus wirtschaftlichen Gründen sind die Sicherheitsbehälter der Siedewasserreaktoren (insbesondere bei der Baulinie 69) nicht als Volldruckcontainment ausgelegt, das dem Dampfdruck widerstehen könnte, der sich bei einem großen Leck einstellen wird. Es ist deshalb ein zusätzliches System erforderlich, das bei einem Kühlmittelverlust im Sicherheitsbehälter den Dampf aufnehmen kann: Der Raum innerhalb des Sicherheitsbehälters ist unterteilt in eine Druckkammer und eine darunter liegende wassergefüllte Kondensationskammer, beide zusammen bilden das sogenannte Druckabbausystem. Das Wasser der Kondensationskammer dient als Notwärmesenke, es ist gleichzeitig aber auch das Notkühlwasserreservoir.

Bei einem Kühlmittelverlustunfall innerhalb des Sicherheitsbehälters muß sofort die aus dem Reaktorkern abzuführende Wärmeleistung durch das Einfahren der Abschaltstäbe in den Reaktorkern, die Schnellabschaltung, auf die Nachzerfallswärmeleistung begrenzt werden. Damit die Kühlmittelverluste aus dem Sicherheitsbehälter vermieden werden können, muß durch das Verschließen fast aller Rohrleitungen, die den Sicherheitsbehälter durchdringen, der Durchdringungsabschluß hergestellt werden. Die Notkühlsysteme, die Wasser aus der Kondensationskammer in den Reaktordruckbehälter pumpen, müssen gestartet werden. Durch ausströmenden Dampf oder verdampfendes heißes Wasser wird in der Druckkammer ein Druckaufbau verursacht; dieser muß auf Werte begrenzt werden, bei denen der Sicherheitsbehälter nicht gefährdet wird. Da in der kühleren Kondensationskammer der Druck niedriger bleibt, wird der Dampf aus der Druckkammer über Kondensationsrohre in das Wasser der Kondensationskammer gedrückt. Auch der Dampf aus dem Reaktordruckbehälter wird über Sicherheits- und Entlastungsventile (im folgenden abgekürzt: S/E-Ventile) in die Kondensationskammer geleitet. Die Temperatur des Kondensationskammerwassers wird über das Kühlsystem der Nachkühlketten niedrig gehalten. Der eingeleitete Dampf gibt seine Wärmeenergie in das Kondensationskammerwasser ab und wird selbst wieder zu Wasser kondensiert. Über die Notkühlsysteme wird Wasser aus der Kondensationskammer zurück in den Reaktordruckbehälter gepumpt. Damit soll der Verlust an Kühlmittel im Reaktordruckbehälter so gering gehalten werden, daß der Kern auch weiterhin genügend gekühlt bleibt und eine Kernschmelze vermieden werden kann. Gleichzeitig stellt sich ein Wärmeabfuhr-Kreislauf über Reaktordruckbehälter - Leck - Druckkammeratmosphäre - Kondensationsrohre (parallel dazu ein Teilstrom über die S/E-Ventile) - Kondensationskammerwasser - Notkühlsysteme - Reaktordruckbehälter ein, über den die Nachzerfallswärme des abgeschalteten Reaktorkerns in die Kondensationskammer und von dort über die Nachkühlketten abgeleitet wird. Durch diesen Prozeß können der sich aufbauende Dampfdruck und die Temperatur in der Druckkammer langsam gesenkt werden.

Zum Funktionieren des Abkühlungsprozesses notwendig ist ein geringer Unterdruck in der Kondensationskammer gegenüber der Druckkammer . Deshalb sind zwischen Druckkammer und Kondensationskammer Klappen angeordnet. Diese haben die Aufgabe, gegen Ende eines beherrschten Kühlmittelverlusts, wenn die Atmosphäre des Sicherheitsbehälters bereits stark abgekühlt und infolge davon der Druck im Sicherheitsbehälter erheblich gesunken ist, die aus der Druckkammer mit dem Dampf mitgerissene Luft aus der Kondensationskammer entweichen zu lassen, um den zum Funktionieren des Abkühlungsprozesses notwendigen geringen Unterdruck in der Kondensationskammer wiederherzustellen.

1 Brennelemente
2 Steuerelemente
3 Hauptkühlmittelpumpen
4 Speisewasserleitungsstutzen  
5 Frischdampfleitung
6 Reaktordruckbehälter
7 Kondensationskammer
8 5chnellabschaltung
9 Sicherheits- und Entlastungsventil
10 Kondensationsrohre aus dem Sicherheitsbehälter

Abbildung 21. Siedewasserreaktor, Containment der Baulinie ‘72
(Gundremmingen II B und C)

Das Druckbegrenzungssystem kann nicht über längere Zeit die normale Energieleistung des Reaktors aufnehmen. Deshalb muß bei einem Kühlmittelverlust oder beim Ausfall der Hauptwärmesenke, der z.B. verursacht sein kann durch einen Ausfall der Turbine durch Stillstand, sofort die Reaktorschnellabschaltung in Funktion treten, um die Nachwärmeleistung zu begrenzen. Dazu werden bei den Siedewasserreaktoren der KWU die Abschaltstäbe von unten durch den Boden des Reaktordruckbehälters hydraulisch zwischen die Brennelemente "eingeschossen". Sie nutzen damit nicht die Gravitationskraft, wie es bei den Druckwasserreaktoren üblich ist. Deshalb verlangt dieses Schnellabschaltsystem einen aufwendigen Mechanismus zum Bereitstellen des zum Einschießen notwendigen Drucks.

Die relativ kleinen Sicherheitsbehälter der Siedewasserreaktoren der Baulinie 69 sind von ihrer Konzeption her nicht nur durch schnellen Druckanstieg viel stärker bedroht als das Containment von Druckwasserreaktoren, sondern auch durch die Bildung von Wasserstoff und die damit verbundene Explosionsgefahr. Deshalb ist bei allen Siedewasserreaktoren während des Betriebs die Atmosphäre des Sicherheitsbehälters mit Stickstoff inertisiert, um Wasserstoffexplosionen zu verhindern.

Alle deutschen Siedewasserreaktoren sind in den letzten Jahren mit einem Druckentlastungsventil, dem sogenannten Wallmann-Ventil, ausgestattet worden, mit dem durch gefilterte Druckentlastung das Bersten des Sicherheitsbehälters wegen Überdruck vermieden werden soll.

Aus dieser anderen Bau- und Funktionsweise ergibt sich, daß bei Siedewasserreaktoren andere Vorgänge zu beachten sind, die zum Versagen von Reaktordruckbehälter und Sicherheitsbehälter führen, als die, die von den Druckwasserreaktoren bekannt sind.

Als mögliche Unfälle, durch die es zu großen Freisetzungen von radioaktiven Stoffen bei Siedewasserreaktoren kommen kann, wollen wir hier nur einige beschreiben.

Kernschmelzunfallabläufe bei Siedewasserreaktoren

Versagen der Nachwärmeabfuhr durch Ausfall der Nachkühlketten

Zu den langsamen Kernschmelzabläufen bei Siedewasserreaktoren gehören diejenigen, bei denen nach dem Ausfall der Hauptwärmesenke oder bei einem Kühlmittelverlust innerhalb des Sicherheitsbehälters noch über längere Zeit eine Bespeisung des Reaktordruckbehälters mit Wasser aus der Kondensationskammer und damit eine Kühlung des Kerns möglich ist. Auch bei solchen Unfallabläufen muß jedoch damit gerechnet werden, daß der Sicherheitsbehälter bereits zerstört wird, während der Reaktordruckbehälter noch intakt ist. Als Beispiel dafür wollen wir hier das Versagen der Nachwärmeabfuhr aus der Kondensationskammer durch den Ausfall der Nachkühlketten beschreiben.

Nach dem Ausfall der Hauptwärmesenke wird zunächst durch die Reaktorschnellabschaltung die Nachwärmeleistung der Brennelemente stark verringert, durch das Öffnen der S/E-Ventile wird die noch entstehende Nachwärme-Energie in Form von Dampf in den Wasservorrat der Kondensationskammer eingeleitet sowie das Ansteigen des Drucks im Reaktordruckbehälter begrenzt. Fallen aber die Nachkühlketten aus, kann die Temperatur des Kondensationskammerwassers nicht niedrig gehalten werden. Die Kondensationskammer heizt sich auf bis zum Sieden. Der im Reaktordruckbehälter entstehende Dampf, der weiter über die S/E-Ventile in die Kondensationskammer gedrückt wird, kann nicht mehr kondensieren; damit verliert die Kondensationskammer ihre Funktion, den Druck in der Druckkammer zu senken. Durch Ausdampfen aus der Kondensationskammer steigt der Druck in der Druckkammer an. Könnte die Betriebsmannschaft nicht das Druckentlastungsventil in Funktion setzen, würde der Sicherheitsbehälter dem Druckanstieg schließlich nicht mehr standhalten und bersten. Der Versagensdruck des Sicherheitsbehälters würde nach ca. 15 bis 18 Stunden nach dem Ausfall der Nachkühlung erreicht.

Vom Augenblick des Berstens an stünde das Containment offen, eine Rückhaltung radioaktiver Stoffe wäre nicht mehr möglich. Zugleich würde wegen des plötzlichen Druckabfalls schlagartig ein großer Teil des Wasserinhalts aus der Kondensationskammer in die Atmosphäre hinausgeschleudert.

Nach dem Bersten des Sicherheitsbehälters und dem ersten heftigen Kühlmittelverlust würde sich das Ausdampfen des Wassers aus dem Reaktordruckbehälter fortsetzen. Nach weiteren 25 bis 35 Stunden wäre die Kondensationskammer leer. Wenn der Kern nicht mehr mit Wasser bedeckt ist, würde das Kernschmelzen beginnen. Etwa 5 bis 7 Stunden nach Leerung der Kondensationskammer wäre der Kern abgestürzt und nach weiteren 1,5 bis 2 Stunden durch die Wandung des Reaktordruckbehälters geschmolzen. Massive Freisetzungen radioaktiver Stoffe aus dem offenen Sicherheitsbehälter würden beim Versagen des Reaktordruckbehälters beginnen, etwa 46 bis 60 Stunden nach Unfallbeginn.

Mit dem Druckentlastungsventil kann aber das sogenannte Venting durchgeführt werden. Durch Öffnen des Ventils wird Dampf aus dem Sicherheitsbehälter in die Umgebung abgelassen, um den Druck im Sicherheitsbehälter abzusenken. Da ohne ein Eingreifen in den Druckanstiegsprozeß mit etwa 15 Stunden bis zum Überdruckversagen des Sicherheitsbehälters gerechnet werden kann, hat man mindestens diesen Zeitraum für das Venting zur Druckabsenkung zur Verfügung. Damit kann es gelingen, das Bersten des Sicherheitsbehälters zu verhindern.

Allerdings ist es zur vollständigen Beherrschung des Unfalls notwendig, daß die Nachkühlketten oder Ersatzsysteme für sie wieder funktionsfähig gemacht werden. Andernfalls kann es mangels Abkühlung des Reaktorkerns zu einer Kernschmelze kommen, die dann auch den Sicherheitsbehälter zerstört.

In einem Venting-Fall können zwar die radioaktiven Freisetzungen so weit begrenzt werden, daß bei Zugrundelegung der Rahmenempfehlungen für den Katastrophenschutz bei kerntechnischen Anlagen eine Evakuierung höchstens in der direkten Umgebung der Anlage angeordnet werden muß. Es darf aber eins nicht übersehen werden: Vom Beginn des Venting an werden mit dem abgeblasenen Dampf auch radioaktive Edelgase, die im Filter nicht zurückgehalten werden können, in so großen Mengen in die Umgebung freigesetzt, daß mit Krebserkrankungen zu rechnen ist. Es sind also selbst unter diesen Umständen noch Katastrophenschutzmaßnahmen außerhalb der Anlage notwendig, vor allem die Aufforderung an die Bevölkerung, die Gebäude nicht zu verlassen.

Ausfall der Hauptwärmesenke mit Versagen der S/E-Ventile

Bei Störungen in der Turbine muß zu ihrem Schutz der Turbinenschnellschluß ausgelöst werden. Damit wird die Turbine vom Frischdampfsystem getrennt. Die Hauptwärmesenke ist ausgefallen. Durch Öffnen der Turbinenumleitstation wird der Frischdampf direkt in den Kondensator des Kühlkreislaufs geleitet. Öffnet in einem solchen Fall die Umleitstation nicht, so kann der im Reaktor entstehende Dampf nicht mehr kondensiert werden. Damit ist auch die Energieabfuhr aus dem Reaktorkern nicht mehr gegeben.

Beim Ausfallen der Hauptwärmesenke wird durch die Reaktorschnellabschaltung die aus dem Kern abzuführende Energieleistung auf die Nachwärmeleistung begrenzt. Als nächstes wird normalerweise durch den weiter ansteigenden Druck im Reaktordruckbehälter die Druckentlastung durch Öffnen der S/E- Ventile ausgelöst. Damit wird die Energieabfuhr aus dem Reaktordruckbehälter über die S/E- Ventile in die Kondensationskammer ermöglicht. Die Frischdampfleitungen werden durch den Durchdringungsabschluß abgesperrt.

Versagen beim Druckanstieg im Reaktordruckbehälter alle S/E-Ventile durch Nichtöffnen, dann ist wegen des nicht ausreichenden Druckabbaus im Reaktordruckbehälter eine Einspeisung von Kühlmittel aus der Kondensationskammer nicht mehr möglich. Weil die Druckbegrenzungsfunktion der S/E- Ventile ausfällt, steigt der Druck im Reaktordruckbehälter und in den durch den Durchdringungsabschluß abgesperrten Frischdampfleitungen innerhalb des Sicherheitsbehälters sehr schnell an. Es dauert nur wenige Minuten, bis der Druck das 1,4- fache bis zum 2-fachen des Auslegungsdrucks und damit den Versagensdruck erreicht. Der Reaktordruckbehälter platzt, während der Kern noch mit Kühlmittel überdeckt ist. Dabei werden der Reaktordruckbehälter und eventuell auch die Frischdampf-Leitungen zerstört. Der Sicherheitsbehälter wird nahezu zeitgleich durch den auftretenden Druckstoß oder durch umherfliegende Trümmer des Reaktordruckbehälters so beschädigt, daß er seine Einschließungsfunktion nicht mehr wahrnehmen kann. Danach kann auch nicht mehr damit gerechnet werden, daß die Anschlüsse und Leitungen der Einspeisesysteme von der Kondensationskammer in den Reaktordruckbehälter noch funktionsfähig sind, daher ist dann auch eine Kühlung des Kerns nicht möglich. Durch die Druckentlastung von 120-170 bar auf Atmosphärendruck wird ein beträchtlicher Anteil des im RDB befindlichen Wassers schlagartig verdampft. Man kann annehmen, daß im günstigsten Fall noch 1/3 des ursprünglich vorhandenen Kühlmittelinventars im RDB verbleibt. Das reicht zur Kühlung des Kerns nicht aus. Das restliche Kühlmittel dampft schnell aus. Es folgen das Aufheizen des Kerns, Schmelzen und Absturz in die Bodenkalotte innerhalb der nächsten 2 Stunden. Schon mit Beginn der Aufheizung beginnt auch die Freisetzung von Radionukliden. Schließlich wird ein großer Teil des radioaktiven Inventars freigesetzt. Die Folgen für die Umgebung entsprechen denen schwerer Kernschmelzunfälle bei Druckwasserreaktoren.

Ausfall Schnellabschaltung

Fällt bei einem Kühlmittelverlustunfall oder beim Ausfall der Hauptwärmesenke auch die Schnellabschaltung aus, weil es nicht gelingt, die Steuerstäbe von unten in den Reaktordruckbehälter einzufahren, dann sinkt die Reaktorleistung nicht auf die Nachwärmeleistung ab, sondern stabilisiert sich auf einem höheren Niveau, das auch die volle Nennleistung des Reaktors erreichen kann. Infolge der höheren Reaktorleistung reicht die Leistung der Nachkühlketten zur Abführung der freiwerdenden Energie aus der Kondensationskammer nicht aus; die Kondensationskammer heizt sich deshalb schnell auf. Spätestens nach ca. 30 Minuten ist durch Verdampfung aus der Kondensationskammer ein Druck erreicht, der zum Aufplatzen des Sicherheitsbehälters führt. Danach dampft das Wasser, das noch im Reaktordruckbehälter und in der Kondensationskammer übriggeblieben ist, schnell aus. Es beginnt die Kernaufheizung und das anschließende Schmelzen des Kerns. Auch in diesem Fall beginnt eine massive Freisetzung in die Umgebung nach etwa einer Stunde. Von den resultierenden Freisetzungen her ist er mit dem Ablauf "Ausfall der Hauptwärmesenke und Versagen der S/E-Ventile" vergleichbar, damit entsprechen auch seine Folgen denen von schweren Kernschmelzunfällen bei Druckwasserreaktoren.

Was sind die Folgen von Kernschmelzunfällen in der Umgebung eines Atomkraftwerks?

Keine Aussagen über Kernschmelzunfallfolgen in der DRS-B

Obwohl der ursprüngliche Auftrag für die DRS-B auch die Berechnung von Unfallfolgen nach Kernschmelzunfällen umfaßte, fehlen entsprechende Abschnitte in der endgültig vorgelegten Studie.

Zur Durchführung dieser Art von Rechnungen gehört in einem ersten Schritt die Ermittlung von Quelltermen, das heißt von Art und Menge der radioaktiven Stoffe, die bei verschiedenen Kernschmelzunfallabläufen aus dem zerstörten Reaktordruckbehälter und dann aus dem Sicherheitsbehälter in die Umgebung freigesetzt werden. In der DRS-B hat man dafür keine neuen Berechnungen vorgenommen, sondern Schätzwerte angegeben oder sich auf die Zahlen aus der DRS-A gestützt. Für manche Unfallabläufe, die in der DRS-B beschrieben sind, fehlen Quellterme ganz.

Ein besonders schwerwiegender Mangel der DRS-B besteht aber darin, daß Berechnungen über die Ausbreitung der radioaktiven Stoffe in der Atmosphäre und die sich daraus ergebenden Belastungen für die Bevölkerung nach Kernschmelzunfällen ganz fehlen. Zwar sind jahrelang Vorarbeiten vorgestellt worden, in denen man sich mit der Angemessenheit von Berechnungsmethoden befaßte. Die Durchführung dieser Arbeiten wurde dann 1987 ohne weitere Erklärung abgebrochen.

Dieser Zeitpunkt deckt sich mit dem, als die Problematik der Kernschmelzunfälle bei hohem Druck im Primärkreislauf erkannt wurde.

Der Abbruch der Arbeiten zu den Unfallfolgen von Kernschmelzunfällen hat offensichtlich denselben Hintergrund wie die Inanspruchnahme der sogenannten "anlagen-internen Notfallmaßnahmen" als Begründung für das "äußerst unwahrscheinliche" Ein-treten von Kernschmelzunfällen mit früher Zerstörung des Sicherheitsbehälters.

Der Öffentlichkeit sollte verborgen bleiben, wie die Gefährdungen für die Bevölkerung konkret aussehen, die sich aus den unverstellten Arbeitsergebnissen der DRS-B ergeben.

Die nicht vollendete Deutsche Risikostudie Kernkraftwerke Phase B hinterließ ein politisch höchst bedenkliches Informationsdefizit.

Es gibt aber einen Weg, sich dennoch eine Vorstellung über die Auswirkungen der in der DRS-B dargestellten schwerwiegenden Unfallabläufe zu verschaffen. Schon immer bot die Auseinandersetzung mit den geplanten Maßnahmen für den Katastrophenschutz dafür Ansatzpunkte. Von dieser Seite her wollen auch wir der Frage nach den Folgen von Kernschmelzunfällen nachgehen.

An den Anfang stellen wir eine knappe Zusammenfassung der Erkenntnisse über die schädigende Wirkung von Radioaktivität im menschlichen Körper. Dann beschäftigen wir uns mit den offiziell in der Bundesrepublik geltenden Grundlagen für die Planung von Katastrophenschutzmaßnahmen, den Rahmenempfehlungen für den Katastrophenschutz in der Umgebung kerntechnischer Anlagen, die vom Bundesinnenminister am 24. Februar 1989 veröffentlicht worden sind.

Diese Empfehlungen sind nicht ohne Kritik geblieben. Es gibt dazu mehrere Studien des Öko-Instituts und einige Aussagen aus dem KfK. Mit ihrer Hilfe kann man sich ein einigermaßen zutreffendes Bild machen von den Auswirkungen der in der DRS-B beschriebenen schwerwiegenden Kernschmelzunfallabläufe auf die Bevölkerung und ihre gesellschaftliche Umgebung.

Warum ist Radioaktivität gefährlich?

Jedes chemische Element besteht aus mehreren Atomsorten, den sogenannten Isotopen. Die Isotope eines Elements verhalten sich zwar chemisch alle gleich, sie unterscheiden sich aber in physikalischer Hinsicht voneinander. Die Isotope eines Elements haben eine unterschiedliche Masse. Manche Isotope sind stabil, andere geben Strahlung ab und wandeln sich dabei um, sie sind instabil oder radioaktiv. Die radioaktiven Isotope eines Elements nennt man Radioisotope.

Die Radioaktivität ist eine Eigenschaft der Atomkerne. Die Kerne oder Nuklide von radioaktiven Atomen werden deshalb auch Radionuklide genannt.

In der Natur kommen radioaktive Isotope verschiedener Elemente vor, einige davon in größeren Mengen, andere nur in Spuren. Man bezeichnet sie als natürliche Radioaktivität.

Die meisten radioaktiven Isotope entstehen aber heute beim Betrieb von atomtechnischen Anlagen. Sie werden z.B. gezielt hergestellt, um ihre Wirkung im technischen oder medizinischen Bereich nutzen zu können. In großen Mengen entstehen Radionuklide jedoch neu beim Betrieb von Atomreaktoren zur Stromproduktion. Diese radioaktiven Isotope bezeichnet man als künstliche Radioaktivität. Die chemischen Eigenschaften von natürlich vorkommenden und technisch produzierten Radioisotopen unterscheiden sich nicht. Die Bezeichnung "natürliche" oder "künstliche" Radioaktivität ist also nur ein Hinweis auf die Entstehungsart des jeweiligen radioaktiven Stoffs.

Durch die technische oder "künstliche" Produktion von radioaktiven Isotopen, von denen manche auf der Erde unter natürlichen Bedingungen gar nicht oder nur in geringen Mengen vorkommen, steigt weltweit die Strahlenbelastung der Bevölkerung.

Atome bestehen einerseits aus einem Kern mit positiv geladenen Protonen und neutralen Neutronen und andererseits aus negativ geladenen Elektronen, die den Kern in unterschiedlichen räumlichen Bahnen, sogenannten Schalen, umkreisen. Jedes Element hat eine typische Anzahl an Protonen. Die Isotope des gleichen Elements unterscheiden sich dadurch, daß ihre Atomkerne ein oder mehrere Neutronen mehr oder weniger besitzen. Die Zahl nach dem Elementennamen gibt die Anzahl der Neutronen im Kern an, z.B. Uran-235 und Uran-238.

Es gibt eine große Zahl von Elementen, die radioaktiv sind, aber nur eine beschränkte Anzahl von Möglichkeiten der radioaktiven Umwandlung. Die Umwandlung wird auch radioaktiver Zerfall genannt, weil die Atome dabei Teilchen oder elektromagnetische Wellen als radioaktive Strahlung abgeben. Dabei verändern die Atome ihre Zusammensetzung und zerfallen in neue chemische Elemente.

Alpha-Strahlung

Bei manchen Radionukliden wird beim Zerfall ein Teilchen aus dem Kern herausgeschleudert, das aus zwei Protonen und zwei Neutronen besteht. Man nennt es Alpha-Teilchen. Es entspricht dem Kern eines Helium-Atoms. Der Rest des zerfallenen Atoms bildet ein neues Atom, das ebenfalls radioaktiv sein kann. Z.B. zerfällt ein Atom Radium-226 zu Radon-222, ein Atom Plutonium-239 zu Uran-235. Die Abgabe von Alpha-Teilchen aus Atomkernen wird Alpha-Strahlung genannt.

Alpha-Strahlen können Atome oder Moleküle der Materie, die sie durchstrahlen, anregen. Dabei wird ein Elektron auf eine vom Atomkern weiter entfernte Schale "gehoben", und es nimmt Energie auf. Beim Zurückspringen in seine ursprüngliche Position gibt es die zugefügte Energie in Form von Strahlenquanten oder Photonen wieder ab.

Trennt das Alpha-Teilchen aus dem getroffenen Atom ein Elektron aus der Atomhülle ab, dann wird das durchstrahlte Atom zum positiv geladenen Ion. Das abgetrennte Elektron kann weitere Atome ionisieren. Es lagert sich schließlich an einem neutralen Atom ab, das damit zum negativen Ion wird.

Beim Anregen oder Ionisieren gibt das Alphateilchen Energie ab, so daß es normalerweise nach 4 bis 7 cm in der Luft so langsam geworden ist, daß es keine Veränderungen in Atomhüllen mehr hervorrufen kann. In Wasser und in Gewebe von Lebewesen ist die Reichweite nur 0,04 bis 0,08 mm. Schon ein Blatt Papier ist dicker und kann Alpha-Strahlung abschirmen.

Beta-Strahlung

Wandelt sich im Kern eines instabilen Atoms ein Neutron um in ein Proton und ein Elektron, dann bleibt das Proton im Kern, und das Elektron wird mit großer Geschwindigkeit aus dem Kern geschleudert. Das Elektron nennt man Beta-Teilchen, seine Abgabe aus dem Kern Beta-Strahlung. Auch dabei entstehen aus dem sich umwandelnden Atom Atome anderer Elemente.

Treffen Beta-Teilchen auf Materie, führt auch dies zu Anregung oder zu Ionisierung.

Im elektrischen Feld eines Atoms werden Beta-Teilchen abgebremst. Dabei geht Bewegungsenergie verloren, die in Form von Röntgenstrahlung abgegeben wird.

Die Reichweite von Beta-Teilchen liegt in Luft zwischen einigen Zentimeter bis mehrere zehn Meter. Mit Kunststoff und Leichtmetall wird die Beta-Strahlung abgeschirmt. Die gleichzeitig entstandene Röntgenstrahlung kann von einem Strahlenschirm aus Schwermetall, wie z.B. der Bleischürze beim medizinischen Röntgen abgeschirmt werden.

Kernspaltung und Neutronenstrahlung

Bei der spontanen Spaltung zerfällt der Atomkern eines instabilen Atoms von sich aus in zwei Bruchstücke, die selbst wieder Atomkerne sind. Dabei werden aus dem zerfallenden Kern zwei bis drei Neutronen und eine Menge Energie frei. Die induzierte Kernspaltung wird von außen veranlaßt. Ein Teilchen, z.B. ein Neutron, das durch Kernspaltung freigeworden ist, dringt von außen durch die Atomhülle zum Kern vor und spaltet ihn in zwei Bruchstücke, die ebenfalls Atomkerne sind. Die freigewordenen Neutronen können wiederum Atomkerne spalten, so daß es zu einer Kettenreaktion kommt.

Auf der Energie, die bei diesen Spaltprozessen frei wird, beruht die Wärmeproduktion in einem Atomreaktor zur Stromerzeugung.

Abbildung 22. Die durch ein Neutron hervorgerufene Kernspaltung des Uran-235, Entstehung von neuen Atomkernen und Abgabe weiterer Elektronen

Die bei der Spaltung enststehenden Bruchstücke nennt man auch anschaulich Spaltprodukte. Es können die verschiedensten Isotope als Spaltprodukte entstehen. Sehr viele von ihnen sind ebenfalls radioaktiv. Bei ihrem spontanen Zerfall entsteht ebenfalls Wärme, die Nachzerfallswärme, die für die Notwendigkeit, die Kühlbarkeit des Kerns aufrecht zu erhalten, eine so wichtige Rolle spielt. Die Spaltprodukte sind auch die Ursache für die Gefahren, die von radioaktiven Abfällen ausgehen.

In Luft hat Neutronenstrahlung eine Reichweite von einigen hundert Metern. Die Neutronen können ungehindert in die Körper von Lebewesen eindringen. Um eine Abschirmung zu erreichen, müssen die Neutronen mittels wasserstoffhaltiger Materialien, z.B. Wasser oder Paraffin, verlangsamt und anschließend eingefangen werden, z.B. durch Bor oder Cadmium. Dabei entsteht Gammastrahlung, die durch einen Bleischild abgeschirmt werden muß. In Atomkraftwerken werden statt solcher teuren, mehrschichtigen Neutronenschilde 2 m-dicke Schildwände aus Beton verwendet, in dessen Molekülaufbau auch viel Wasserstoff gebunden ist.

Gammastrahlung

Alpha-, Beta- und Neutronenstrahlung bestehen aus Teilchen, man nennt sie daher auch Korpuskularstrahlung. Dagegen sind Gammastrahlen energiereiche elektromagnetische Wellen. Sie entstehen immer dann, wenn ein angeregter Atomkern in einen energieärmeren Zustand übergeht. Unterschiedliche Energiezustände des Kerns ergeben sich durch die Anordnung der Protonen und Neutronen; dabei ist jedoch jeder Kern "bemüht", in einen möglichst energiearmen Zustand zu kommen. Atomkerne können Neutronen einfangen, wodurch sie meist instabil werden. Unter Aussendung von Gammastrahlung teilt sich der Kern in zwei geladene, stabile Teilchen. Da bei allen anderen Umwandlungen - Alpha-, Betazerfall und Kernspaltung - angeregte Atomkerne entstehen, tritt die Gammastrahlung meist gemeinsam mit den anderen Strahlenarten auf.

Durch Gammastrahlen kommt es in Materie zur Ionisation. Sie haben eine hohe Durchdringungstiefe, das heißt sie können dicke Materieschichten so lange ungeschwächt und wirkungslos durchqueren, bis sie irgendwo unvorhersehbar mit einem Elektron in Wechselwirkung treten. In der Luft haben sie eine Reichweite von über einem Kilometer. Durch dicke "Strahlenschilde" von einigen cm Blei können sie abgeschirmt werden.

Radioaktivität und Halbwertszeit

Für die verschiedenen Radionuklide ist die Zeit charakteristisch, in der sie zerfallen. Man nennt sie die Halbwertszeit. Sie gibt an, nach welcher Zeit die Hälfte einer Menge von Atomkernen derselben Art zerfallen sein wird. Das bedeutet aber nicht, daß in derselben Zeit die andere Hälfte der Atomkerne zerfällt. Vielmehr wird danach in denselben Zeitabschnitten jeweils wiederum die Hälfte der vorhandenen Atomkerne zerfallen. Es dauert also etwa 10 bis 20 Halbwertszeiten, bis man ein Radionuklid als aus der Umwelt verschwunden betrachten kann.

Element Halbwertszeit
Uran-238 4,468 Milliarden Jahre
Kalium-40 1,280 Milliarden Jahre
Plutonium-239 24.110 Jahre
Cäsium-137 30,17 Jahre
Jod-131 8,02 Tage
Strontium-90 28,5 Tage
Radon-220 55,6 Sekunden

Tabelle 6. Halbwertszeiten einiger Radionuklide

Für ein einzelnes Atom kann nicht vorausgesagt werden, wann es zerfallen wird. Ein Jod-131-Atom zum Beispiel kann in den nächsten zwei Sekunden oder aber erst nach 15 Tagen zerfallen. Mit der Halbwertszeit wird immer nur eine statistische Aussage über das Verhalten einer großen Zahl von Atomen desselben Isotops gemacht.

Nicht jeder beim radioaktiven Zerfall entstehenden Stoffe ist stabil. Auch viele der Zerfallsprodukte sind radioaktiv und zerfallen weiter. Zwar zerfällt z.B. das radioaktive Jod-131 in das stabile Edelgas Xenon-131. Jedoch wandelt sich etwa Radium-226 in das radioaktive Edelgas Radon-222 um. Die radioaktiven Isotope von Tellur-132 und Tellur-133 wandeln sich durch Beta-Zerfall in die entsprechenden Isotope Jod-132 und Jod 133 um.

Beim Zerfall mancher Isotope kommt es zu ganzen Zerfallsreihen, bei denen nacheinander Isotope mit sehr unterschiedlichen Halbwertszeiten entstehen, bis sich schließlich ein stabiles Isotop bildet.

Mit dem Zerfall von Radioisotopen nimmt im Lauf der Zeit natürlich auch die Strahlungsmenge ab, die sie an ihre Umgebung abgeben. Das nennt man das Abklingen der Strahlung.

Die Zahl der Zerfälle einer bestimmten Menge eines Isotops bezogen auf einen Zeitabschnitt bestimmt die Aktivität der radioaktiven Stoffe.

Die Einheit 1 Becquerel, abgekürzt Bq, gibt an, daß pro Sekunde 1 Zerfall eines radioaktiven Atoms stattfindet.

Eine Aktivität von 1 000 Becquerel bedeutet also, daß in einer Sekunde 1 000 radioaktive Zerfälle stattfinden. Dabei müssen nicht nur gleichartige Isotope zerfallen. Man hat dann die Aktivität aller gerade vorhandenen Radioisotope gemessen.

Das bedeutet, daß man durch bloße Aktivitätsmessung nicht ohne weiteres erkennen kann, was für radioaktive Stoffe vorliegen. Zur genaueren Feststellung der einzelnen radioaktiven Stoffe benötigt man auch Messungen der ausgesandten Strahlenarten, die für die einzelnen Isotope charakteristisch sind, oder auch chemische und andere Analysen.

Einige Messungen dauern zwischen einigen Minuten bis Stunden, für andere sind aufwendigere Meßmethoden erforderlich, die sogar mehrere Tage in Anspruch nehmen können.

Freisetzung von radioaktiven Stoffen bei Kernschmelzunfällen, Transport in die Umgebung und Belastungspfade

Die Prozesse, die im Verlauf eines Kernschmelzunfalles ablaufen, sind außerordentlich komplex. Während der Kernaufheizung und dem Schmelzen der Brennelemente werden große Anteile der radioaktiven Stoffe zunächst in den Primärkreislauf und später in den Sicherheitsbehälter freigesetzt. Es hängt von den jeweiligen Bedingungen ab, wieviele Mengenanteile der verschiedenen Radionuklide in die Umgebung transportiert werden. Als grober Anhaltspunkt können die Zahlenwerte aus der DRS-B in Tabelle 3 dienen.

Die Edelgase gehen keine chemischen Verbindungen ein. Sie können daher auch kaum durch Filter zurückgehalten werden. Sie entweichen bei Vorgängen wie Hochdruckkernschmelzen, Wasserstoffexplosion oder Dampfexplosion, bei denen frühzeitig der Sicherheitsbehälter versagt, vollständig aus der Anlage. Aber auch beim Niederdruckkernschmelzen mit spätem Überdruckversagen des Sicherheitsbehälters entweicht nach den Zahlenwerten der Tabelle 3 noch ein sehr großer Teil der Edelgase. Vergleichbar verhalten sich Aerosole wie Jod und Cäsium. Diese können bei weniger energiereich ablaufenden Unfällen aber auch teilweise im Containment oder den Rohrsystemen zurückgehalten werden, wie z.B. Tellur. Man geht davon aus, daß schwerer flüchtige Stoffe auch bei heftig ablaufenden Unfällen nur in kleinen Anteilen in die Umgebung gelangen, so daß sie bei Unfällen mit spätem Versagen des Sicherheitsbehälters nur wenig zur radioaktiven Belastung beitragen. Allerdings können bei Prozessen wie der Beton-Schmelze-Wechselwirkung auch Stoffe dort, wo sie sich bereits abgelagert hatten, wieder losgerissen werden und aus dem spät zerstörten Sicherheitsbehälter in die Umgebung transportiert werden.

Bei heftig verlaufenden Vorgängen wie Hochdruckkernschmelzen, Wasserstoffexplosion oder Dampfexplosion wird sehr viel Energie frei. Mit ihr werden die entweichenden radioaktiven Stoffe in mehrere hundert Meter Höhe in die Atmosphäre mitgerissen. Dort werden sie von den gerade herrschenden Luftströmungen erfaßt und als radioaktive Wolke mitgeführt. Gleichzeitig oder später austretende kühlere radioaktive Stoffe verbleiben in bodennäheren Luftschichten und können von kleinräumigen Windsystemen erfaßt werden, die durch das Bodenrelief wie z.B. benachbarte Höhenzüge beeinflußt werden.

Bis zu der Katastrophe von Tschernobyl hatte man nicht angenommen, daß bei einem Unfall tagelang radioaktive Stoffe austreten und durch wechselnde Windverhältnisse in unterschiedliche Richtungen transportiert werden könnnen.

Die Ausbreitung der radioaktiven Stoffe ist stark abhängig von Niederschlägen. Ohne Regen verbleiben die radioaktiven Nuklide lange in der radioaktiven Wolke. Regnet es, werden die Partikel aus der Wolke ausgewaschen und lagern sich am Boden und auf dem Bewuchs ab. Die Belastung dieser Region ist dann natürlich wesentlich höher als die, in der es nicht geregnet hat. Dafür ist die Belastung entfernterer Gebiete geringer, da ja ein größerer Teil der Radioaktivität bereits abgelagert wurde. Umgekehrt kann es dazu kommen, daß die Belastung in der Nähe der verunglückten Anlage vergleichsweise gering ist, während sie in größerer Entfernung besonders bei sehr heftigen Regengüssen durch den Auswaschungsprozeß aus der Wolke noch ziemlich groß sein kann. Wie die radioaktiven Stoffe sich schließlich bei der Ablagerung in einem Gebiet verteilen, ist stark abhängig von den Beziehungen zwischen den Luftbewegungen am Boden und Hindernissen wie Gebäuden oder Geländestufen oder -einschnitte. Auf offenen Flächen werden sie immer wieder aufgewirbelt. In windstillen Winkeln setzen die Stoffe sich ab, in Regenpfützen oder wasserführenden Rinnen werden sie zusammengeschwemmt. So erklären sich z.B. die großen Unterschiede in den heute noch meßbaren Mengen von Cäsium, das nach der Katastrophe von Tschernobyl in den Alpen abgelagert wurde. Ähnliches gilt aber schon für jede Gebäudegruppe.

Radioaktive Partikel lagern sich auf dem Boden, auf Gebäuden und dem Bewuchs ab, auch auf Kleidung und bloßen Körperteilen von Menschen, die sich im Freien aufhalten. Das nennt man Kontamination. Aus der Luft oder der Nahrung gelangen sie durch Inhalation beim Einatmen oder Rauchen oder durch Ingestion, nämlich durch Verschlucken beim Essen und Trinken, in den Körper, sie werden inkorporiert. Sie werden durch Stoffwechselprozesse nur zum Teil wieder ausgeschieden. Der andere Teil wird vom Körper resorbiert, das heißt in den Blutkreislauf oder das Lymphsystem aufgenommen. Dadurch können die radioaktiven Partikel in alle Teile des Körpers gelangen. Durch die Teilchen- oder die Wellenstrahlung, die von ihnen ausgesendet wird, werden im Zellgewebe von Lebewesen Schädigungen ausgelöst.

Abbildung 23. Belastungspfade bei der Freisetzung von radioaktiven Stoffen aus einem Atomkraftwerk

Für Menschen besonders gefährlich sind die Radionuklide, die durch die Stoffwechselprozesse wegen gleicher oder sehr ähnlicher chemischer Reaktionsweise anstelle von lebenswichtigen Elementen in die Organe eingebaut werden. Radioaktive Nuklide des Jod werden statt stabilen Jods in die Schilddrüse aufgenommen. Das ist besonders wichtig, weil in der Bundesrepublik die Schilddrüse sehr vieler Menschen ungenügend mit Jod versorgt ist. Strontium gerät anstelle von Calzium in die Knochen und Cäsium als Ersatz für Kalium ins Blut und in die Muskulatur.

Die Strahlenbelastung wird auch Exposition genannt. Die Wege der radioaktiven Stoffe aus dem Atomkraftwerk bis in den menschlichen Körper heißen dementsprechend Belastungs- oder Expositionspfade.

Für die Strahlenbelastung hat die Verweilzeit der Radionuklide im Körper eine gewisse Bedeutung. Man geht davon aus, daß in gleichen Zeitabschnitten gleiche Bruchteile des Radionuklids ausgeschieden werden; so kann man eine biologische Halbwertszeit festlegen. Für die Bewertung der Strahlenbelastung werden beide Halbwertszeiten berücksichtigt. Man spricht von der effektiven Halbwertszeit der einzelnen Radionuklide. Zum Beispiel würde ein Radionuklid mit einer biologischen Halbwertszeit von 10 Jahren bei einer physikalischen Halbwertszeit von 30 Sekunden nur in den ersten 300 bis 600 Sekunden auf das Gewebe einwirken.

Aber auch nach kurzer Einwirkung von Radioaktivität können dauerhafte Schädigungen im Zellgewebe bleiben.

Wenn ein radioaktiver Stoff den Körper verlassen hat, ist er damit nicht aus der menschlichen Umwelt verschwunden. Er gerät vielmehr in die Stoffkreisläufe. Seine Strahlenwirkung nimmt nur ab mit dem Abklingen.

Strahlenwirkung auf den menschlichen Körper

Wegen der Wirkungsweise von radioaktiver Strahlung im Körper ist in den offiziellen Texten, bei denen es um den Schutz vor Radioaktivität geht, von der "schädlichen Wirkung ionisierender Strahlen" die Rede.

Durch radioaktive Strahlung könnnen Menschen, Tiere und Pflanzen Schäden erleiden. Sie bewirkt in der durchstrahlten Materie hauptsächlich Ionisation und Anregung von Atomen. Dies ist die direkte Strahlenwirkung.

Hierdurch können Atome und Moleküle in den Zellen von Lebewesen zerbrechen. Die Bruchstücke der Moleküle, sogenannte "Radikale", reagieren chemisch äußerst schnell mit anderen Stoffen und wirken in der betroffenen Zelle als sehr starkes Zellgift. Dies ist die indirekte Strahlenwirkung.

Zusammen führen die direkte (physikalische) und indirekte (chemische) Strahlenwirkung zum biologischen Bestrahlungseffekt, der besonders die Zellkerne betrifft. Die bestrahlte Zelle stirbt entweder ab oder sie verhält sich anders als vorher.

Der menschliche Körper ist zwar in der Lage, das Absterben oder die Schädigung einer gewissen Anzahl von Zellen ohne gesundheitliche Folgen zu überstehen, aber das gilt nur sehr begrenzt. Bei größerer Schädigung durch starke Bestrahlung versagen die körpereigenen Reparatur- und Abwehrkräfte, und es kommt zu dauerhaften Gesundheitsschäden.

Die Schädigungen des Körpergewebes sind abhängig von der Strahlungsenergie, die der Körper aufgenommen hat.

Die Maßeinheit für die Wirkung der Strahlen auf Materie und Lebewesen ist die Energiedosis. Sie wird mit Gray, abgekürzt Gy, bezeichnet. Sie ist definiert als eine Strahlungsenergiemenge 1 Joule, die auf 1kg Materie übertragen wird. Die Formel dafür ist 1 Gray = 1 Joule/1kg. (Früher war als Maßeinheit für die Energiedosis ein Rad angesetzt. 1 Gray entspricht 100 Rad.)

Die verschiedenen Strahlenarten haben jedoch - selbst bei gleicher Energiedosis - unterschiedliche Wirkungen auf Lebewesen. Um dies zu berücksichtigen, wurde die Äquivalentdosis definiert. Um sie zu ermitteln, wird der Energiedosis je nach der Strahlenart ein sogenannter Qualitätsfaktor zugeordnet. Für Gamma- und Beta-Strahlung wird ein Qualitätsfaktor von 1 angenommen, für Neutronenstrahlung 10 und für Alphastrahlung 20. Für die Äquivalentdosis ist die Maßeinheit Sievert, kurz Sv, eingeführt worden. Schon relativ geringe Strahlenmengen lösen Schädigungen aus; deshalb findet man weit häufiger die Maßeinheit Millisievert oder mSv. (Früher galt als Maßeinheit für die Äquivalentdosis das Rem. 1 Sievert entspricht 100 Rem).

Treffen zum Beispiel Alpha-Strahlen mit der Energiedosis 1 Gray auf Zellgewebe, dann ergibt sich eine Äquivalentdosis von 20 Sievert. Bei einer Gamma- oder Beta-Bestrahlung von 1 Gray ist die Äquivalentdosis 1 Sievert. Das heißt: Bei gleicher Energiedosis rufen Alphastrahlen eine 20mal größere Schädigung hervor als Gammastrahlen.

Die Qualitätsfaktoren sind allerdings nur grobe Schätzwerte. Bei ihrer Festlegung wurde nicht berücksichtigt, daß die einzelnen Organe und Gewebebereiche unterschiedlich strahlenempfindlich sind.

Man kann also nicht direkt von der Anzahl der radioaktiven Zerfälle, die in Becquerel gezählt werden, Rückschlüsse ziehen auf die Energiedosis, gemessen in Gray, die auf das Körpergewebe einwirkt, und auf die Äquivalentdosis, die mit Hilfe eines sogenannten Qualitätsfaktors errechnet wird, die ungefähre Angaben liefert zum Ausmaß der zu erwartenden Gesundheitsschäden.

Da die einzelnen Organe und Gewebebereiche unterschiedliche Strahlenempfindlichkeiten aufweisen und z.T. nur einzelne Körperbereiche bestrahlt werden, z.B. nur die von Bekleidung nicht bedeckte Haut, unterscheidet man Ganzkörper-, Teilkörper- und Organdosis.

Die gesundheitlichen Schäden durch radioaktive Bestrahlung werden nach verschiedenen Gesichtspunkten eingeordnet. Unterschieden werden Früh- und Spätschäden.

Bei starker Strahleneinwirkung wird viel Körpergewebe zerstört. Die Menschen erleiden Frühschäden. Je nach dem Auftreten bestimmter Symptome sind gewisse Rückschlüsse möglich auf die Höhe der Bestrahlung, der die Menschen ausgesetzt waren. Das beginnt mit einem Gefühl der Abgeschlagenheit. Weitere Anzeichen sind Übelkeit und Erbrechen und Kopfschmerzen, Haarausfall, Hautverletzungen, Fieber. Nach Stunden bis Tagen kommt es zu Veränderungen des Blutbildes, Blutungen, Lähmungserscheinungen, Schädigung des Knochenmarks und des Immunsystems bis zu lebensbedrohlichen Zuständen. Diese Schäden werden auch als Strahlensyndrom oder als akute Strahlenkrankheit bezeichnet. Sie treten erst von einer gewissen Höhe der Strahlenbelastung an in Erscheinung. Ein Schwellenwert dafür wird angesetzt bei 200 bis 300 mSv. Je höher die Dosis, desto größer sind die Strahlenschäden.

Eine einmalige Ganzkörperdosis von 7000 mSv, die Symptome wie sehr heftiges Erbrechen und dauernde Kopfschmerzen verursacht, gilt ohne medizinische Behandlung als tödlich.

Die Menschen, die innerhalb einiger Wochen nach der Strahlenbelastung an diesen Schädigungen sterben, werden in den Risikoanalysen Frühtote genannt.

Aber auch bei geringeren Strahlenbelastungen entstehen im Körpergewebe Schäden. Ihre Auswirkungen führen jedoch erst viel später, nach Jahren oder Jahrzehnten, zu Erkrankungen. Deshalb werden diese Gesundheitsschäden Spätschäden genannt. Zu ihnen gehören Krebserkrankungen verschiedener Körperorgane und Leukämie.

Es gibt auch "nicht-bösartige" späte Erkrankungen, die auf Strahlenbelastung zurückgehen, wie Sterilität und Augenschädigungen, die aber auch eine erhebliche Beeinträchtigung für den Betroffenen darstellen. Für ihr Auftreten gibt es keinen Schwellenwert. Das heißt, daß sie bei minimaler Bestrahlung ausgelöst werden können und daß bei steigender Dosis die Zahl der erkrankenden Individuen aus der Bevölkerung, die der Bestrahlung ausgesetzt war, steigt.

Die Erkrankungen, die ein einzelner Mensch erleidet, werden als somatische Schäden bezeichnet.

Durch radioaktive Strahlung können aber auch die Chromosomen der Keimzellen betroffen sein. Es können Mutationen verursacht werden. Diese Schädigungen der Gene werden auf die Kinder und Nachkommen vererbt. Man nennt sie daher genetische Schäden.

Außerdem unterscheidet man die Gesundheitsschäden aufgrund von Radioaktivität nach der Häufigkeit, mit der sie nach der Bestrahlung auftreten werden. Man ver-wendet dazu Begriffe aus der Wahrscheinlichkeitsmathematik.

Als nichtstochastische Schäden werden die Strahlenwirkungen bezeichnet, die unmittelbar nach hoher Strahlenbelastung auftreten. Dazu gehören die akute Strahlenkrankheit mit allen ihren Symptomen, unter anderen auch Schädigungen des Knochenmarks und der Lunge, die bis zum Tode führen können, Hautschäden und Zerstörung von Schilddrüsengewebe. Diese Schäden lassen sich auf den Kermschmelzunfall zurückführen. Überlebende könnten daher Versicherungsansprüche stellen.

Die Schäden, die auch schon bei geringsten Strahlendosen eintreten können, werden auch als stochastische Schäden bezeichnet. Mit dem Ansteigen der Dosis nimmt hier nicht die Schadensschwere beim einzelnen Menschen zu, sondern die Wahrscheinlichkeit, daß in einer bestrahlten Bevölkerungsgruppe die Zahl der Geschädigten ansteigt. Weil man nicht voraussagen kann, welche Individuen erkranken werden, spricht man auch von "zufallsabhängigen" oder stochastischen Schäden. Dazu gehören die bösartigen Spätschäden Krebs und Leukämie und vererbbare genetische Schäden. Weil sie erst Jahre und Jahrzehnte nach der verursachenden Bestrahlung in Erscheinung treten, ist der direkte Zusammenhang zwischen Verursachung und Auswirkung der Schädigung beim einzelnen betroffenen Menschen nur sehr schwer nachzuweisen.

Wie wollen die Verantwortlichen für den Katastrophenschutz die von einem Unfall im Atomkraftwerk betroffenen Menschen schützen?

Angesichts dessen, daß schon durch eine recht geringe Freisetzung von radioaktiven Stoffen massive Gesundheitsschäden hervorgerufen werden können, muß für die Umgebung von Atomkraftwerken eine Katastrophenschutzplanung vorbereitet sein. Grundlage für die konkreten Katastrophenschutzpläne für die einzelnen Atomkraftwerksstandorte sind die "Rahmenempfehlungen für den Katastrophenschutz in der Umgebung kerntechnischer Anlagen", die nach Beratungen in der Innenministerkonferenz und im Länderausschuß für Atomkernenergie am 1. Dezember 1988 verabschiedet wurden und am 13. Januar 1989 vom Bundesumweltministerium bekannt gemacht wurden. Damit wurden ältere Empfehlungen, die in den siebziger und frühen achtziger Jahren erarbeitet worden waren, ersetzt. Soweit wie möglich soll in der ganzen Bundesrepublik nach gleichen Grundsätzen verfahren werden.

Die Bevölkerung soll schon darauf vorbereitet sein, was die für den Katastrophenschutz Verantwortlichen bei einem Unfall von ihr erwarten. Dem dienen Informationsbroschüren, die an alle Haushalte in der Umgebung eines Atomkraftwerks verteilt werden müssen. Ein Beispiel dafür ist das Heft "Notfallschutz. Ein Ratgeber für die Bevölkerung in der Umgebung des Kernkraftwerkes Emsland". Es enthält Aussagen, die manche der Bestimmungen der Rahmenempfehlungen anschaulicher machen.

In einer Mitteilung der EU zur Erläuterung der Richtlinie 89/618/Euratom vom 19. April 1991 wird mehrfach betont, daß der Erfolg von vorher geplanten Katastrophenschutzmaßnahmen von der Offenheit der Information und vom dadurch zu schaffenden Vertrauen der Bevölkerung abhängig ist. Den Betreibern von Atomanlagen wird nahegelegt, sich den Grundsatz TRANSPARENZ SCHAFFT VERTRAUEN zu eigen zu machen (Großschreibung im Original, BIU).

Verantwortlichkeiten für den Katastrophenschutz

Der Katastrophenschutz in der Umgebung von Atomkraftwerken wird von den nach Landesrecht für Katastrophenschutzmaßnahmen zuständigen Behörden wahrgenommen. In Niedersachsen sind dies das Landesinnenministerium und die Oberkreisdirektoren der Landkreise, die nach den Planungen im Fall eines Atomkraftwerksunfalls als betroffen gelten. Auch das Landesumweltministerium ist einbezogen.

Vorrang hat bei der Katastrophenschutzplanung das Ziel, unmittelbare Folgen der Auswirkungen von Atomkraftwerksunfällen auf die Bevölkerung zu verhindern oder zu begrenzen. Mit Sofortmaßnahmen des Katastrophenschutzes sollen insbesondere Frühschäden und hohe individuelle Erkrankungsrisiken gemindert werden.

Ob bei einem Unfallereignis in einem Atomkraftwerk Katastrophenvoralarm oder Katastrophenalarm veranlaßt werden muß, kann naturgemäß zuerst die Bedienungsmannschaft in der Anlage selbst erkennen. Deshalb ist der Betreiber verpflichtet, in solchen Fällen die Stelle zu alarmieren, die nach dem Einsatzplan Alarmmeldungen entgegennehmen soll. Er muß unverzüglich auch alle Angaben übermitteln, die für die Entscheidungen der Katastrophenschutzleitung benötigt werden.

Damit ist die Katastrophenschutzbehörde abhängig von der Bereitschaft der Bedienungsmannschaft und des Betreibers des Atomkraftwerks, zuzugeben, daß die Anlage in einen zumindest bedenklichen, wenn nicht höchst bedrohlichen Zustand geraten ist.

Daß die Betreiber sich dann an den Grundsatz TRANSPARENZ SCHAFFT VERTRAUEN halten werden, lassen die bisherigen Erfahrungen der Öffentlichkeit mit der Mitteilsamkeit von Atomkraftwerksbetreibern nicht gerade erwarten. Aus der Sicht der Bevölkerung kann man daher die unvermeidbare Abhängigkeit der Auslösung von Katastrophenschutzmaßnahmen von der Verpflichtung des Verursachers nur mit großer Skepsis betrachten.

An jedem Standort eines Atomkraftwerks ist ein Katastrophenschutzplan für die Umgebung aufgestellt worden.

Darin sind zuerst einmal Bestimmungen getroffen über die Funktionen und die Zusammenarbeit der verschiedenen zuständigen Stellen. Die Katastrophenschutzleitung liegt bei den Landkreisbehörden. Sie verfügt aber nicht über die technischen und radiologischen Kenntnisse, die nötig sind, um die Lage zutreffend beurteilen und über die erforderlichen Schutzmaßnahmen entscheiden zu können. Das ist nur mit fachlicher Beratung durch einen Strahlenschutzsachverständigen möglich. Bis dieser an dem Ort eingetroffen ist, wo die Lage erarbeitet und bewertet werden soll - in der Kreisbehörde oder auch in einer der zuständigen Landesbehörden - übernimmt diese Aufgabe eine Verbindungsperson des Anlagenbetreibers.

Hilfsdienste wie Feuerwehr, Rettungs- und Sanitätsdienste, Polizei- und Bundeswehreinheiten und zu Hilfeleistungen verpflichtete Berufsgruppen, z.B. auf Strahlenmedizin spezialisierte Ärzte, müssen in die Vorbereitungen für den Katastrophenschutz eingebunden werden.

Vorbereitete Katastrophenschutzmaßnahmen

Zur Vorbereitung und Durchführung von Maßnahmen ist die Umgebung des Atomkraftwerks in drei Zonen eingeteilt.

  1. Eine Zentralzone umschließt die Anlage unmittelbar in einem Abstand von 2 km.
  2. Die Mittelzone umschließt die Zentralzone kreisförmig mit einem Radius von 10 km.
  3. Die Außenzone umschließt die Mittelzone, sie hat einen Radius von 25 km. Die Mittelzone und die Außenzone sind in Sektoren von 30° unterteilt.

Diese Zonen sind in Einsatzkarten festgelegt.

In der Abbildung 24 haben wir diese Zonen in eine Karte der Umgebung des Atomkraftwerks Grohnde eingezeichnet. Grohnde hat eine relativ typische Lage. In der nächsten Umgebung der Anlage besteht die Besiedlung aus relativ kleinen Ortschaften. Allerdings wird im Norden die Stadt Hameln, die ca. 10 000 Einwohner hat, vom 10 km-Kreis weitgehend eingeschlossen. Im Südosten liegt der Ort Bodenwerder noch innerhalb dieses Kreises, im Westen grenzt das Kurbad Pyrmont unmittelbar daran. Der 25 km-Kreis schließt große Teile des Weserberglands ein.

Die BIU als hannoversche Gruppe betrachtet es als nicht gerade beruhigend, daß das Stadtzentrum Hannovers mit dem Hauptbahnhof nur 45 km vom Atomkraftwerk Grohnde entfernt ist. Faßt man den Kreis mit 50 km etwas weiter, so daß er das Stadtgebiet umschließt, dann liegen in einem 30°-Sektor von Grohnde aus gesehen Orte, die zusammen eine Wohnbevölkerung von ungefähr 700 000 Menschen haben.

Für jede der drei Zonen müssen Maßnahmen vorbereitet werden. In der Mittelzone soll der Katastrophenschutz mit vorsorglichen Maßnahmen reagieren können. Das sind die Maßnahmen, die wir schon kennen, vom Verbleiben im Haus bis zu Evakuierung. In der Außenzone sollen nur Meß- und Probenahmeorte festgelegt und Alarmierungen vorbereitet werden.

Nach den Rahmenempfehlungen sind "außerhalb der benannten Zonen ... besondere - auf die kerntechnische Anlage bezogene - Katastrophenschutzplanungen grundsätzlich nicht erforderlich". Hier gilt nur die allgemeine Katastrophenschutzplanung, die auch bei anderen katastrophalen Ereignissen angewendet wird.

Es sind mehrere Alarmstufen festgelegt.

Katastrophenvoralarm wird ausgelöst, wenn im Atomkraftwerk ein Ereignis eingetreten ist, bei dem aufgrund des Anlagenzustandes nicht ausgeschlossen werden kann, daß Auswirkungen auf die Umgebung eintreten können, bei denen Katastrophenalarm ausgelöst werden muß, das heißt, wenn mit einer Überschreitung der Eingreifrichtwerte gerechnet werden muß. Weitere an den Katastrophenschutzmaßnahmen zu beteiligende Stellen werden alarmiert, Meßeinrichtungen vorbereitet und benachbarte Kreisbehörden unterrichtet, falls diese betroffen sein können.

Katastrophenalarm wird ausgelöst, wenn bei einem Unfall in dem Atomkraftwerk eine gefahrbringende Freisetzung radioaktiver Stoffe in die Umgebung bereits festgestellt ist oder droht, also kurz bevor steht.

Die Katastrophenschutzleitung wird alarmiert und tritt zusammen.

Die Meßdienste müssen eingesetzt werden, um nach vorbereitetem Plan zu messen. Die Meßergebnisse von Direkt-Messungen und Proben müssen unverzüglich dem Fachberater mitgeteilt werden, der für die Beurteilung der Gefährdung und der möglichen Schutzmaßnahmen zuständig ist.

In Abhängigkeit von den Wetterbedingungen wird das gefährdete Gebiet festgelegt, wobei die Zonen und Sektoren zugrundgelegt werden. Welches Gebiet tatsächlich betroffen ist, muß anhand der Meßergebnisse bestätigt werden.

Gemessen und durch Probenanalyse nachgewiesen werden müssen noch während der Freisetzungsphase die Dosisleistung der Strahlung und die Art und Konzentration radioaktiver Stoffe in der Luft, damit die vordringlichen Maßnahmen zur Abwehr der akuten Gefährdung der Bevölkerung eingeleitet werden können. Später werden in Hinsicht auf weitere Maßnahmen Messungen vorgenommen zur Ablagerung auf der Oberfläche und auf dem Bewuchs, wichtig z.B. wegen der landwirtschaftlichen Produktion, zur Konzentration in der Frischmilch, die die wichtigste Kleinkindernahrung ist, und im Oberflächenwasser, vom dem aus radioaktive Stoffe ins Trinkwasser geraten können.

Abbildung 24. Einteilung der Umgebung eines Atomkraftwerks in Zonen für die Katastrophenschutzplanung, am Beispiel des Atomkraftwerks Grohnde bei Hameln.

Die Hilfsdienste zur Unterstützung der Bevölkerung und zur medizinischen Betreuung müssen kurzfristig organisiert werden. Selbstverständlich sollen auch Behörden in angrenzenden Gebieten unterrichtet werden, damit sie in ihrem Bereich entsprechende Maßnahmen durchführen können.

Zu den Maßnahmen, die durch Katastrophenalarm ausgelöst werden müssen, gehört auch die Warnung und Unterrichtung der Bevölkerung.

Ein einminütiger Sirenenheulton soll die Bevölkerung auf die bedrohliche Situation aufmerksam machen. Danach soll sie auf Radiodurchsagen achten.

Eine schnelle, umfassende und eindeutige Unterrichtung über die jeweilige Situation und die Schutzmaßnahmen, die die Katastrophenschutzleitung für angemessen hält, ist notwendig, weil nur dann falsche Reaktionen der Bevölkerung verhindert können und ihre Mitwirkung, die bei der Durchführung von Schutzmaßnahmen erforderlich ist, erreicht werden kann.

Es müssen die Maßnahmen in Gang gesetzt werden, durch die die Bevölkerung vor akuten Gefährdungen geschützt werden soll. Ihre Einleitung und Durchführung ist abhängig von der Einschätzung, welche Dosisrichtwerte erreicht oder überschritten werden. Sie können im einzelnen erst bei näherer Kenntnis über den Zustand der Anlage und nach Bewertung der Gefährdungssituation veranlaßt werden, also nicht eher, als die Katastrophenschutzleitung aufgrund der Beurteilung durch den Fachberater entscheiden konnte, was zu tun sei.

Die Dosisrichtwerte für das Ergreifen von frühen Schutzmaßnahmen beziehen sich darauf, was für eine Belastung innerhalb von 7 Tagen bei Daueraufenthalt im Freien zu erwarten ist. Deren Auswirkungen sollen durch die jeweilige Maßnahme verringert werden. Wir haben sie in Tabelle 7 wiedergegeben.

Man sollte diese Dosiswerte mit denen vergleichen, die in der Strahlenschutzverordnung (StrSchVO) für den Normalbetrieb von Atomkraftwerken festgelegt sind. Für die Normalbevölkerung gilt - noch -, daß unmittelbar außerhalb des Zauns eines Atomkraftwerks die Ganzkörperdosis höchstens 1,5 mSv pro Jahr erreichen darf. Im Mai 1996 sind von Euratom neue Strahlenschutznormen für die EU verabschiedet worden. Danach muß die zulässige Strahlendosis für die Normalbevölkerung auf 1,0 mSv pro Jahr gesenkt werden. Vom Bundesumweltministerium ist bisher im Juli 1998 nur angekündigt worden, daß diese Empfehlung auch in deutsches Recht umgesetzt werden soll.

Die Katastrophenschutzleitung soll sich bei der Festlegung des aktuellen Eingreifwerts an der Durchführbarkeit der Maßnahmen orientieren. Der untere Dosisrichtwert gilt nur als Empfehlung zum Handeln. Beim Erreichen des oberen Richtwerts ist die Behörde zum Handeln verpflichtet.

Mit der Aufforderung an die Menschen zum Verbleiben im Haus und zum Aufsuchen möglichst innenliegender Räume sollen die Auswirkungen vermindert werden, die sich aus der Direktstrahlung der durchziehenden Wolke und dem Einatmen der in der Luft mitgetragenen Stoffe ergeben.

 


Dosis in mSv

 

Ganzkörper

(äußere Bestrahlung und Inhalation)

Schilddrüse (Inhalation)

Lunge oder jedes bevorzugt bestrahlte Einzelorgan (äußere Bestrahlung und Inhalation)mit Ausnahme der Haut

Maßnahme

Unterer / Oberer

Richtwert

Unterer / Oberer

Richtwert

Unterer / Oberer

Richtwert

Verbleiben im Haus

5 / 50

50 / 250

50 / 250

Einnahme von Jodtabletten

-- / --

200 / 1.000

-- / --

Evakuierung

100 / 500

300 - 1 500

300 / 1.500

Tabelle 7. Dosisrichtwerte für Maßnahmen, durch die die Bevölkerung vor akuten Gefährdungen durch einen Atomkraftwerksunfall geschützt werden soll

Der untere Dosisrichtwert für "Verbleiben im Haus" ist mit 5 mSv so festgelegt, daß nach herrschender Meinung das zusätzliche Strahlenrisiko als gering einzuschätzen ist im Vergleich mit der natürlichen Strahlenbelastung in der Bundesrepublik Deutschland. Diese variiert regional erheblich zwischen 1 und 6 mSv pro Jahr. Demgegenüber ist eine zusätzliche Belastung von 5 mSv innerhalb einer Woche, selbst wenn sie durch Schutzmaßnahmen vermindert wird, gewiß nicht gering.

Ob die Aufforderung zum Verbleiben im Haus bei einem Unfall im benachbarten Atomkraftwerk von der Bevölkerung schon als einschneidende Maßnahme empfunden wird, ist bisher nicht diskutiert worden.

Die Anordnung einer Evakuierung kann zwei unterschiedliche Ziele haben. Wäre vor dem Durchzug der Wolke noch genügend Zeit, dann könnte für die Bevölkerung das Verlassen des gefährdeten Gebiets besseren Schutz bedeuten. Sind aber die weiteren Bedingungen für den Verlauf des Unfalls noch nicht vorauszusehen, dann kann z.B. durch Änderung der Wetterbedingungen eine frühzeitige Evakuierung gegenüber dem Aufenthalt in den Häusern auch neue Gefährdungen für die Bevölkerung bringen.

Mit einer Evakuierung nach dem Durchzug der Wolke soll erreicht werden, daß die Bevölkerung vor den Auswirkungen der auf dem Boden abgelagerten Stoffe geschützt wird.

Zu einer Evakuierung wegen eines Unfalls in einem Atomkraftwerk gehören weitere Maßnahmen.

Durch Verkehrsbeschränkungen soll vermieden werden, daß Menschen in das verstrahlte Gebiet hineingeraten.

An anderen Orten müssen Räume wie Turnhallen oder Schulen zur Verfügung stehen, in denen sich die Menschen aufhalten sollen, die ihre Wohnungen verlassen mußten.

Die betroffenen Menschen selbst müssen sich darauf einrichten, daß sie mindestens zwei bis drei Tage nicht nach Hause zurückkehren sollen. Wer nicht gerade bei der Arbeit ist, soll Notgepäck für sich und seine Angehörigen packen, dabei Ersatzkleidung, Papiere und wichtige Medikamente nicht vergessen. Wohnung oder Arbeitsplatz sollen gegen Schäden während der Abwesenheit gesichert werden durch Schließen von Gas- und Wasserhähnen, Ausschalten von Elektrogeräten und Löschen von offenem Feuer. Landwirte sollen ihr Vieh in den Stall bringen und mit Futtervorrat versorgen. Falls die Kinder in der Schule oder im Kindergarten sind, sollen die Eltern sich auf die Schutzpflicht der Schul- oder Kindergartenleitung verlassen, bis die Behörden später in der Lage sind, das Zusammenkommen zu organisieren. Die Evakuierung von Menschen, die in Heimen untergebracht sind, muß von den Heimleitungen und den Hilfsdiensten organisiert werden.

Weil damit gerechnet werden muß, daß Menschen beim Aufenthalt außerhalb von Gebäuden zumindest kontaminiert wurden, müssen außerhalb des Evakuierungsgebiets Notfallstationen eingerichtet werden, die von allen Personen aufgesucht werden sollen, die aus dem betroffenen Gebiet kommen. Sie sollen sich dort durch Kleiderwechsel, gründliches Waschen und Duschen dekontaminieren lassen. Das soll nicht nur ihrem eigenen Schutz dienen, sondern auch das Verschleppen von radioaktiven Stoffen in bisher nicht belastete Gebiete verringern. Ärzte und medizinische Helfer sollen ihren Gesundheitszustand beurteilen. Die ärztliche Leitung muß ein Strahlenschutzarzt haben, der die frühen Symptome der Strahlenkrankheit beurteilen kann. Er muß entscheiden, ob ein Betroffener eine Versorgung braucht, die nur in einem dafür eingerichteten Spezialkrankenhaus geleistet werden kann. Dabei kann nur eine grobe Sichtung erfolgen, ob Menschen Anzeichen von Strahlenfrühschäden haben. Weitergehende medizinische Behandlung ist in der Notfallstation nicht möglich. Auch erst Tage später in Erscheinung tretende Schäden, die auf akute Bestrahlung zurückgehen, können hier nicht festgestellt werden. Für schwer strahlengeschädigte Personen stehen in der Bundesrepublik nur etwa 40 Betten bereit.

Man hofft, innerhalb von 24 Stunden in einer Notfallstation etwa 1.000 Personen versorgen zu können.

Bei der Festlegung eines aktuellen Eingreifwertes zwischen dem unteren und dem oberen Dosisrichtwert für die Evakuierung soll die Katastrophenschutzleitung die Zweckmäßigkeit der durchzuführenden Maßnahmen berücksichtigen. Je niedriger der Eingreifrichtwert ist, zu dem man sich entscheidet, umso weiter reicht das Evakuierungsgebiet und umso größer ist die Zahl der Personen, die evakuiert werden müssen. Bei der Einhaltung des niedrigen Dosisrichtwerts kann die Durchführung der Evakuierungsmaßnahmen schwieriger oder "weniger zweckmäßig" werden. Bei einer größeren Gefährdung wird also eine höhere Belastung der Bevölkerung hingenommen.

Evakuierungen sind auch unter den Bedingungen des allgemeinen Katastrophenschutzes bei manchen Anlässen notwendig. Zum Beispiel wurden 1994 in Ludwigshafen 15.000 Menschen evakuiert; das wurde als die bis dahin größte Evakuierung in der Bundesrepublik bezeichnet. Sie wurde wegen der Entschärfung einer Bombe aus dem zweiten Weltkrieg notwendig, um die Menschen im Fall des Mißlingens vor der Sprengwirkung der Bombe zu schützen. Für die Entschärfung selbst reichte eine Stunde aus. Daß diese Maßnahme nur kurze Zeit in Anspruch nahm, wurde im wesentlichen mit dem kooperativen Verhalten und der Besonnenheit der Einwohner begründet. Man darf aber nicht übersehen, daß eine solche Aktion in Ruhe vorbereitet werden kann und daß die Menschen danach ohne weitere Gefährdung in ihre Wohnungen zurückkehren können.

Verglichen mit dieser Aktion stellt sich eine Evakuierung aufgrund eines Atomkraftwerksunfalls, wie sie sich aus den Anweisungen der Rahmenempfehlungen ergibt, als eine Maßnahme heraus, die tief in die Lebensverhältnisse aller Betroffenen einschneidet.

Die radioaktiven Stoffe, die sich infolge eines Kernschmelzunfalls in der Luft befinden, gelangen in nicht unerheblicher Menge durch Einatmen in den Körper. Dabei nehmen die radioaktiven Isotope von Jod eine Sonderstellung ein, weil sie in die Schilddrüse eingebaut werden.

Über die Probleme, die damit verbunden sind, informiert neben den Rahmenempfehlungen auch eine Empfehlung der Strahlenschutzkommission SSK, die ähnlich wie die Reaktorsicherheitskommission die Funktion eines Beratergremiums der Bundesregierung hat, vom 1. August 1996.

Bei sehr hoher Strahlenbelastung durch radioaktives Jod treten Frühschäden auf, die als relativ harmlose Störungen gelten, wie z.B. eine vorübergehende Schilddrüsenentzündung. Ausschlaggebend ist aber, daß radioaktives Jod Schilddrüsenkrebs auslösen kann. Dabei sind Kinder und Jugendliche besonders gefährdet, je jünger, desto mehr.

Gegen die Aufnahme von Radiojod mit der Nahrung kann sich die Bevölkerung durch den Verzicht auf Frischgemüse und Milch wirkungsvoll schützen. Sie muß nur die Warnung der Katastrophenschutzleitung vor dem Verzehr bestimmter Lebensmittel befolgen.

Die Vermeidung des Einatmens von radioaktivem Jod ist wesentlich schwieriger. Das Verbleiben im Haus bietet einen gewissen Schutz.

International gilt als wirkungsvolle Schutzmaßnahme die Einnahme von Jodtabletten mit stabilem Jod kurz vor der möglichen Aufnahme des radioaktiven Jods. Durch diese Jodblockade soll die Anreicherung des radioaktiven Jods in der Schilddrüse und die Strahlenbelastung weitgehend vermindert werden. Im Bedarfsfall sollen betroffene Bevölkerung und Einsatzkräfte Jodtabletten möglichst frühzeitig erhalten. Die Jod-blockade hat nur dann einen gewissen Erfolg, wenn sie rechtzeitig vorgenommen werden kann. Gegen die Aufnahme anderer radioaktiver Stoffe in den Körper oder gegen Bestrahlung des Körpers von außen schützen Jodtabletten nicht.

Die Einnahme von Jodtabletten kann aber unerwünschte Nebenwirkungen haben. Das gilt besonders in Gebieten, in denen die Bevölkerung normalerweise nicht genug Jod mit der Nahrung aufnimmt. Zu diesen Jodmangelgebieten gehört auch die Bundesrepublik.

Anzeichen für Jodmangel gibt es in der Bundesrepublik bei etwa 40% und 60% der Jugendlichen. Bei Kindern und Jugendlichen gilt das Einnehmen der notwendigen Jodmenge als relativ unproblematisch. Besteht aber der Jodmangel schon länger, kommt es häufig zu einer Störung des Jodstoffwechsels der Schilddrüse, die man als "funktionelle Autonomie" bezeichnet. Man nimmt an, daß sie bei etwa 10% der Personen, die älter als 40 bis 50 Jahre sind, vorliegt. Bei diesen kann es durch die Jodblockade zu schwerer und kaum beherrschbarer Schilddrüsenüberfunktion, auch Hyperthyreose genannt, kommen. Sie wirkt sich aus als eine Art Übersteuerung des Kreislaufs, die sich als Hektik, Nachlassen der Konzentrationsfähigkeit und der Urteilsfähigkeit zeigt. Weil ein vorhandener Jodmangel beim betroffenen Menschen selbst nicht unbedingt mit Krankheitszeichen verbunden zu sein braucht, kann man kaum vorhersagen, wer unter den Nebenwirkungen der Jodblockade leiden wird.

Bei echten Jodüberempfindlichkeiten kann die Einnahme von Jod sogar lebensbedrohliche Zustände hervorrufen.

Mit diesen Jodunverträglichkeiten waren in den Rahmenempfehlungen die hohen Dosisrichtwerte mit 200 und 1 000 mSv für die Einnahme von Jodtabletten begründet worden.

Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat 1989 nach den Erfahrungen mit der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl neue Empfehlungen zur Jodblockade herausgegeben. Es hat sich gezeigt, daß die Häufigkeit von Schilddrüsenkrebs bei Kindern auch in einigen hundert Kilometer weit entfernten Gebieten Weißrußlands und der Ukraine deutlich angestiegen ist. Man hatte bis dahin nicht erwartet, daß es auch fern vom Unfallort zu nennenswerter Aufnahme von radioaktivem Jod und einer dadurch bedingten Steigerung der Krebshäufigkeit bei Kindern kommen kann. Die WHO hat daher als Dosisrichtwerte für die Jodblockade 4 mal niedrigere Werte vorgeschlagen als sie bisher in der Bundesrepublik gültig waren. Die Strahlenschutzkommission hat sich dem angeschlossen und ebenfalls diese Werte von 50 und 250 mSv empfohlen. Außerdem empfiehlt sie, organisatorische Maßnahmen zur Jodblockade auch im Fernbereich von Atomkraftwerken zu planen.

Auch dem Vorschlag der WHO, wegen der Nebenwirkungen der Jodblockade vorgeschlagen, die Menge des Jods für diese Maßnahme erheblich zu reduzieren, hat die SSK sich angeschlossen. Wegen der bei zunehmendem Alter größeren Häufigkeit der funktionellen Autonomie wird nun die Jodblockade bei Personen über 45 Jahren nicht mehr empfohlen. Man geht dabei davon aus, daß sich bei ihnen ein Schilddrüsenkrebs nicht mehr bis zum Endstadium entwickeln wird , nimmt aber zugleich in Kauf, daß Ältere, die sich bei einem Unfall mit Freisetzungen im Nahbereich eines Atomkraftwerks aufhalten, vorübergehende Gesundheitsstörungen erleiden werden.

Einen weiteren Vorteil sieht die SSK bei der Angleichung der Bedingungen für die Jodblockade an die internationalen Empfehlungen darin, daß es für die Bevölkerung schwer verständlich ist, wenn z.B. bei einem Reaktorunfall in Frankreich - Cattenom oder Fessenheim - die dortige Bevölkerung Jodtabletten erhält, die nur wenige Kilometer entfernt lebende deutsche Bevölkerung wegen höherer Eingreifrichtwerte jedoch nicht.

Im übrigen ist man in Frankreich wegen der Nebenwirkungen weit weniger zimperlich. An die Bevölkerung im Umkreis um Atomkraftwerke sind Jodtabletten bereits verteilt worden.

In den Rahmenempfehlungen kommt die Widersprüchlichkeit der Katastrophenschutzmaßnahme Jodblockade besonders da zum Ausdruck, wo betont wird, daß allein die Behörde ausreichende Kenntnis von der Situation hat, die über Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit der Jodblockade entscheiden kann. Man soll sich nicht selbst vorsorglich mit einem Vorrat an Jodtabletten versehen. Die Jodtabletten sollen nur auf Weisung der Katastrophenschutzleitung nach öffentlicher und besonderer Aufforderung eingenommen werden, da eine ungezielte und unkontrollierte Einnahme auch die Möglichkeit von unerwünschten Nebenwirkungen erhöht.

Die Bevölkerung wird über die vorgesehene Schutzmaßnahme informiert, erhält Anweisungen, wann, wo und wie die Ausgabe der Tabletten erfolgt und wann sie einzunehmen sind.

Durch diese strengen Anweisungen zur Einnahme von Jodtabletten wird die weitgehende Abhängigkeit der betroffenen Bevölkerung von den Entscheidungen der Katastrophenschutzbehörde in besonders drastischer Weise deutlich. Diese Schutzmaßnahme schneidet tief in das Grundrecht des medizinischen Selbstbestimmungsrechts der einzelnen Personen ein, das abgeleitet ist aus dem Grundrecht auf Schutz der körperlichen Unversehrtheit.

Die Katastrophenschutzleitung muß sich auch darum kümmern, daß die Hilfskräfte, die draußen im Gelände arbeiten müssen, nicht zu hoch verstrahlt werden. Haben sie eine "Umkehrdosis" von 100 mSv aufgenommen, müssen sie vom Einsatz zurückgerufen werden. Auch für ihre Dekontamination und die ihrer Fahrzeuge muß gesorgt werden.

Bei allen frühen Katastrophenschutzmaßnahmen gegen Strahlenschäden muß beachtet werden, daß die Bevölkerung durch sie nicht mehr vor den Folgen von bereits aufgenommener Direktstrahlung und radioaktiven Stoffen geschützt werden kann. Ihre Schutzwirkung kann daher nur begrenzt sein.

Wenn damit gerechnet werden muß, daß erhebliche Mengen radioaktiver Stoffe freigesetzt werden oder schon freigesetzt wurden und Boden und Pflanzenbewuchs kontaminieren, muß auf die unmittelbare Verwertung frisch geernteter Nahrungsmittel verzichtet werden, schon ehe Meßergebnisse vorliegen. Das trifft nicht nur die Kleingärtner, die für sich privat ein bißchen Gemüse ziehen, sondern auch die Landwirte, die sich auf Gemüseanbau spezialisiert haben. Auch die Milchviehhalter, die heute ihre Kühe meistens auf der Weide halten, sind betroffen. Man verspricht ihnen nur, daß später, wenn genauere Belastungsdaten vorliegen, Regelungen zur Verwertung von Lebensmitteln ergehen können. Man wird unter Berücksichtigung der Halbwertszeiten der belastenden radioaktiven Stoffe Lagerfristen vorschlagen, in denen die Produkte nicht auf den Markt kommen dürfen, bis die Radioaktivität abgeklungen ist.

Wenn die Meßergebnisse zeigen, daß in einem Gebiet nach einem Kernschmelzunfall längerfristig mit einer hohen Strahlenbelastung gerechnet werden muß, kommt die Maßnahme Umsiedlung in Betracht. Da es kaum möglich ist, größere Bodenflächen zu dekontaminieren, muß damit gerechnet werden, daß radioaktive Stoffe mit dem Staub vom Boden wieder in die Luft aufgewirbelt werden.

Die Radionuklide, die dabei beachtet werden müssen, sind die mit längeren Halbwertszeiten. Von Jod-131 mit der Halbwertszeit von etwa 8 Tagen geht voraussichtlich nach drei bis sechs Monaten nicht mehr die Hauptgefährdung aus. Nun treten bei der Ermittlung der Dosisrichtwerte neben anderen langlebigen Radionukliden Cäsium-137 und Strontium-90 in den Vordergrund, die Halbwertszeiten von ungefähr einem Monat haben, deren Auswirkungen über längere Zeiträume daher berücksichtigt werden müssen. Deshalb wird den Dosisrichtwerten für Umsiedlung eine Ganzkörperdosis im ersten Jahr durch Bodenstrahlung zugrundegelegt.

Ganzkörperdosis im ersten Jahr (in mSv)
durch Bodenstrahlung

unterer Richtwert

oberer Richtwert

50

250

Tabelle 8. Dosisrichtwerte für die Umsiedlung

Die Strahlenbelastung kann so hoch sein, daß das betroffene Gebiet über Jahrzehnte hin als nicht bewohnbar gelten muß. Zahllose Menschen werden dauerhaft aus ihren Lebensumständen gerissen. Sie verlieren ihre materielle Existenzgrundlage aus Löhnen oder Unternehmenserträgen, denn auch gewerbliche Produktion und landwirtschaftliche Nutzung sind in dem Gebiet nicht mehr möglich.

Über die Rückkehr in ein von der Umsiedlung betroffenes Gebiet heißt es in den Rahmenempfehlungen, daß darüber auch unabhängig von dem unteren Dosisrichtwert von 50 mSv Ganzkörperdosis pro Jahr "unter Abwägung der Risiken und der Kosten für den weiteren Verzicht auf die normale Nutzung des betroffenen Gebietes auf der Basis der gemessenen Dosisleistung entschieden" werden müsse. Dann geht es um das politische Problem, wie das Interesse der dort angesiedelten Unternehmen an der Fortführung ihrer Produktion und die Berücksichtigung einer noch vorhandenen Strahlenbelastung in ihrem Verhältnis zueinander bewertet werden.

Wir wollen nicht unerwähnt lassen, daß in den Rahmenempfehlungen auch davon die Rede ist, daß Unfälle in Atomkraftwerken "Auswirkungen haben können, die Vorsorgemaßnahmen im Bereich des vorbeugenden Gesundheitsschutzes oder andere staatliche Maßnahmen erfordern". Muß man darunter verstehen, daß hoch verstrahlte Menschen aus dem Gebiet, das am schwersten von dem Unfall betroffen ist, nicht herausgelassen werden, um Menschen in anderen Gebieten nicht durch die von ihnen ausgehende Strahlung zu gefährden? Das wäre wohl nur mit der staatlichen Maßnahme Militäreinsatz durchzusetzen.

Daß die Folgen der Strahlenbelastungen, die durch die geplanten Katastrophenschutzmaßnahmen abgemildert werden sollen, sich als Verletzung des Grundrechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit darstellen, steht außer Frage.

Aber auch die auf Grund der Rahmenempfehlungen vorbereiteten Katastrophenschutzmaßnahmen stellen sich heraus als tief in die Lebensverhältnisse aller Betroffenen einschneidend. Dies sind die Maßnahmen, die nach dem neuen § 7 Absatz 2a Atomgesetz bei neu zu planenden Atomkraftwerken ausgeschlossen sein sollen. Wäre diese Anforderung gegenüber den zur Zeit betriebenen Atomkraftwerken durchgesetzt, müßten sie schon unter den Bedingungen, die in den Rahmenempfehlungen vorausgesetzt werden, längst alle stillgelegt sein.

Zur Begrenztheit der Sichtweise der Rahmenempfehlungen für den Katastrophenschutz: Ausgabe von Jodtabletten und erwarteter Unfallablauf

In den Rahmenrichtlinien gibt es keine direkten Aussagen zu den Unfallabläufen, deren Folgen durch die Katastrophenschutzmaßnahmen abgemildert werden sollen. Einen Hinweis darauf findet man an etwas versteckter Stelle: In den Jodmerkblättern der Anlage 4 zu den Rahmenempfehlungen wird die Frage danach, wann die Jodblockade angezeigt ist, folgendermaßen beantwortet:

"Eine Radiojod-Freisetzung des Ausmaßes, daß die Jodblockade für die Bevölkerung in der näheren Umgebung als zweckmäßig angesehen werden muß, kommt nicht aus heiterem Himmel. Sie ist eine der späteren Phasen in einer unglücklichen Verkettung von Umständen, die zu ihrer Entwicklung mindestens 1 - 2 Stunden, wenn nicht sogar Tage benötigt. Es besteht daher eine Vorwarnzeit, in der die Behörde auf Grund ihrer Informationen und der Beurteilung der Lage die erforderlichen Anweisungen geben kann." (Heraushebungen durch BIU).

Man geht also davon aus, daß eine die Bevölkerung ernsthaft gefährdende Jodfreisetzung nicht kurzfristig zu erwarten ist, sondern "eine der späteren Phasen" eines Kernschmelzunfalls sei. Sie werde sich nur "in der näheren Umgebung" auswirken. Für ihre Entwicklung würden "mindestens 1 - 2 Stunden, wenn nicht sogar Tage" benötigt. Daraus folge für die Behörde, die ja den Unfallablauf ständig beobachtet und daher über "Informationen" verfügt, die sie zur "Beurteilung der Lage" befähigen, daß "eine Vorwarnzeit" besteht, so daß sie "die erforderlichen Anweisungen geben kann".

Vergleicht man dies mit den in der DRS-B beschriebenen Unfallabläufen, dann kann es sich bei dem zugrundegelegten Unfall nicht um Versagen des Sicherheitsbehälters schon wenige Stunden nach Unfallbeginn handeln. Hilfreich ist ein Blick zurück auf die Tabelle 4 und dann auf Tabelle 3. Zu Katastrophenschutzzwecken ist die nähere Umgebung eines Atomkraftwerks durch den 10 km-Kreis umgrenzt. Die Flächen, auf denen dort lebende Menschen nach einem Unfall radioaktive Stoffe aufnehmen können, sind höchstens dann etwa 10 km2 groß, wenn weniger als 1% Jod und Aerosole freigesetzt werden.

Eine so geringe Menge dieser Stoffe gerät aber nach den Daten aus der DRS-B nur bei den Unfallabläufen Kernschmelzen bei niedrigem Druck im Primärkreis mit Versagen des Sicherheitsbehälters nach mehreren Tagen oder bei der sogenannten "gefilterten Druckentlastung" in die Umgebung. Kein Wunder also, daß unter diesen Bedingungen die Katastrophenschutzbehörde die Entwicklung der Phase, in der es zur Freisetzung von nennenswerten Mengen von radioaktivem Jod kommt, rechtzeitig beobachten kann.

Bei allen anderen Unfallabläufen dürfte sie über die Tatsache, daß es zur Freisetzung von Jod kommt, zwar nicht überrascht sein. Aber eine Vorwarnzeit für die rechtzeitige Einnahme von nichtradioaktivem Jod hätte sie kaum.

Die Schlußfolgerung daraus ist: In den Rahmenempfehlungen für den Katastrophenschutz in der Umgebung kerntechnischer Anlagen ist der neueste Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Kernschmelzunfallabläufe mit früher Zerstörung des Sicherheitsbehälters und Freisetzung sehr großer Anteile des radioaktiven Kerninventars nicht berücksichtigt.

Man könnte geneigt sein, das darauf zurückzuführen, daß im Herbst und Winter 1988/1989, als die Rahmenempfehlungen in den zuständigen Gremien erarbeitet und beschlossen wurden, die DRS-B noch nicht veröffentlicht und ihre Ergebnisse noch nicht bekannt waren. Aber die Zwischenergebnisse standen doch zur Verfügung, und in den Kreisen der Reaktorsicherheitsfachleute muß sie jeder gekannt und ihre Bedeutung annähernd ermessen haben.

Eher ist anzunehmen, daß schon in diesem Prozeß der Neufassung der Rahmenempfehlungen die Auffassung der RSK von der Wirksamkeit der sogenannten "anlageninternen Notfallmaßnahmen" durchgesetzt werden konnte. Das wäre eine Entsprechung zu dem Vorgang, den man in der DRS-B selbst noch ablesen kann, daß diese Maßnahmen ins Gespräch gebracht wurden, als man die Bedeutung des Kernschmelzens unter Hochdruckbedingungen im Primärkreislauf nicht mehr übergehen konnte.

Die RSK als wichtiges Beratergremium der Bundesregierung hat sich in einem Positionspapier vom 9. Dezember 1992 dazu geäußert: "Die RSK hat sich überzeugt, daß die Eintrittshäufigkeit von auslegungsüberschreitenden Ereignisabläufen mit Freisetzungen von mehr als 1 % bei Jod, Cäsium und Tellur durch die Einführung der anlageninternen Notfallschutzmaßnahmen so weit reduziert wurde, daß diese auslegungsüberschreitenden Ereignisse nach menschlichem Ermessen ausgeschlossen werden können und deshalb keine erweiterten Planungen des Katastrophenschutzes in Betracht gezogen werden müssen. Somit können die durch die Rahmenempfehlungen vom 1. Januar 1989 vorgegebenen Anforderungen für den Katastrophenschutz bei auslegungsüberschreitenden Ereignissen bis hin zum Kernschmelzen erfüllt werden." (Hervorhebungen durch BIU).

Offensichtlich beschränkt sich diese Auffassung auf die Reaktorsicherheitskommission selbst. Man erinnert sich unwillkürlich an die Auffassung von Breuer von 1978, noch vor der Veröffentlichung der Ergebnisse der DRS-A, bei Berücksichtigung "des Erkenntnisstandes der führenden Naturwissenschaftler und Techniker" sei der Schadenseintritt "zwar nicht absolut, d.h. natur- oder denkgesetzlich, wohl aber praktisch ausgeschlossen".

Andere Reaktorsicherheitsfachleute haben sich nicht davon überzeugen lassen, daß Schadensereignisse, die auf Grund von wissenschaftlicher Analyse, Erfahrung und Experiment als möglich nachgewiesen sind, auf Grund des "menschlichen Ermessens" einer kleinen Beratergruppe "ausgeschlossen" werden können. Von verschiedenen Seiten her wurden Versuche unternommen, sich mit den Folgen der Unfallabläufe mit frühen und massiven Freisetzungen auseinanderzusetzen, um die Lücken aufzufüllen, die sich aus dem Abbruch der Arbeiten an der DRS-B ergeben haben.

Der heutige Stand der Kenntnisse über die Unfallfolgen bei Kernschmelzunfällen und die Wirksamkeit von Katastrophenschutzmaßnahmen

Im Öko-Institut konzentrierte man sich frühzeitig auf die Frage, ob die Katastrophenschutz- Maßnahmen, die heute nach den Rahmenempfehlungen geplant werden, bei Berücksichtigung des heutigen Standes von Wissenschaft und Technik ihrem Zweck erfüllen können.

Zunächst war nach der Bewertung der DRS-B ein weiterer Auftrag des schleswig-holsteinischen Sozialministeriums zu bearbeiten. Für den Standort des Siedewasserreaktors Krümmel sollten die Flächen berechnet werden, die evakuiert werden müßten, setzt man die Dosisrichtwerte der Rahmenempfehlungen voraus. Die Freisetzungsmengen, die bei einem schweren Unfall mit früher Freisetzung von radioaktiven Stoffen in einem Siedewasserreaktor mit 1.300 MW Leistung erwartet werden müssen, entsprechen etwa denen, die in der DRS-B für Hochdruckkernschmelzen angegeben sind. Das Untersuchungsgebiet umfaßte nicht nur die 10 km-Mittelzone, in der nach den Rahmenempfehlungen Evakuierung geplant ist, und die 25 km-Außenzone, sondern einen Umkreis von 50 km Durchmesser.

Das Ergebnis der Modellrechnungen zeigte, daß die radioaktive Wolke innerhalb von maximal 5 Stunden seit Unfallbeginn in Windrichtung nicht nur den 50 km-Umkreis überzieht, sondern daß die Belastung auch außerhalb des 50 km-Kreises zunächst nicht abnimmt. Da ein Großteil der Gesamtstrahlenbelastung durch das Einatmen radioaktiver Teilchen und die Direktstrahlung aus der vorbeiziehenden Wolke entsteht, die anschließend nicht mehr reduziert werden kann, wäre eine vorhergehende Evakuierung oder zumindest Warnung der Bevölkerung in dem ganzen betroffenen Gebiet dringend notwendig. Bei Unfallabläufen mit massiver, frühzeitiger Freisetzung blieben den Behörden dafür jedoch nur 2 bis 3 Stunden seit Unfallbeginn. Erschwerend kommt hinzu, daß der Zeitpunkt des Unfallbeginns anfangs unklar ist und so lange auch bei den Behörden Unklarheit über die verbleibende Zeit für die Vorbereitung der Maßnahmen herrscht.

Je nach den Freisetzungs- und Wetterbedingungen sind sogar Fälle vorstellbar, daß in der Zentral- und der Mittelzone um die Anlage keine Evakuierung notwendig ist und die Bevölkerung überhaupt erst in Gebiete evakuiert wird, die gefährdet sind. So ergaben die Berechnungen, daß in einem bestimmten Fall - je nach Berücksichtigung des Dosisrichtwerts - beim unteren Wert im Bereich bis zu 17 km und beim oberen Wert bis zu 32 km Abstand von der Anlage keine Evakuierung notwendig ist. Gleichzeitig müßten jedoch in größeren Entfernungen aufgrund der Überschreitung der Dosisrichtwerte Evakuierungsmaßnahmen eingeleitet werden.

Abbildung 25. Ausbreitung der radioaktiven Stoffe nach einem schweren Kernschmelzunfall am Beispiel Biblis

Als Vorbereitung für den Fernsehfilm "Todeszone" des Hessischen Rundfunks, in dem die Auswirkungen eines Kernschmelzunfalls unter Hochdruckbedingungen im Atomkraftwerk Biblis dargestellt sind, wurden im Öko-Institut 1991 die Folgen der Aus-breitung der radioaktiven Stoffe berechnet. Unter Berücksichtigung des örtlichen Reliefs und einer typischen Novemberwetterlage kamen die Wissenschaftler zu dem Ergebnis, das in Abbildung 25 dargestellt ist: Der zuerst austretende, sehr energie-reiche und daher heiße Teil der radioaktiven Wolke steigt mehrere hundert Meter nach oben, wird von den in den höheren Luftschichten vorherrschenden Westwinden ergriffen und über den Odenwald hinweg, der sich ungefähr 300 bis 400 m hoch über die Rheinebene erhebt, in südöstliche Richtung transportiert. Der später oder gleichzeitig austretende, kühler gebliebene Teil der Wolke wird von den bodennahen Süd-Nord-Winden erfaßt und im Oberrheingraben in Richtung Frankfurt transportiert. Wird der niedrigere Dosisrichtwert angenommen, dann müßten Gebiete bis über 200 und 300 Kilometer Entfernung evakuiert werden, beim höheren noch immer die Städte Darmstadt, Rüsselsheim, Frankfurt am Main, Offenbach und Rothenburg ob der Tauber. Umsiedlung wäre je nach Dosisrichtwert notwendig bis in 200 km oder bis nach Thüringen hinein und sogar weit über das Gebiet der Bundesrepublik hinaus bis fast vor Wien.

Abbildung 26. Evakuierungsflächen in Abhängigkeit von der Freisetzung von radioaktiven Stoffen bei verschiedenen Unfallabläufen

Für dasselbe Projekt wurden im Institut für Verkehrswissenschaften an der Universität Münster Berechnungen angestellt, mit denen auch ein Blick auf das Ausmaß der wirtschaftlichen Schäden infolge des Unfalls möglich gemacht werden sollte. Für die Produktionsausfälle wären Schadensersatzforderungen von etwa 3,6 Billionen DM zu erwarten. Der Sachschaden in Form des Verlustes von Wohnraum, Firmen- und Arbeitseinkommen betrüge mindestens 420 Milliarden DM. Zusammen wäre das ein Schaden von mindestens vier Billionen DM. Der Betreiber muß ein einzelnes Atomkraftwerk nur bis zu einer Schadenshöhe von 500 Millionen DM versichern. Das ist etwas mehr als ein Tausendstel nur des Sachschadens. Den Großteil des wirtschaftlichen Schadens hätte also die gesamte Gesellschaft zu tragen. Diese Zahlen geben eine grobe Vorstellung davon, daß selbst eine so leistungsfähige Gesellschaft wie die deutsche eine solche Katastrophe auch wirtschaftlich kaum bewältigen könnte.

Auch eine Gruppe von Wissenschaftlern aus dem Kernforschungszentrum Karlsruhe meldete sich zu Wort. In der Ausgabe der KfK-Nachrichten vom Januar 1993 veröffentlichten sie zwei Grafiken, die man verstehen kann als Versuch, die Unterschiede in den Größenverhältnissen der Evakuierungs- und Umsiedlungsflächen anschaulich zu machen, die als Folge der in der DRS-B beschriebenen Unfallabläufe erforderlich werden. Wir haben diese Grafiken in Abbildung 26 und 27 wiedergegeben.

In Abhängigkeit von den in der DRS-B angegebenen Freisetzungsanteilen von Cäsium, Jod, Tellur und den Edelgasen, die man vorn in der Tabelle 3 findet, sind in Abbildung 26 Größen von Evakuierungsflächen gezeigt. In Abbildung 27 sind entsprechende Angaben zu den Umsiedlungsflächen gemacht.

Man muß diese Grafiken allerdings sehr aufmerksam lesen. Man darf sich nicht durch die Angaben zu den Eintrittshäufigkeiten täuschen lassen, die unten in den Diagrammen den einzelnen Unfallabläufen beigefügt sind. Diese Angaben gehen nicht in die Diagramme selbst ein.

Die wesentliche Aussage ergibt sich aus den in den Diagrammen dargestellten Flächen. Die Dramatik, die sie ausdrücken, erkennt man erst dann, wenn man die Zahlenwerte für die Ausdehnung dieser Flächen links an der Ordinate abliest.

Sie steigen von unten nach oben: Dem Niederdruckpfad und der Gefilterten Druckentlastung sind Flächengrößen von 10 bis 100 km2 für die Evakuierung und von weniger als 1 km bis fast 100 km2 für die Umsiedlung zugeordnet.

Dem Unfallablauf Heizrohrleck im Dampferzeuger sind in Tabelle 3 Daten zugeordnet, die dem Bruch mehrerer Heizrohre entsprechen; es ist also kein Hochdruckkernschmelzen zu erwarten. Dennoch ist diesem Unfallablauf eine Flächenausdehnung von mehreren 10 bis mehreren 1000 km2 für die Evakuierung und zwischen 100 und mehreren 10 000 km2 für die Umsiedlung zugeordnet.

Die größten Flächenausdehnungen werden beim Hochdruckkernschmelzen, bei Wasserstoff- und Dampfexplosion und bemerkenswerterweise beim Bypass-Unfall erreicht. Evakuierung ist auf Flächen zwischen 1000 und fast 10 000 km2 erforderlich, Umsiedlung sogar zwischen 10 000 und weit über 100.000 km2 hinaus. Um das etwas anschaulicher zu machen: Die Fläche des Landes Niedersachsen beträgt 47.431 km2.

Bei den Unfallabläufen Niederdruckkernschmelzen mit späten Versagen des Sicherheitsbehälters und Gefilterte Druckentlastung muß nicht nur mit Evakuierung weit über einen Sektor der 10 km-Mittelzone nach Rahmenempfehlungen hinaus gerechnet werden; schon unter diesen Umständen können auch die erforderlichen Umsiedlungsflächen dieselbe Größenordnung erreichen. Man muß daraus den Schluß ziehen, daß die geplanten Katastrophenschutzmaßnahmen nicht einmal ausreichen können, wenn der Unfall eintritt, der den Planungen zugrundeliegt. Wie die Autoren selbst sagen, können "die Umsiedlungsflächen ... bei den erheblichen Aktivitätsfreisetzungen - wie sie für die schweren Unfälle typisch sind - sehr große Werte annehmen. Insgesamt folgt daraus: Große Evakuierungs- bzw. Umsiedlungsflächen werden durch das Versagen des Sicherheitsbehälters und die dadurch möglichen großen Freisetzungen an radioaktivem Material verursacht."

Abbildung 27. Umsiedlungsflächen in Abhängigkeit von der Freisetzung von radioaktiven Stoffen bei verschiedenen Unfallabläufen

Zwar relativieren sie diese Aussage sofort, indem sie die geringen Eintrittshäufigkeiten nach DRS-B ins Spiel bringen, die auch in beiden Diagrammen bei den einzelnen Unfallabläufen angegeben sind. Was davon zu halten ist, deuten sie, zwar etwas versteckt, aber doch an: "Trotzdem ist zu fragen, ob dieser hohe Sicherheitsstandard weiter verbesserbar ist - vor allem wenn man die Nachweisbarkeit der extrem niedrigen Eintrittshäufigkeiten teilweise in Frage stellt." Man gewinnt den Eindruck, daß sie sich mit der Geste der Anerkennung der RSK-Version gegen Angriffe von dieser Seite decken wollen, selbst aber die Nachweisbarkeit der extrem niedrigen Eintrittshäufigkeiten ernsthaft bezweifeln.

Mit den KfK-Diagrammen wurden die früheren Aussagen des Öko-Instituts bestätigt, nach denen auf Grund der Erkenntnisse aus der DRS-B Katastrophenschutzmaßnahmen für ungleich größere Gebiete notwendig wären, als sie nach den Rahmenempfehlungen geplant werden.

Die Umweltbehörde des Stadtstaats Hamburg stellte sich die Frage andersherum. Hat Katastrophenschutz im Falle eines Kernschmelzunfalls in einem Atomkraftwerk überhaupt Sinn? Zur Klärung dieser Frage diente ein Gutachten des Öko-Instituts. Um die interessierte Öffentlichkeit über die wesentlichen Inhalte und über erste Bewertungen der Ergebnisse zu informieren, legte die Umweltbehörde im Februar 1995 eine Zusammenfassung des Gutachtens vor.

Vier Atomkraftwerke liegen im Umland der Stadt Hamburg und liefern 80 % des dort verbrauchten Stroms. Aus bereits früher vorgelegten Untersuchungen war bekannt, daß beim Eintreten von extremen Ereignisabläufen in einer dieser Anlagen auch für Hamburg so schwerwiegende Folgen denkbar sind, daß wirksame Katastrophenschutzmaßnahmen nur eingeschränkt möglich sind. Solange diese Atomkraftwerke noch betrieben werden, ist es nach Auffassung der Umweltbehörde notwendig, sich intensiv mit allen von ihnen ausgehenden Gefahren zu beschäftigen und sich auf alle Möglichkeiten des Schutzes der Bevölkerung vorzubereiten.

Früher vorgelegte Unfallfolgen-Gutachten mit Bezug zu Hamburg gaben kein umfassendes Bild über die Folgen eines schweren Kernreaktorunfalls in einem nahegelegenen Atomkraftwerk für die Stadt Hamburg. Es fehlten dort direkte Beziehungen zur Bevölkerungsstatistik und zu den möglicherweise betroffenen Stadtflächen. Außerdem ergibt die Neubewertung des Strahlenrisikos durch internationale Gremien seit 1986 ein 4 - 8 mal höheres Risiko für Strahlenspätschäden als bei Abfassung der grundlegenden Rahmenempfehlungen des Bundes angenommen wurde. Neue Dosisfaktoren für inkorporierte Radionuklide wurden in den Jahren 1985 bis 1989 erarbeitet.

Unter Berücksichtigung dieses neuen Tatsachenmaterials ist in dem Gutachten untersucht worden, welche Auswirkungen ein schwerer Atomkraftwerksunfall auf die Stadt Hamburg haben könnte. Als Beispiel wurde das nächstgelegene Atomkraftwerk Krümmel gewählt, ein Siedewasserreaktor der Baulinie ’69, der an der Elbe südöstlich der Stadt liegt.

Mit Rücksicht darauf wurde für die metereologischen Bedingungen der Unfallfolgen angenommen, daß die radioaktiven Stoffe mit dem Wind in Richtung des Zentrums der Stadt Hamburg treiben. Bei der Berechnung wurden die für diesen Fall häufigsten Wetterbedingungen zugrundegelegt. Niederschläge kamen bei diesen Windrichtung nicht in Betracht.

Das hamburgische Stadtgebiet wurde im Gutachten in Sektoren von 10° unterteilt, die in Ausbreitungsrichtung vom Atomkraftwerk aus im 5 km-Abstand in Sektorabschnitte gegliedert wurden. Für diese Sektorabschnitte wurde die Wohnbevölkerung ermittelt. Die Berechnungen von Unfallfolgen wurden für dieses Flächenraster vorgenommen.

Aus diesen Bedingungen ergibt sich, daß alle Angaben über die zu erwartenden Unfallfolgen nur auf die Stadt Hamburg selbst bezogen sind. Die Bevölkerung der Gebiete zwischen Krümmel und dem hamburgischen Stadtgebiet, die zu Schleswig-Holstein gehören, ist in diesem Gutachten nicht berücksichtigt.

Um die Bandbreite möglicher Unfallfolgen abzustecken, wurden zwei unterschiedliche Unfallabläufe im Hinblick auf ihren Zeitverlauf und auf die Freisetzung radioaktiver Stoffe in die Umgebung untersucht. Einer dieser Unfallabläufe führt zu frühzeitigen und massiven Freisetzungen radioaktiver Stoffe. Beim zweiten untersuchten Unfallablauf wird der Sicherheitsbehälter vor dem Überdruckversagen und vor dem Eintritt einer Kernschmelze über ein gefiltertes System durch Venting druckentlastet.

Dann steht mehr Zeit zur Verfügung, durch Wiederherstellung der Kühlbarkeit des Reaktors eine Kernschmelze zu verhindern, und es kommt es nur zu relativ geringen Freisetzungen radioaktiver Stoffe in die Umgebung.

Diese Unfallabläufe entsprechen etwa denen, die wir vorn im Kapitel über Kernschmelzmöglichkeiten in Siedewasserreaktoren beschrieben haben.

Beim Unfallablauf mit hoher Freisetzung wären nach den Rahmenempfehlungen für den Katastrophenschutz - je nach Anwendung der unteren oder oberen Dosisrichtwerte für die Einleitung von Maßnahmen - während des Durchzugs der radioaktiven Wolke etwa 1.183.000 bis 1.316.000 Einwohner Hamburgs zum Verbleib in Häusern aufzufordern. Etwa 1.183.000 Personen wären anschließend zu evakuieren, da für diese auch der obere Richtwert für eine Evakuierung überschritten wird.

Die Zahl der zu erwartenden frühen Todesfälle unter der Bevölkerung Hamburgs ist mit etwa 4 auch beim Unfallablauf mit hoher Freisetzung relativ gering, da für die Berechnung Wetterverhältnisse ohne Regen zugrundegelegt waren. Durch die Strahlenbelastungen während und unmittelbar nach dem Durchzug der radioaktiven Wolke müßten aber 44.600 bis 106.700 Menschen in den folgenden Jahrzehnten mit einer tödlichen Krebserkrankung rechnen.

Beim Unfallablauf mit Venting und ohne Kernschmelzen sollten in der Stadt Hamburg nur in einem engen Bereich etwa 300 Personen Schutz in ihren Häusern suchen. Aber es verdient Aufmerksamkeit, daß selbst bei diesem Unfallablauf, den man als relativ glimpflich verlaufen ansehen muß, noch 36 bis 83 Menschen in Hamburg mit einer tödlich verlaufenden Krebserkrankung rechnen müßten.

Ähnlich umfangreiche Evakuierungsmaßnahmen wie beim Unfallablauf mit Kernschmelzen wären nur dann erforderlich, falls nicht rechtzeitig bekannt ist, ob ein Kernschmelzen zuverlässig verhindert werden kann.

Die ermittelten Schadenszahlen basieren, entsprechend den Rahmenempfehlungen, allein auf der Kurzzeitbelastung während der ersten 7 Tage nach der Freisetzung. Ein weiterer Aufenthalt in den betroffenen Gebieten oder ein Verzehr kontaminierter Nahrungsmittel würde die Zahl potentieller Spätschäden erhöhen.

Eine Betrachtung verschiedener zeitlicher Szenarien zum Ablauf von Evakuierungen und zur rechtzeitigen Einnahme von Jodtabletten zeigte, daß sich die Zahl der Spätfolgen bis auf die Hälfte verringern läßt, wenn die betroffenen Menschen die empfohlenen Schutzmaßnahmen befolgen.

Auch die Maßnahme Umsiedlung wurde betrachtet. Das Hamburger Stadtgebiet ist ungefähr 750 km2 groß.

Beim Unfallablauf mit eingetretenem Kernschmelzen kommt es aufgrund der Kontamination von Stadtflächen zu hoher Ortsdosisleistung, und durch die Staubentwicklung, z.B. durch den Straßenverkehr, werden hohe Inhalationsdosen verursacht. Deshalb kann eine Fläche von etwa 460 km2 nach einem Jahr und von 410 km2 nach 50 Jahren nicht genutzt werden. Diese Fläche könnte nur durch aufwendige Dekontaminationsmaßnahmen auf etwa 180 km2 reduziert werden. Nach einem Jahr könnte eine Fläche von etwa 480 km2 und nach 50 Jahren von immer noch etwa 350 km2 nicht für eine Nahrungsmittelproduktion verwendet werden. Zu beachten ist auch hier: Es handelt sich nur um Flächen innerhalb des hamburgischen Stadtgebiets, nicht in den benachbarten und Krümmel näherliegenden schleswig-holsteinischen Orten.

Beim Unfallablauf mit Venting und Vermeidung einer Kernschmelze kommt es zu keinen Nutzungseinschränkungen auf dem Gebiet der Stadt Hamburg.

Damit sind die Aussagen älterer Studien bestätigt worden, nach denen beim Eintritt von Unfallabläufen, die zur Zerstörung des Reaktorkerns und des Sicherheitsbehälters führen, auch in weiten Gebieten der Stadt Hamburg mit schwerwiegenden Folgen zu rechnen ist. Ein völliger Schutz vor den Auswirkungen der radioaktiven Freisetzungen ist dann nicht zu erreichen.

Die Berechnungen des Gutachtens zeigten aber auch, daß die gesundheitlichen Folgen für die betroffene Bevölkerung durch die konsequente Anwendung von Schutzmaßnahmen um 50 % und mehr reduziert werden können. Die wesentliche Rolle kommt hierbei dem Aufenthalt in geschlossenen Räumen während der Ausbreitungsphase, der rechtzeitigen Einnahme von Jodtabletten zur Verringerung der Schilddrüsenbelastung sowie einer koordinierten späteren Evakuierung zu. Voraussetzung für einen solchen Erfolg ist eine gründliche Aufklärung der Bevölkerung und eine schnelle Information im Ernstfall.

Das Gutachten zeigt weiterhin, daß ein Unfallablauf, bei dem durch anlageninterne Maßnahmen ein Kernschmelzen verhindert werden kann, nicht zu dauerhaft schwerwiegenden Folgen für Hamburg führt. Eine unkontrollierte Flucht würde in diesem Fall ein größeres Risiko bedeuten als der Unfall selbst.

Gezeigt wird auch: Solange Atomkraftwerke noch betrieben werden, macht Katastrophenschutz Sinn. Denn die Anzahl der Opfer eines Unfalls mit Kernschmelze und schneller und massiver Freisetzung von radioaktiven Stoffen ließe sich durch geeignete Schutzmaßnahmen halbieren..

Der damalige Umweltsenator Fritz Vahrenholt kommentierte das Gutachten als Politiker: "Die Vorstellung, daß auch dann noch 20 000 bis 50 000 Menschen sterben müßten, ist aber schrecklich genug". "Gäbe es dieses - wenn auch durch unzählige Sicherheitseinrichtungen minimierte - theoretische Risiko nicht, gäbe es auch keinen Grund aus der Kernenergie auszusteigen", so Vahrenholt.

Allerdings äußerte er sich dazu sehr pessimistisch: "Diesen Weg zu verlassen in Richtung eines nachhaltig besseren und sicheren Energiegewinnungskonzeptes erfordert voraussichtlich eine ähnliche Zeitspanne wie der Aufbau dieser Technologie benötigt hat."

Die Umweltbehörde der Stadt Hamburg will seither zusammen mit den anderen Behörden, die Aufgaben im Rahmen des Katastrophenschutzes wahrnehmen, mit den Fachberatern und mit den Betreibern, auf eine Umsetzung der Ergebnisse in die Katastrophenschutzvorsorge hinarbeiten, um den Katastrophenschutz so zu optimieren, daß alle Möglichkeiten zum Schutz der Bevölkerung ausgeschöpft werden.

Die Stellungnahme der Umweltbehörde schließt: "Klar ist dabei jedoch, daß Katastrophenschutzplanung und -maßnahmen als Hilfsmittel zum Umgang mit Risiken nicht den Abbau der Risiken selbst ersetzen können."

Das heißt: Man kann nicht mit dem Vorhandensein der Katastrophenschutzplanung die Berechtigung zum Weiterbetrieb der Atomkraftwerke begründen. Die genaue Kenntnis der Beschränktheit ihrer Möglichkeiten erfordert vielmehr die Stillegung der Atomkraftwerke, damit die Gefahren, die von ihnen ausgehen, ausgeschlossen werden können.

Mit diesem Gutachten für die Stadt Hamburg liegen konkrete Zahlen für die Schadensfolgen für mögliche Unfallabläufe in einem Atomkraftwerk vor, die dem heutigen Stand von Wissenschaft und Technik entsprechen.

Wäre als Beispiel für die Berechnung eins der an der Unterelbe gelegenen Atomkraftwerke Stade, Brokdorf oder Brunsbüttel gewählt worden, dann wären wegen der dann zu berücksichtigenden häufigen Regenfälle noch weit höhere Schadenszahlen das Ergebnis gewesen.

Katastrophenschutz und Berücksichtigung des Standes von Wissenschaft und Technik: Ein Briefwechsel

Durch Briefe der BIU konfrontiert mit den Ergebnissen der DRS-B und den Aussagen von Öko-Institut und KfK fühlten sich die Verantwortlichen für den Katastrophenschutz der Stadt Hannover - etwa 45 km vom Atomkraftwerk Grohnde entfernt - veranlaßt, bei der Bezirksregierung Hannover anzufragen, ob die Schutzzonen nicht ausgeweitet werden müßten. Die Antwort folgte in Form eines Erlasses des niedersächsischen Innenministeriums vom 11.09.1996:

"In der Regel ist angesichts des hohen technischen Sicherheitsstandards deutscher Kernkraftwerke davon auszugehen, daß selbst bei einem äußerst unwahrscheinlichen Unfalleintritt die Auswirkungen den Bereich der 10-km-Zone nicht überschreitet.

Sollte - wieder Erwarten - dennoch auch außerhalb dieser festgelegten Planungszonen eine Hohe Strahlenbelastung festgestellt werden, so würden - wegen der durch die räumliche Entfernung bedingten längeren verfügbaren Zeiten - Schutzmaßnahmen nach allgemeinen Grundsätzen ausreichen, die nicht auf den detaillierten Maßnahmenkatalog der Rahmenempfehlungen beruhen. Es gibt daher auch angesichts der beiden von Ihnen (den Vertretern der Stadt Hannover, BIU) zitierten Gutachten keinen Anlaß, von diesen bisherigen Planungsgrundsätzen abzuweichen."

Weil wir genauer wissen wollten, auf welche beiden Gutachten sich die Vertreter der Stadt bezogen hatten, baten wir selbst beim Innenministerium, uns dies mitzuteilen. Wir erhielten Antwort mit dem Datum des 11.12.1996: "bei den Gutachten, die in meinem Erlaß genannt worden sind, handelt es sich zum einen um das Gutachten des Öko-Instituts, das im Auftrag des schleswig-holsteinischen Ministers für Soziales, Gesundheit und Energie zur Bewertung des Ergebnisses der DRS-B-Studie erstellt wurde. Desweiteren waren die mehr allgemein gehaltenen Aussagen des Kernforschungszentrum Karlsruhe über die Ausbreitung radioaktiver Stoffe nach Kernschmelzunfällen gemeint, die Sie in Ihrem Schreiben an die Stadt Hannover angegeben haben."

Dieser Briefwechsel hat uns zweierlei bestätigt:

Einerseits sind sich nicht nur die Vertreter der hamburgischen Umweltbehörde, die konkret mit der Durchführung von Katastrophenschutzmaßnahmen beauftragt sind, sondern auch die einer Stadt wie Hannover ihrer Verantwortung für den Schutz der Bevölkerung wohl bewußt. Es beunruhigt sie, wenn sie Kenntnis vom neuesten Stand von Wissenschaft und Technik hinsichtlich der Unfallgefahren der Atomkraftwerke erhalten und feststellen müssen, daß ihnen nur ungenügende Handlungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen.

Andererseits werden zur Verteidigung der Rahmenrichtlinien Argumente vorgebracht, die den neueren Ergebnissen der Reaktorsicherheitsforschung nicht standhalten.

Atomkraftwerke in der Bundesrepublik: Unsicher und grundrechtswidrig

Wir halten an den Forderungen fest, die das Bundesverfassungsgericht 1978 in seiner Kalkar-Entscheidung aufgestellt hat. Sie sind eine Errungenschaft zum Schutz der Grundrechte, die aus den Auseinandersetzungen um die Gefahren der Atomtechnik hervorgegangen ist.

Der Schutz der Grundrechte muß jeweils bestmöglich verwirklicht werden. Es kann kein Rest- oder Mindestschaden irgendwelcher Art in Kauf genommen werden, der im Lichte des Grundrechts auf Schutz des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit oder anderer Grundrechte als Grundrechtsverletzung anzusehen wäre. Der Grundrechtsschutz muß schritthalten mit der Entwicklung der wissenschaftlichen Erkenntnisse; es muß diejenige Vorsorge gegen Schäden getroffen werden, die nach den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen für erforderlich gehalten wird. Gibt es keine Vorkehrungen zur Eindämmung der zu erwartenden Schäden, darf der Betrieb der Anlage nicht genehmigt werden; die erforderliche Vorsorge wird mithin nicht durch das technisch gegenwärtig Machbare begrenzt.

Das Bundesverfassungsgericht machte damals noch das Zugeständnis, daß die Wahrscheinlichkeit des Unfalleintritts um so geringer sein muß, je schwerwiegender die Schadensart und die Schadensfolgen, die auf dem Spiel stehen, sein können. Aber man kann auch nicht beliebig eine Grenze zwischen größerer und geringerer Eintrittswahrscheinlichkeit ziehen, und man muß die Schwere des Unfalls und seiner Folgen beachten.

Um zu einer begründeten Überzeugung über die Auswirkungen eines Unfalls auf die Grundrechte zu kommen, muß man sich auf allgemein anerkannte wissenschaftliche Erkenntnisverfahren stützen. Alles, was durch solche Erkenntnisverfahren ermittelt werden kann und sich dann als Grundrechtsverletzung darstellt, braucht nicht hingenommen zu werden. Wenn ein Unfall samt seinen Folgen wissenschaftlich begründet konkret beschreibbar ist, dann ist er auch zu berücksichtigen.

Bloße Vermutungen über das Gefährdungspotential von Technik genügen nicht. Das schließt auch die Berufung auf "menschliches Ermessen" aus.

Der heutige Stand der Erkenntnisse schließt den Weiterbetrieb der derzeit in der Bundesrepublik betriebenen Atomkraftwerke aus.

Die Tatsache, daß es in diesen Atomkraftwerken zum Kernschmelzen kommen kann, ergibt sich direkt aus ihrer Konstruktion. Sie steht in direktem Zusammenhang mit der Notwendigkeit, die Kühlung des Kerns wegen der Nachwärmeproduktion auch nach der Schnellabschaltung aufrechtzuerhalten. Sie ist also nicht allein eine Frage von Alterung und Verschleiß oder von unglücklichen Zufällen. Aus ihr ergibt sich: Diese Atomkraftwerke sind inhärent unsicher.

Die Arbeiten zur Deutschen Risikostudie Kernkraftwerke Phase B beruhen auf der Auswertung von Erfahrung und Experimenten.

Seit 1987 ist eins ihrer Ergebnisse anerkannt: Beim Kernschmelzen mit hohem Druck im Primärkreislauf wird wenige Stunden nach Unfallbeginn der Sicherheitsbehälter durch das raketenartige Herausfliegen des Reaktordruckbehälters oder durch plötzliche Aufheizung durch Direct Containment Heating zerstört. Die Folge ist die Freisetzung eines Großteils des radioaktiven Inventars aus dem Reaktorkern, selbst von schwerflüchtigen Stoffen. Weitere Unfälle, bei denen Frühzeitig der Sicherheitsbehälter zerstört wird, sind Wasserstoffexplosion und Dampfexplosion mit gleich schwerwiegenden Folgen wie Hochdruckkernschmelzen.

Die Eintrittswahrscheinlichkeit dieser Unfallereignisse mit schweren Schadensfolgen ist weit höher als 1979 bei der Veröffentlichung der Phase A angenommen. Sie überwiegt um ein Vielfaches die von Unfallabläufen mit spätem Versagen des Sicherheitsbehälters.

Die Möglichkeit, extrem niedrige Eintrittshäufigkeiten für die Unfallabläufe mit schwerwiegenden Folgen zu begründen, wird von Mitarbeitern des KfK bezweifelt. Den zu diesem Zweck unternommenen Versuche von der GRS und der RSK, mit den sogenannten "anlageninternen Notfallmaßnahmen" ein "äußerst unwahrscheinliches" Eintreten dieser Unfallabläufe zu belegen, mangelt es an wissenschaftlicher Begründbarkeit, die auch nicht durch "menschliches Ermessen" zu ersetzen ist.

Technische Vorkehrungen zur Eindämmung der zu erwartenden Schäden gibt es in den heute betriebenen Atomkraftwerken nicht.

Das Risiko für die Bevölkerung, durch die ionisierende Wirkung der radioaktiven Stoffe späte Erkrankungen mit Todesfolge zu erleiden, wird heute international weit höher eingeschätzt als zur Zeit der Veröffentlichung der DRS-A. Dies hatte die Heraufsetzung der Faktoren für die Dosiswirkungsbeziehungen zur Folge.

KfK und Öko-Institut sind sich auf Grund ihrer Arbeitsergebnisse einig, daß bei den großen Freisetzungen an radioaktivem Material, wie sie für die schweren Unfälle typisch sind, die beeinträchtigten Flächen sehr große Werte annehmen. Dies gilt nicht nur für Flächen, von denen die Bevölkerung für kürzere Zeit evakuiert werden muß, sondern erst recht für die Umsiedlungsflächen, auf denen für Jahrzehnte weder Wohnen noch wirtschaftliche Nutzung möglich ist.

Die heute offiziell geplanten Katastrophenschutzmaßnahmen Evakuierung und Abgabe von Jodtabletten schneiden tief in die Lebensumstände der betroffenen Menschen ein; durch sie werden Grundrechte wie z.B. das Recht auf körperliche Unversehrtheit beeinträchtigt. Gegen bereits aufgenommene Direktstrahlung und radioaktive Stoffe können sie nicht schützen. Mit der Katastrophenschutzmaßnahme Umsiedlung wird auf schwerwiegende Weise in weitere Existenzrechte eingegriffen.

Die geplanten Katastrophenschutzmaßnahmen wären bestenfalls bis zu einer Freisetzung von maximal 1% des Kerninventars wirksam. Auch darüber herrscht Einverständnis unter allen, die sich mit der Wirksamkeit dieser Maßnahmen auseinandergesetzt haben, bis hin zur RSK. Schon bei Kernschmelzunfällen mit spätem Überdruckversagen oder der Gefilterten Druckentlastung reichen die Folgen über das heutige Planungsgebiet im 10 km-Umkreis hinaus.

In größerer Entfernung vom verunglückten Atomkraftwerk sind Katastrophenschutzmaßnahmen wegen der nicht vorhersagbaren Witterungsbedingungen und ihrer Veränderungen kaum vorausschauend planbar. Zwar könnte bei sorgfältiger Vorbereitung und mit Unterstützung durch das Vertrauen und die Besonnenheit der betroffenen Bevölkerung eine gewisse Schutzwirkung durch früh erfolgende Maßnahmen erreicht werden. Trotzdem könnten die zu erwartenden Spätschäden im günstigsten Fall nur auf etwa die Hälfte reduziert werden. Die Katastrophe wäre nicht zu verhindern, sondern nur zu verringern. Der notwendige umfassende Schutz ist nicht möglich.

Gerade wer die Wirklichkeit jeder Katastrophenschutzplanung kennt, kommt zu dem Schluß, daß bestmöglicher Schutz nur durch die Stillegung der Atomkraftwerke selbst zu erreichen ist.

Die heute in der Bundesrepublik betriebenen Atomkraftwerke sind unsicher und grundrechtswidrig.

Angemessener Schutz der Grundrechte kann nur durch ihre sofortige Stillegung erreicht werden.


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